Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
September 2021

Jonathan Coe
Mr. Wilder & ich
Wien, Folio Verlag 2021
280 S., 22,00 €
ISBN 978-3-85256-833-1

Jonathan Coe:
Mr. Wilder & ich

Der Roman von Jonathan Coe erzählt Episoden aus dem Leben des Regisseurs Billy Wilder, wie sie 1976/77 von der jungen Griechin Calista Frangopoulou erlebt werden. Sie begleitet als Dolmetscherin und Assistentin die Dreharbeiten zu dem Film FEDORA, zuerst in Griechenland, dann in München und Paris.

Die Rahmenhandlung ist auf das Jahr 2013 datiert. Calista lebt mit ihrem Mann Geoffrey in London. Er lehrt an der Film and Television School in Beaconsfield, sie komponiert. Die Zwillingstöchter Ariane und Fran beginnen ihr Studium. Fran in Oxford, Ariane in Sydney. Calista bringt Ariane zum Flughafen Heathrow, sie weint bei der letzten Umarmung. Ariane fragt, ob ihre Mutter auch geweint habe, als Calista sich vor 37 Jahren auf dem Athener Flughafen von ihr ver-abschiedet hat. „Nein, meine Mutter weinte damals nicht.“

1976 trampt die 21jährige Calista durch die USA, lernt die gleichaltrige Gill Foley kennen und begleitet sie in Los Angeles zu einem vornehmen Dinner mit Billy Wilder, einem Freund von Gills Vater. Anwesend sind auch der Drehbuchautor I.A.L Diamond, Wilders Ehefrau Audrey und Diamonds Ehefrau Barbara. Calista und Gill fühlen sich unwohl in der Runde, weil sie wenig zum Gespräch beitragen können. Nach Filmen gefragt, die sie in letzter Zeit gesehen haben, nennen sie spontan DER WEISSE HAI von Steven Spielberg. Die Reaktion sind Seufzer. Gill geht aufs Klo, kehrt nicht in die Runde zurück und hinterlässt Calista die Nachricht, dass sie zu ihrem neuen Freund Stephen gegangen ist. Calista trinkt mehr Wein als sie verträgt, bringt mit einem Gähnanfall Wilder auf die Idee für eine Szene seines neuen Films und übernachtet im Haus der Wilders. Am nächsten Tag sind die Gastgeber abwesend, und Calista verabschiedet sich mit einem Dankesbrief. Angefügt sind ihre Adresse und Telefonnummer in Athen.

Nach Griechenland zurückgekehrt, eignet sie sich mit Hilfe von „Halli-well’s Film Guide“ und „Halliwell’s Filmgoer’s Companion“ enzyklopä-disches Basiswissen an. Dann kommt im Mai 1977 der Anruf des Produktionsbüros: Mr. Wilder hätte sie gern als Dolmetscherin bei den Dreharbeiten zu FEDORA. Sie fährt auf die Insel Korfu, übersetzt bei Presseinterviews, es geht auf die Insel Lefkada, sie ist bei den Dreh-arbeiten präsent, erlebt William Holden, Marthe Keller, Hildegard Knef und betreut den Autor Diamond, genannt Iz. Der sorgt dafür, dass sie auch bei den Dreharbeiten in München als seine Assistentin beschäftigt wird.

Bei einem Abendessen zu Ehren des Komponisten Miklós Rósza kommt es zu einem Konflikt mit einem jungen Holocaust-Leugner. Billy Wilder ergreift die Initiative und schildert in Drehbuchform persönliche Erlebnisse in Berlin 1933, die ihn motivieren, ins Exil zu gehen, und zwölf Jahre später in London die Realisierung des Dokumentarfilms DIE TODESMÜHLEN zu übernehmen, mit der Möglichkeit, Aufnahmen von seiner Mutter zu finden, die offenbar in einem Konzentrationslager endete. Wilders fragt den Holocaust-Leugner: „Wenn die Konzentrationslager und die Gaskammern nur Einbildung waren, wo ist dann meine Mutter?“

Auch bei den Dreharbeiten in Paris ist Calista dabei. Sie führt Ge-spräche mit Audrey Wilder und Barbara Diamond, aber vor allem mit Billy, der ihr bei einer Autofahrt durch Paris und zu einem Drehort außerhalb der Stadt ausführlich aus seinem Leben erzählt. Dann sind die Dreharbeiten zu Ende, Calista kehrt nach Athen zurück, und Jonathan Coe beschreibt die folgenden Jahre: wie der Film FEDORA ein nur mäßiger Erfolg wird, dass Billy Wilder eigentlich bei SCHINDLERS LIST Regie führen soll, die er aber an Steven Spielberg abgibt, wann Calista noch einmal Iz Diamond und Billy Wilder in Los Angeles trifft. Mit einer schönen Pointe wird der Rahmen schließlich geschlossen. Es sind die Worte „Warum nicht?“.

Der Autor dieses Romans hat hervorragend recherchiert. Seine Nähe zu Billy Wilder ist beeindruckend. Das Ich von Calista Frangopoulou erweist sich als Perspektive, die dem Text eine zusätzliche Kraft gibt. Die Vermischung von realen und fiktiven Personen macht die Lektüre zu einem spannenden Porträt der Hauptfigur, des großen Regisseurs Billy Wilder. Sie unterscheidet sich damit grundsätzlich von den zahl-reichen Biografien, die es über ihn gibt. Thematisiert wird auch die Verjüngung in Hollywood, der Wechsel zu einer neuen Generation mit den Protagonisten Coppola, Spielberg und Scorsese. „New Hollywood“, das sind für Wilder zunächst „die Jungs mit den Bärten“. Seine Wertschätzung für Spielberg kommt erst später.

Die Filme von Billy Wilder sind mir bestens vertraut. 1980 war ich für die Wilder-Retrospektive im Rahmen der Berlinale verantwortlich und habe zusammen mit Helga Belach das Buch von Neil Sinyard und Adrian Turner redaktionell betreut. 1987 kam er nach Berlin und wurde Ehrenprofessor. Persönlich erinnere ich mich gern an die Pressekonferenz mit ihm, die ich anlässlich der Verleihung des Goldenen Ehrenbären bei der Berlinale 1993 leiten durfte. 2002 ist Billy Wilder im Alter von 95 Jahren in Los Angeles gestorben. Ein Buch „Billy Wilder & ich“ würde ich mir nicht zutrauen.

Mehr zum Buch: Mr.-Wilder-und-ich/9783852568331