Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
März 2019

Klassiker des deutschsprachigen Dokumentarfilms
Thomas Bräutigam
Schüren Verlag, Marburg 2019
320 Seiten, 24,90 €
ISBN 978-3-7410-0322-6

Thomas Bräutigam:
Klassiker des deutschsprachigen Dokumentarfilms

139 deutschsprachigen Dokumentarfilmen gesteht der Medienwissen-schaftler Thomas Bräutigam den Status von Klassikern zu. Der älteste, BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT von Walter Ruttmann, stammt aus dem Jahr 1927, der jüngste, WILLKOMMEN AUF DEUTSCH von Carsten Rau und Hauke Wendler, wurde 2014 realisiert. Die Reihenfolge ist alphabetisch, sie beginnt mit ABENDLAND von Nikolaus Geyrhalter und endet mit 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHM WEISS von Malte Ludin. Jedem Film ist ein ausführlicher Text gewidmet, der vor allem die besondere Form würdigt.

Der Autor hat für seine Publikation natürlich auch „filmexterne Rezipienten“ im Blick: Pädagogen, Historiker, Soziologen, Journalisten, für die der Dokumentarfilm eine wichtige Quelle ist. Auf 25 Seiten bietet er zunächst „Eine sehr kurze Geschichte des Dokumentarfilms im deutschsprachigen Raum“. 250 Seiten umfassen die Texte zu den einzelnen Filmen. Fünfzig Filmemacher*innen werden dann in biografischen Notizen porträtiert mit einer Auswahlfilmliste, in der die kanonisierten Filme hervorgehoben sind. Es gibt im Anhang eine Bibliografie, ein Themen- und ein Personenregister. Bei den Themen steht „Arbeit(er)“ mit 14 Filmen an erster Stelle. Zwei Titel, die hier genannt werden, fehlen allerdings bei den Klassikern: DIE LEBENSGESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALFONS S. und PROSPER/EBEL von Christoph Hübner und Gabriele Voss. 13 Filme behandeln das Thema „Jugend(liche)“, zehn das Thema „Frauen“.

Natürlich bildet sich mit der Zahl der jeweils ausgewählten Filme eine künstlerische Bedeutungshierarchie. Eberhard Fechner steht mit fünf Titeln auf Platz 1. Es folgen Jürgen Boettcher und Volker Koepp mit je vier Filmen. Hartmut Bitomsky, Nikolaus Geyrhalter, Michael Glawogger, Thomas Heise, Walter Heynowski/Gerhard Scheumann, Peter Nestler, Helga Reidemeister und Andreas Veiel sind mit jeweils drei Filmen vertreten. Das hätte ich mir auch von Hans-Dieter Grabe, Ulrike Ottinger und Klaus Wildenhahn gewünscht. Immerhin wird gelegentlich auf andere wichtige Filme verwiesen.

In seinem Vorwort gesteht Thomas Bräutigam zu, dass die vorgelegte Auswahl „anfechtbar“ sei. „Dokudramen“ sind nicht berücksichtigt, es sollen „die maßgeblichen Tendenzen der Dokumentarfilmgeschichte verdeutlicht werden“. Das ist dem Autor durchaus gelungen, wenn man beim Lesen auf so unterschiedliche Filme wie BILDER DER WELT UND INSCHRIFT DES KRIEGES (1988) von Harun Farocki, DIE GROSSE STILLE (2005) von Philip Gröning, PRINZESSINNENBAD (2007) von Bettina Blümner, SEX-BUSINESS MADE IN SCHWABING (1969) von Hans-Jürgen Syberberg, DER TOD DES FISCHERS MARC LEBLANC (1976) von Christian Rischert, TRIUMPH DES WILLENS (1935) von Leni Riefenstahl oder WINTER ADÉ (1988) von Helke Misselwitz stößt. Auch dem österreichischen und dem Schweizer Film wird Bräutigam in der Zahl und qualitativen Auswahl gerecht.

Jedem Filmtext sind korrekte filmografische Daten vorangestellt mit Hinweisen auf eine DVD-Edition (33 Klassiker hat absolut Medien im Angebot. Respekt, Molto Menz!), oft wird am Ende aus zeitgenössischen Kritiken zitiert und eine Literaturliste folgt am Schluss. Die Abbildungen haben eine akzeptable Qualität.

Zwei kritische und eine persönliche Anmerkung: Christoph Hübner, Peter Liechti und Thomas Schadt sind zwar in den biografischen Notizen vertreten, haben aber keinen „Klassiker“ realisiert. Das sehe ich anders. Gerd Kroske (LEIPZIG IM HERBST), Heidi Specogna (verschiedene Filme über Lateinamerika) und Michael Verhoeven (DER UNBEKANNTE SOLDAT) werden im Buch überhaupt nicht erwähnt. Das tut ihnen unrecht. Persönlich vermisse ich unter den „Klassikern“ WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT von Wilhelm Prager (wird nur im Zusammenhang mit dem OLYMPIA-Film von Leni Riefenstahl erwähnt), HEILIGABEND AUF ST. PAULI von Klaus Wildenhahn, MEINE MÜTTER von Rosa von Praunheim und PINA, den 3D-Film von Wim Wenders.

Thomas Bräutigam (*1958) hat an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über Hispanik im Dritten Reich promoviert, bisher ein Hörspiel-Lexikon, drei Publikationen zum Thema Filmsynchronisation und das Buch „Klassiker des Fernsehfilms“ (2013, ebenfalls im Schüren Verlag) verfasst. Er lebt als freier Autor in Berlin. Ich habe sein neues Buch – trotz der formulierten Vorbehalte – mit großem Respekt gelesen.

Coverabbildung aus dem Film BERLIN, DIE SINFONIE DER GROSSSTADT.

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