Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
März 2015

Alfred Polgar
Marlene
Bild einer berühmten Zeitgenossin
Herausgegeben von Ulrich Weinzierl
Wien: Paul Zsolnay 2015
160 S., 17,90 €
ISBN: 978-3-552-05721-0

Alfred Polgar:
Marlene.
Bild einer berühmten Zeitgenossin

Ein schmales Buch über einen großen Star. Alfred Polgar hat es 1937/38 geschrieben, es wurde bisher nicht veröffentlicht. Jetzt ist es, herausgegeben von Ulrich Weinzierl, im Zsolnay Verlag in Wien erschienen. Wie zu erwarten war, ist es wunderbar formuliert, liest sich wie eine Liebeserklärung und gehört nun zum Kanon der Marlene Dietrich-Literatur.

Alfred Polgar (1873-1955) war ein österreichischer Kritiker, Feuilletonist und Erzähler, der ab Mitte der 1920er Jahre auch in Berlin lebte und arbeitete. 1933 verließ er Nazi-Deutschland, ging nach Prag und zurück nach Wien, 1938 nach Zürich und Paris und floh 1940 aus Frankreich in die USA. Er arbeitete zeitweise als Drehbuchautor und kehrte 1949 nach Europa zurück.

Die Exilsituation brachte Polgar in materielle Schwierigkeiten, die eng mit der Entstehung dieses Buches verbunden sind. Ein Freund aus Zürich stellte eine Verbindung zu Marlene Dietrich her, die Polgar aus seiner Berliner Zeit gut kannte und ihn großzügig unterstützte. Als Gegenleistung bot er an, ein Buch über sie zu schreiben, das zunächst in einem Wiener Verlag erscheinen sollte, was aber ab 1938 nicht mehr möglich war. Polgar schrieb – offenbar mit einiger Mühe – seinen Text, ließ ihn von Marlene und ihrem Mann Rudi Siebert „gegenlesen“ und nahm ihn mit nach Amerika. Er blieb unpubliziert, wurde von dem Kulturjournalisten Urich Weinzierl im Polgar-Nachlass entdeckt und jetzt endlich veröffentlicht.

Die knapp 70 Seiten des Textes „Marlene. Bild einer berühmten Zeitgenossin“ erzählen liebevoll, gelegentlich auch ironisch, aber immer elegant formuliert von Polgars ersten Begegnungen mit Marlene auf der Bühne in Wien, von ihrem Namen, ihrem Lebenslauf, ihrer Besetzung der Lola im BLAUEN ENGEL durch Josef von Sternberg, von den nachfolgenden Filmen in Hollywood (MOROCCO, DISHONORED, SHANGHAI-EXPRESS, THE GARDEN OF ALLAH) und auch ein bisschen von ihrem Privatleben. Am Ende des Textes steht ein Interview, das Polgar mit Marlene während ihres Aufenthaltes in St. Gilgen im Sommer 1936 geführt hat. Es sind vor allem die vielen ungewöhnlichen Formulierungen, die die Lektüre des Buches noch heute lohnenswert machen.

Ich zitiere ein Stück des Polgar-Textes zu Marlenes Gesicht: „Das Gesicht der Dietrich fesselt durch die eigenartige, fremdartige Harmonie seiner Linien. Kein glattes Wohlbild der Züge (um ein Wort nach Analogie von Wohllaut zu gebrauchen), wie es das vom Durchschnittsgeschmack als ‚schön’ bewertete, zu Zwecken der kosmetischen Reklame taugliche Gesicht kennzeichnet. In Marlenes deutschestem Gesicht sind slawische Züge, ist Strenges und Zartes, Energie und Weichheit. Hohe, durchmodellierte Stirne, kräftige Backenknochen über der leicht gehöhlten schattigen Mulde der Wangen, ein sanftes kindliches Kinn, die Nase schmalrückig mit breiten Flügeln, der Mund ein Mund, kein Mündchen, die Augen, von dem Bogen, der die Braue trägt, so überwölbt, dass ihr Blick immer aus der Tiefe zu kommen scheint. Von Ekstase bis zur vollkommenen Gleichgültigkeit ist dieses Gesicht jeder Expression, vom Hochmut bis zur Demut jedes Charakters, von Teufelei bis zur engelhaften Güte jedes Reflexes seelischen Zustands fähig. Aber durchscheinend durch all seine mimischen Wahrheiten und Masken wie das Wasserzeichen durch das Papier, unüberdeckbar selbst vom Hochglanz der Freude, trägt es das Signum geheimer Lebensangst. Die Grundmelodie, bald leise, bald stärker, aber nie völlig überhörbar aus den Zügen dieses Gesichts tönend, heißt: Verlorenheit, Verlorenheit in der Welt, in der Liebe, im labyrinthischen Schicksals-Plan. Es ist das Gesicht eines Menschen, über den verhängt wurde, das Leben immer ein wenig als Exil zu fühlen. Mag sein, gelegentlich als äußerst vergnügliches Exil. Aber die Heimat ist anderswo.“ (S. 38/39). Was für eine gewagte, bildhafte Beschreibung! Und man könnte gleichermaßen andere Passagen zitieren, über die Stimme, den „Sex Appeal“, die Beine. Dies ist, wohlgemerkt, ein Text aus den Jahren 1937/38.

Der Herausgeber Ulrich Weinzierl erzählt in seinem Nachwort die Geschichte des Textes bis hin zur späten Publikation. Hier werden noch einmal die Verbindungen zwischen Polgar und Marlene Dietrich rekapituliert, die zeitlichen Abfolgen in Erinnerung gerufen, Textvarianten vermittelt und zahlreiche Quellenverweise dokumentiert. Während sich der Polgar-Teil des Buches ganz auf den Text konzentriert, gibt es bei Weinzierl auch viele Abbildungen.

Coverfoto: William Walling