Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Januar 2022

Ralf Junkerjürgen / Christian von Tschilschke / Christian Wehr (Hg.)
Klassiker des französischen Kinos in Einzeldarstellungen
Berlin, Erich Schmidt Verlag 2021
658 S., 49,95 €
ISBN 978-3-503-19926-6

Ralf Junkerjürgen, Christian von Tschilschke, Christian Wehr (Hg.):
Klassiker des französischen Kinos in Einzeldarstellungen

Der französische Film spielt seit mehr als hundert Jahren in Europa eine führende Rolle. Eine Publikation speziell zur französischen Film-geschichte gibt es in deutscher Sprache bisher nicht. Dieses Buch öffnet den Blick auf den Reichtum unseres Nachbarlandes. 36 Klassiker des französischen Kinos haben die Herausgeber Ralf Junkerjürgen, Christian von Tschilschke und Christian Wehr ausgewählt, beginnend mit L’ARRIVÉE D’UN TRAIN DANS LA GARE LA CIOTAT (1895) von Auguste und Louis Lumiere, endend mit LA VIE D’ADÈLE – CHAPITRES 1 ET 2 (2013) von Abdellatif Kechiche.

Auf jeweils zehn bis zwanzig Seiten beschreiben 36 Autorinnen und Autoren den von ihnen ausgewählten Film. Der erste Text, verfasst von Oliver Fahle, widmet sich dem Gesamtwerk von Auguste und Louis Lumière. Dann geht es jeweils um einen Titel. Die Reihenfolge ist chronologisch. Klaus Peter Walter richtet seinen Blick auf LE VOYAGE DANS LA LUNE (1902) von Georges Méliès, einen Science-Fiction-Film, der mit großem technischem Erfindungsreichtum realisiert wurde und weltweit erfolgreich war. Sabine Schrader erinnert an LA SOURIANTE MADAME BEUDET (1923) von Germaine Dulac, einen Avantgardefilm mit feministischer Perspektive. Johannes Wende untersucht SOUS LES TOITS DE PARIS (1930) von René Clair, einen frühen Tonfilm, der eine enge Beziehung zwischen Musik und Bildern herstellt. Wolfram Nitsch befasst sich mit L’ATALANTE (1934) von Jean Vigo, der Geschichte eines Binnenfrachters. Die Bedeutung des Films wurde erst später erkannt. Kurt Hahn schreibt über LE JOUR SE LÈVE (1939) von Marcel Carné, einen Klassiker des poetischen Realismus mit Jean Gabin in der Hauptrolle. Andreas Mahler beschäftigt sich mit LA RÈGLE DU JEU (1939) von Jean Renoir, einer Komödie, die kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs entstand und zunächst ein Misserfolg war, aber inzwischen als Meisterwerk gilt. Bei Kirsten von Hagen geht es um LES VACANCES DE MONSIEUR HULOT (1953) von Jacques Tati, der auch die Hauptrolle spielt. Die Komödie funktioniert wie ein Stummfilm, weil wenig gesprochen wird.

Es folgen drei Filme der Nouvelle Vague. Jochen Mecke schreibt über LES QUATRE CENT COUPS (1959) von François Truffaut, die erste Begegnung mit der Figur Antoine Doinel, gespielt von Jean-Pierre Léaud. Silke Segler-Meßner reflektiert über HIROSHIMA MON AMOUR (1959) von Alain Resnais, ein Experiment mit erinnerter Vergangenheit. Wolfgang Lasinger befasst sich mit À BOUT DE SOUFFLE (1959) von Jean-Luc Godard, einem Gangsterfilm mit Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg. Barbara Filser entdeckt die Qualitäten des Kurzfilms LA JETÉE (1962) von Chris Marker, der vorwiegend aus Standbildern montiert wurde. Bei Sascha Keilholz geht es um L’HOMME DE RIO (1964) von Philippe de Broca, eine Action-Komödie mit Jean-Paul Belmondo. Susanne Dürr richtet ihren Blick auf LA GRANDE VADROUILLE (1966) von Gérard Oury, eine Komödie mit Bourvil und Louis de Funès, die zum Publikumshit wurde. Von Teresa Hiergeist stammt ein Beitrag über den Gangsterfilm LE SAMOURAÍ (1967) von Jean-Pierre Melville mit Alain Delon. Gesine Hindemith analysiert das Ehedrama LA FEMME INFIDÈLE (1969) von Claude Chabrol. Bettina Karrer beschäftigt sich mit LES CHOSES DE LA VIE (1970) von Claude Sautet, einem Ehedrama mit Michael Piccoli, Romy Schneider und Lea Massari. Sue Harris informiert über LES VALSEUSES (1974) von Bertrand Blier, eine Komödie mit Gérard Depardieu und Patrick Dewaere.

