Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
1990
Filmbuch des Jahres

Heide Schlüpmann
Unheimlichkeit des Blicks
Das Drama des frühen deutschen Kinos
Stroemfeld/Roter Stern, Basel/Frankfurt am Main 1990
366 S.(48 DM)
ISBN 3-87877-373-0

Heide Schlüpmann:
Unheimlichkeit des Blicks

Eine Untersuchung über die »heimliche Komplizenschaft zwischen Kinematographie und Frauenemanzipation in der wilhelminischen Gesellschaft«. Aus feministischer Sicht werden die Anfänge des Erzählkinos analysiert: Komödie, Melodram, soziales Drama, Kriminalfilm, Sensationsdrama. Angefügt ist ein Diskurs zur Entwicklung der frühen Filmtheorien.

Dorothee Wenner hat in der tageszeitung eine kompetente und zugeneigte Rezension des Buches publiziert. Ich dokumentiere sie in ganzer Länge:

„Es gibt Filmbücher, die einen auf unangenehme Weise an die Unzahl verpasster Filme erinnern. Und andere im Buch erwähnte Titel, die einen sofort ins Kino locken würden, liefen Titel gerade in irgendeinem unerreichbaren Kino. Heide Schlüpmanns ‚Unheimlichkeit des Blicks – Das Drama des frühen deutschen Kinos’ gehört eindeutig zur zweiten Gruppe. Nie geht die Autorin davon aus, dass ihrer Leserschaft die frühen deutschen Stummfilme bekannt oder noch deutlich in Erinnerung sind. Synopsis und Analyse sind vielmehr kurzeilig miteinander vermischt und dazu noch hervorragende illustriert.

Heide Schlüpmann entdeckt in ihrem Buch eine heimliche Komplizenschaft von Kino und Weiblichkeit in der Frühzeit des deutschen Stummfilms: das Kino als Flüchtmöglichkeit für Frauen aus der Familie, als legitime, wenn auch nicht hoch angesehene und leicht zugängliche Ablenkung vom Alltag. Insbesondere die mittelständischen Männer hielten sich der Stätte der ‚niederen’ Massenkultur lieber fern und überließen es ihren Frauen, sich im Dunkel des Kinosaals klassenübergreifend gemeinsam mit den proletarischen Schwestern zu Tränen rühren zu lassen. ‚Während der bürgerliche Theatergänger sich ablehnend verhielt, verbrachte seine Ehefrau schon ihre Freizeit im Kino.’

Die Filmproduktion reagierte auf die Überzahl von Frauen im Publikum mit einer Auswahl von Geschichten, in denen es fast immer um Frauen geht. Bevor die Genres strikt zwischen Fiktion und Dokumentation unterscheiden mussten, lässt sich zudem in Filmen wie VERNUNFT DES HERZENS aus dem Jahr 1910 eine weibliche Erzählperspektive entdecken. Sie zeigt sich hier zum Beispiel im Verzicht auf die Wiederherstellung der patriarchalischen Ordnung – dem betrogenen Ehemann bleibt das Verhältnis seiner Gattin Dank deren Kooperation mit einer Freundin ein Geheimnis.

Die Autorin lenkt die Aufmerksamkeit oftmals an der Handlung vorbei auf Aspekte der zeitgenössischen Rezeption, die der heutige Betrachter der alten Stummfilme zumindest nicht selbstverständlich mitsieht. Wenn zum Beispiel in EDITH, DIE WEISSE SKLAVIN und anderen Mädchenhandelfilmen auch keine vordergründig emanzipatorischen Geschichten erzählt werden, so erlaubt dieses Genre doch einen Blick in einen für alle Nichtprostituierten verbotenen Raum. Dieses ‚peeping’ erklärt Schlüpmann als einen subversiven Akt und einen ‚Eingriff in das bürgerlich-männliche Selbstverständnis, der in gewisser Hinsicht die Prostitutionsdebatte vor dem Ersten Weltkrieg zugunsten von Feministinnen wie Helene Stöcker beeinflusste. ‚(…) Wie realistisch oder unrealistisch auch immer das Bordell dargestellt ist, sein eigentlicher Realismus liegt in der Korrespondenz zwischen dem Eintritt der Frau ins Kino und der moralfreien Darstellung des Ortes der Prostitution.’

Weil Narration und Inhalt nicht automatisch die Analyse dominieren, tritt je nach Film auch mal die genauere Betrachtung von Kamera- und Montagetechnik, von Kostümen und Choreographien in den Vordergrund. Zum Beispiel in einem fast zynischen Exkurs über Henny Porten und der Sexualfeindlichkeit, die von ihr ausgeht. ‚Das Kompakte des Porten-Körpers, der immer durch Rock und Leibchen gepanzerte, nie artikulierte Leib bekommt (in der Rolle der Geierwally) seinen Ausdruckssinn: Die Attraktivität des anderen Geschlechts nicht an sich herankommen lassen; die Liebesgefühle nicht heraustreten lassen, gibt Bewegungsfreiheit.’ Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Schlüpmann ihre persönlichen Abneigungen – wie gegenüber Henny Porten – oder ihre Begeisterung zum Beispiel für Asta Nielsen nicht ständig hinter akademischer Pseudo-Objektivität versteckt.

In den Schriften der Kinoreformbewegung sucht Schlüpmann nach Gründen für den schleichend sich ausbreitenden Konservativismus der deutschen Filmproduktion um 1920. Die gut lesbar in den Text integrierten Zitate aus zeitgenössischen Film- und Kinozeitschriften sprechen von einem ungeheuren Hass der nationalen bürgerlichen ‚Hochkultur’ auf die oppositionelle Ästhetik des Kinos, dem Ort, wo sich die Zuschauer im Dunkeln jeder nationalen Kontrolle entziehen konnten. Es waren vor allem Lehrer wie der Gymnasialprofessor Adolf Sellmann, die sich dem Kampf gegen die ‚Kinoseuche’ verschrieben hatten: ‚Bedeutet es nicht einen Verlust als Volkskraft, wenn mehrere Millionen unseres Volkes mehrere Stunden tagtäglich, unter Umständen in schwüler, rauchgeschwängerter Luft, in dumpfen und dunstigen Kinotheatern zubringen, anstatt dass sie in Wald und Feld ihre Lungen weiten und ihre Körperkraft erneuern?’ Überraschend bei dieser Rekonstruktion der nunmehr über 70 Jahre zurückliegenden Anti-Kino-Debatte sind die vielen Anknüpfungspunkte zur Gegenwart – sei es die Verschlafenheit der SPD-Medienpolitik oder das besonders in Deutschland noch gern betriebene Gegeneinanderausspielen von Film und Kunst.“

Dorothee Wenner in: die tageszeitung, 29. August 1991