Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Dezember 2010

Laurence Kardish (Hg.):
Weimar Cinema, 1919–1933
Daydreams and Nightmares
Museum of Modern Art, New York 2010
224 Seiten, 34 Euro
ISBN 978-0-870707-61-2

Laurence Kardish (Hg.):
Weimar Cinema, 1919–1933.
Daydreams and Nightmares

Das Titelbild ist eine Hommage an die Daydreams, nicht an die Nightmares des Weimarer Kinos. Statt Caligari, Dr. Mabuse oder Nosferatu schauen uns die Miller Girls an, sechs Tänzerinnen aus dem Film EIN TOLLER EINFALL (1932) von Kurt Gerron. So unterläuft das Museum of Modern Art die ersten Erwartungen, es lenkt den Blick auf das eher Unbekannte, es macht neugierig auf größere Zusammenhänge.

Larry Kardish, der leidenschaftliche und unbeirrbare Filmkurator des MoMA, hat sich viel Zeit genommen für die Vorbereitung einer exemplarischen Retrospektive zum deutschen Film von 1919 bis 1933. Zusammen mit Eva Orbanz, der ehemaligen FIAF-Präsidentin und früheren Leiterin der Filmabteilung der Deutschen Kinemathek, hat er ein Programm mit 80 Filmen zusammengestellt, das in den nächsten Monaten in New York zu sehen sein wird. Die Kopien kommen aus verschiedenen deutschen Archiven, aber natürlich auch aus dem eigenen Bestand des MoMA.

In der Begleitpublikation beschreibt Kardish die engen Beziehungen, die es in den Zwanzigern und frühen Dreißigern zwischen dem Weimarer Kino und Hollywood gab, beginnend mit Lubitsch, Murnau, Jannings und Dieterle. 1931 wurde in New York ein Kino eröffnet, das nur deutsche Filme im Programm hatte (mit und ohne Untertitel). Ab 1933 wurde Amerika das Fluchtziel vieler Filmemigranten, Kardish erinnert vor allem an Billy Wilder und Eugen Schüfftan. Im MoMA engagierte sich Iris Barry, die erste Filmkuratorin, für das Kino der Vor-Nazi-Zeit. Hier fand auch der emigrierte Filmkritiker Siegfried Kracauer ein neues Zuhause, es entstand später mit MoMA-Hilfe das berühmte Buch From Caligari to Hitler (1947).

Auf dieses Werk, das sich als ideologiekritischer Schlüssel zum Film der Weimarer Republik verstand, kommen natürlich auch die anderen Autoren der Publikation zu sprechen: Thomas Elsaesser und Eric Rentschler. Elsaessers Essay „Inside the Mind, a Soul of Dynamite? Fantasy, Vision Machines, and Homeless Souls in Weimar Cinema“ geht ins Jahr 1913 zurück, um mit Hilfe von Paul Wegeners DER STUDENT VON PRAG die Wurzeln des filmischen Expressionismus frei zu legen. Rentschler („The Situation Is Hopeless but Not Desperate“) analysiert die frühe Tonfilmoperette und reflektiert über das Verhältnis von Realität und Illusion. Ein spezielles Thema behandelt Werner Sudendorf: „Neither Lulu nor Lola: Marlene Dietrich before The Blue Angel“. Hier werden die Rollen der Dietrich im Stummfilm beschrieben, die noch wenig mit der Emanzipation der Frau zu tun hatten. Eva Orbanz informiert über die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und Transit-Film.

Jeweils doppelseitig mit eindrucksvollen Fotos, Zitaten aus der zeitgenössischen Presse und sehr präzisen Daten (verantwortlich: Ulrich Döge) werden die 80 Filme der Retrospektive vorgestellt. Die Druckqualität ist erstaunlich, die Filme erhalten eine große Präsenz.

Mit einer Retrospektive im Museum of Modern Art ist bekanntlich so etwas wie eine Erhebung in den Adelsstand verbunden. Dorthin ist das Weimarer Kino zwar schon vor langer Zeit aufgenommen worden, aber es kann nicht schaden, wenn man im künstlerischen Olymp gelegentlich in seiner Existenz bestätigt wird. Danke, MoMA.