Bei Verena Richter geht es um das Kriegsdrama LACOMBE LUCIEN (1974) von Louis Malle. Kerstin Küchler schreibt über CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU (1974) von Jacques Rivette, Cornelia Ruhe über SANS TOIT NI LOI (1985) von Agnès Varda, Matthias Hausmann über L’AMI DE MON AMIE (1987) von Éric Rohmer. Jörg Türschmann hat LE GRAND BLEU (1988) von Luc Besson im Blickfeld, Christian Wehr CHOCOLAT (1988) von Claire Denis, Ralf Junkerjürgen LA REINE MARGOT (1994) von Patrice Chereau, Dieter Merlin LES ROSEAUX SAUVAGES (1994) von André Téchiné, Gregor Schuhen LA HAINE (1995) von Mathieu Kassovitz, Dagmar Schmelzer LES TROIS FRÈRES (1995) von Didier Bourdon und Bernard Campan.

Acht Filme stammen aus der Zeit von 2001 bis 2013: LE FABULEUX DESTIN D’AMÉLIE POULAIN (2001) von Jean-Pierre Jeunet (Autorin: Isabelle Vanderscheiden), L’AUBERGE ESPAGNOL (2002) von Cédric Klapisch (Autor: Ralf Junkerjürgen), 5 X 2 (2004) von François Ozon (LA SCIENCE DES REVES (2006) von Michel Gondry (Michael Fleig), BIENVENUE CHEZ LES CH’TIS (2008) von Dany Boom (Stephanie Schwerter), APRÈS MAI (2012) von Olivier Assayas (Christian von Tschilschke), DE ROUILLE ET D’OS (2012) von Jacques Audiard (Susanne Hartwig) und LA VIE D’ADÈLE – CHAPITRES 1 ET 2 (2013) von Abdeliatif Kechiche (Claudia Gronemann).

Diese Aufzählung ist notwendig, um das Spektrum der ausgewählten Filme und der berücksichtigten Regisseurinnen und Regisseure kenntlich zu machen. Die Autorinnen und Autoren folgen keinem vorgegebenen Schema, sondern gehen in ihren Texten individuelle Wege. Aber jeder Text vermittelt Informationen, die weit über den Film hinausgehen. So wird auf die Biografien und das Gesamtwerk der Regisseurinnen und Regisseure verwiesen, der politische und gesell-schaftliche Hintergrund deutlich gemacht, werden Schauspielerinnen und Schauspieler porträtiert, parallele Entwicklungen in anderen Ländern skizziert. Am Ende formen sich die 36 Einzeldarstellungen zu einer komplexen Geschichte des französischen Kinos.

Regisseure, von denen ich einen Film vermisse, sind Robert Bresson, René Clément, Jean Cocteau, Julien Duvivier oder Bertrand Tavernier. Aber alle Erwartungen können mit einem solchen Buch nicht erfüllt werden.

Mit kleinen Abbildungen in akzeptabler Qualität.

Mehr zum Buch: Klassiker+des+französischen+Kinos+in+Einzeldarstellungen