Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Januar 2012

Klaus Kreimeier
Traum und Exzess
Die Kulturgeschichte des frühen Kinos
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2010
414 S., 24,90 €
ISBN 978-3-552-05552.0

Klaus Kreimeier:
Traum und Exzess.
Die Kulturgeschichte des frühen Kinos

Fast alles, was in diesem Buch beschrieben und analysiert wird, liegt mehr als hundert Jahre zurück. Die Frühzeit des Kinos periodisiert man auf die Zeit zwischen 1895 und 1914. Von den Filmen selbst ist nicht allzu viel übrig geblieben. Aber es herrscht kein Mangel an Dokumenten, Meinungen von Zeitzeugen und internationalen Forschungsergebnissen. Der Medienwissenschaftler Klaus Kreimeier (*1938) hat sich durch den Berg der Sekundärliteratur mit Erfolg hindurchgearbeitet.

Seine „Ufa-Story“ aus dem Jahre 1992 gehört noch immer zu den herausragenden deutschen Filmbüchern. In den letzten zehn Jahren hat sich Klaus Kreimeier vor allem mit dem frühen Kino beschäftigt, also mit der Erfindung des Films, seinen technischen, ökonomischen und ästhetischen Entwicklungen bis zum Ausbruch des Ersten Welt-kriegs. Dafür stand ihm lange Zeit ein Sonderforschungsbereich an der Universität Siegen zur Verfügung. Sein Buch „Traum und Exzess“ summiert die umfangreichen Recherchen und Erkenntnisse zu einer eigenständigen Kulturgeschichte, die den Film in den Kontext gesellschaftlicher Prozesse stellt. Das umfängliche Werk ist fachlich abgesichert und auch für neugierige Laien verständlich.

Zwischen einem Prolog und einem Epilog strukturiert er die Überfülle seines Stoffes in acht Kapitel. An einer chronologischen Dramaturgie kann man sich nicht festhalten, und gelegentlich verliert man auch die Übersicht. Es gibt Schwerpunkte in den einzelnen Kapiteln: Im ersten geht es um Rohfilm und Hardware, Stromnetz und Bahnverkehr, ums Erfinden, Programmieren, Fotografieren, Produzieren und Projizieren, um Berlin, Straßen, Zeitungen, die Großstadt. Das zweite handelt von der Lust am Schauen, von Varieté, Theater und Kinodunkel, von Tempo, Abwechslung, Nervositätsforschung und dem späteren Länger-werden der Filme. Das dritte, sehr konzentrierte, erzählt vor allem von amerikanischen Entwicklungen, von Eisenbahnfilmen, Kamerablicken, Thomas Edison und Edwin S. Porter. Das vierte spielt vorwiegend in Deutschland, die Protagonisten sind Guido Seeber, Oskar Messter und der filmaffine Kaiser Wilhelm II. im Zusammen-hang mit Aktualitäten. Ein wichtiges Thema: Attraktion gegen Narration. Das fünfte beginnt mit Zuschauererwartungen, der Löwenbändigerin Tilly Bébé und den „pikanten Filmen“, wechselt dann nach Frankreich zu Louis Feuillade, Alice Guy und den Pathé Frères und endet mit den deutschen Kinoreformern. Im sechsten geht es um Kino-Afficionados, Kollektiv und Individuum, Zensur und Selbst-reflexion. Dann kommen Henny Porten und vor allem Asta Nielsen ins Spiel und damit die Funktion des Stars. Das siebte Kapitel – wir sind jetzt in den 1910er Jahren – handelt von der Verbürgerlichung des Kinos (also einem Aufstieg), von Katastrophen (Titanic), Griffith, der Firma Nordisk und dem italienischen Historienfilm. Das achte und letzte konzentriert sich auf die Jahre 1912-14, in denen die Filme länger werden, die Genres spezifizierter, die Dramen vielschichtiger, die Konkurrenzen größer. Es endet mit Chaplin.

Rund 350 Filme werden von Klaus Kreimeier ins Spiel gebracht, vor allem im zweiten Teil des Buches geht er intensiver auf sie ein, und es zahlt sich aus, dass er sich fast alles anschauen konnte, was es noch zu sehen gibt. Er rekapituliert nicht einfach Plot oder Story, er kann formale Fortschritte deutlich machen und in größere Zusammenhänge stellen. Im Umgang mit den Filmen ist das Buch am konkretesten.

Weil Kreimeier ein belesener Mensch ist, hat er viele Zitate von Schriftstellern der Zeit zu bieten, darunter sind natürlich Kafka und Musil, Hessel und Pinthus, Serner und Simmel, aber auch Carl Spitteler, Julius Hart, Hanns Heinz Ewers und Detlev von Liliencron. Er ist vertraut mit den frühen Theoretikern Emilie Altenloh, Hugo Münsterberg, Herbert Tannenbaum. Benjamin, Bloch, Freud und Kracauer sind selbstverständlich präsent.

Zum Pflichtprogramm einer solchen Publikation gehört auch der respektvolle Umgang mit den Wissenschaftlern, die sich seit Jahr-zehnten mit dem frühen Kino beschäftigen: Helmut H. Diederichs, Thomas Elsaesser, Joseph Garncarz, Tom Gunning, Martin Loiper-dinger, Corinna Müller, Barry Salt, Heide Schlüpmann. Kreimeier versucht, im Dialog mit den Kollegen nicht allzu fachlich zu werden, er zitiert, wägt ab, ist gelegentlich auch anderer Meinung. Das wird jeweils argumentativ begründet.

Das Buch wird seinem Anspruch einer „Kulturgeschichte“ gerecht, aber das haben wir bei diesem Autor auch nicht anders erwartet.

Publiziert in der Reihe „Zsolnay/Kino“, einer Kooperation des Österreichischen Filmmuseums und des Zsolnay Verlages.

Eine sehr differenzierte Rezension von Bert Rebhandl erschien am 14. Dezember 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:  frueher-war-die-kamera-ein-maschinengewehr-11563103.html.