Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
September 2022

1. Werner Herzog
Jeder für sich und Gott gegen alle
Erinnerungen
München, Hanser Verlag 2022
352 S., 28 €
ISBN 978-3-446-27399-3
2. Kristina Jaspers/Rainer Rother (Hg.)
Werner Herzog
Köln, Könemann Verlag 2022
380 S., 12,95 €
ISBN

1. Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle :
2. Kristina Jaspers/Rainer Rother (Hg.): Werner Herzog

In diesem Monat wird der Regisseur und Autor Werner Herzog achtzig Jahre alt. Er hat seine Autobiografie geschrieben, die im Hanser Verlag erschienen ist. Die Deutsche Kinemathek widmet ihm eine Ausstellung im Museum für Film und Fernsehen, zu der ein sehr informativer Katalog publiziert wurde. So gibt es ausnahmsweise zwei Filmbücher des Monats.

Dass Werner Herzog ein hervorragender Autor ist, wissen wir seit 1978. Damals publizierte er das Buch „Vom Gehen im Eis“, in dem er seine Fußwanderung von München nach Paris schildert, um dort die erkrankte Filmhistorikerin Lotte Eisner zu besuchen und ihr Überleben zu sichern. Der Gang fand im November 1974 statt, der Text ist eine Meditation über Leben und Tod. Auch seine Bücher „Die Eroberung des Nutzlosen“ (2004) und „Das Dämmern der Welt“ (2021) haben große literarische Qualitäten. Nun also die Autobiografie. Ihr Titel erinnert an einen Film von Herzog: die Lebensgeschichte von Kaspar Hauser mit Bruno S. in der Hauptrolle aus dem Jahr 1974, gedreht vor dem Gang nach Paris.

Natürlich erzählt Herzog sein Leben nicht chronologisch, sondern assoziativ. Die Kindheit und Jugend in dem oberbayerischen Dorf Sachrang und in München haben eine starke Präsenz für ihn. Die große Nähe zu seiner Mutter, die Ferne des Vaters nach der Scheidung, die Beziehungen zum Bruder Tibert, zur Schwester Sigrid und zum Halbbruder Lucki, der immer mit ihm zusammengearbeitet hat, werden deutlich. Im Kapitel „Frauen, Kinder“ thematisiert er seine drei Ehen und seine Beziehung zur Schauspielerin Eva Mattes, mit der er eine Tochter hat, Hanna, die als Autorin tätig ist. Mit der Fotografin Lena Herzog lebt er seit mehr als 25 Jahren zusammen.

Eine Filmschule hat Werner Herzog nicht besucht, er war kurzfristig mit einem Stipendium an der Duquesne University in Pittsburgh, fühlte sich dort aber nicht wohl. So lernte er das Filmemachen autodidaktisch. HERAKLES hieß sein erster Kurzfilm, den er mit 19 Jahren drehte, LEBENSZEICHEN sein erster Spielfilm, der fünf Jahre später entstand. AGUIRRE, DER ZORN GOTTES (1982) war der erste Film mit Klaus Kinski, dem fünf weitere folgten. Der Dokumentarfilm MEIN LIEBSTER FEIND (1999) schildert die Zusammenarbeit mit Kinski.

Über siebzig Filme hat Werner Herzog inzwischen gedreht, mehr Dokumentarfilme als Spielfilme. Seine Erinnerungen sind konkret, sie werden nicht anekdotisch, sondern als Erfahrungen erzählt. Schwierigkeiten, die es zu überwinden galt, spielen dabei eine wichtige Rolle. Sehr oft gab es physische Herausforderungen, die zu bestehen waren. Schließlich siegte immer das Selbstbewusstsein.

Das Buch endet abrupt. Der letzte Satz heißt: „Dort, am Fuße der glatten Betonwand, gäbe es kristallklares Sickerwasser aus den Felsen zur Seite, aufgesucht von Rudeln von Hirschen, als wäre“. Dann folgen die Filmografie, eine Liste der Operninszenierungen und die Danksagung.

Man könnte viele Sätze zitieren, in denen Herzog Existentielles formuliert. Hier sind drei Beispiele: „Ich wäre lieber tot als zu einem Psychoanalytiker zu gehen, weil ich der Ansicht bin, dass da etwas grundlegend Falsches geschieht.“ (S. 123). „Ich halte das 20. Jahrhundert in seiner Gesamtheit für einen Fehler.“ (S. 124), „Vieles in meinem Leben erscheint mir wie auf einem Hochseil, ohne dass ich die meiste Zeit überhaupt bemerkte, dass links und rechts neben mir ein Abgrund gähnte.“ (S. 185).

Das Erstaunliche an Herzogs Erinnerungen ist jedoch ihre Anschaulichkeit, die Nähe zu all den Personen, mit denen er zusammengearbeitet hat oder mit denen er befreundet ist. Dazu tragen viele Details bei, an die er sich erinnert, ohne sich darin zu verlieren. David Steinitz nennt das Buch in seiner SZ-Rezension „Ein Ereignis“. Er hat recht.

Mehr zum Buch: jeder-fuer-sich-und-gott-gegen-alle/978-3-446-27399-3/

Der Katalog zur Ausstellung der Deutschen Kinemathek ist so etwas wie das Kontrastbuch zu den Erinnerungen. Während dort nur drei Grafiken zu sehen sind, erweist sich der Katalog als Schatzkammer von Abbildungen, die man großenteils nicht kennt: Werkfotos, Filmfotos, Fotos aus Filmen, die Herzog inspiriert haben, Faksimiles aus Tagebüchern, Briefen und anderen Aufzeichnungen. Auch die Texte erweitern die Autobiografie. Ein interessantes Gespräch haben Kristina Jaspers und Rainer Rother im Mai 2022 mit Werner und Lena Herzog in der Steiermark geführt. Synopsen erschließen das filmische Werk von 1968 bis 2019 (130 Seiten). Sechs Personen kommentieren Herzogs Filmarbeit: der Filmkritiker Rüdiger Suchsland, die Regisseurin Uli Decker, der Schauspieler Peter Brownbill, die Germanistin Valérie Carré, der Filmwissenschaftler Marcus Stiglegger, der Regisseur Diego Sarmiento.

Der Comiczeichner Reinhard Kleist hat ikonische Momente im Leben Herzogs festgehalten: Herzog und die Hypnose, Herzog und das Schiff, Herzog isst seinen Schuh, Herzog und Kinski, Herzog und der Grizzly, Herzog auf dem Vulkan, Herzog wird angeschossen. Ein Werner Herzog-ABC haben Kristina Jaspers, Magnus Knoll und Rainer Rother zusammengestellt. Eine tabellarische Biografie beendet den Katalog, der mit einem Grußwort von Chloé Zhao eröffnet wird. Die Texte sind viersprachig zu lesen: in Deutsch, Englisch, Französisch und Holländisch. Die Ausstellung wird im kommenden Jahr im Filmmuseum Eye in Amsterdam zu sehen sein.

Der Katalog ist, wie die Ausstellung und die Autobiografie, ein Ereignis.

Mehr zum Katalog: koenemann.com/Buch/Werner-Herzog