Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Mai 2020

Martina Zerovnik (Hg.)
Kino Welt Wien
Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte
Wien, Filmarchiv Austria 2020
368 S., 29,90 €
ISBN 978-3-902781-75-8

Martina Zerovnik (Hg.):
Kino Welt Wien.
Eine Kulturgeschichte städtischer Traumorte

Zurzeit sind die Kinos überall geschlossen. Das ist sehr schmerzhaft, sowohl für die Betreiber der Kinos wie für uns, die das Kino lieben. Man kann aber die Gelegenheit nutzen, sich wieder einmal mit der Geschichte des Kinos zu beschäftigen. Das Filmarchiv Austria hat einen schönen Bild- und Textband zur Historie der Kinos in Wien publiziert, herausgegeben von Martina Zerovnik.

Es gibt Bücher über die Geschichte der Kinos in Berlin (herausgegeben von Sylvaine Hänsel und Angelika Schmitt, 1995), in München (von Monika Lerch-Stumpff, zwei Bände, 2004 und 2008), in Hamburg (von Michael Töteberg und Volker Reissmann, 2008), in Köln (von Marion Kranen und Irene Schoor, 2016) oder im hessischen Watzen-born-Steinberg (von Nikola Stumpf, 2019). Das Buch „Kino Welt Wien“ ist der Katalog zur Ausstellung im Metro Kinokulturhaus, die zwar im Moment geschlossen ist, aber nach der Neueröffnung bis zum Januar 2021 zu sehen sein soll.

18 Texte führen uns durch die Wiener Kinogeschichte. Ernst Kieninger, Direktor des Filmarchivs Austria, hat ein kurzes Geleitwort formuliert. Von der Heraus­geberin Martina Zerovnik stammen zwei Beiträge. Statt einer Einleitung wirft sie „Einen Blick in eine Kiste voll zauberhaftem Gerümpel“ und reflektiert über Kino zwischen Traum und Wirklich-keit, konkretisiert am Beispiel Wien (S. 9-21). Später richtet sie ihren Blick auf das frühe Kino als Ort weiblicher Emanzipation und Selbstbestimmung (S. 92-107).

Anna Högner beschreibt den technischen Wandel der Wiener Kinos von den Anfängen bis in die Gegenwart („Ein Apparat verändert sich“). Norbert Philipp macht deutlich, wie die Architektur Filme wirken lässt. Er beschäftigt sich mit Kinoeingängen, Kassenräumen, Foyers und natürlich mit den Zuschauersälen, in denen wir, bequem sitzend, die Magie der Filmträume erleben sollen („Der Raum ist die Botschaft“).

Zwei Texte stammen von Peter Payer. Er beschäftigt sich zunächst mit der Wirkung des Kinos im Wiener Stadtraum, speziell mit der Leucht-reklame, die sich gegen viele Konkurrenzen behaupten muss („In den Fangarmen des Lichts“). Dann erinnert er an zwei Meister der Kino-reklame: den Starporträtisten Gustav Mezey (1899-1981) und den Plakatmaler Eduard Paryzek (1915-1998).

Bei Jan-Hendrik Müller geht es um die sozialdemokratischen Kino-politik und die Entwicklung der „Kinobetriebsanstalt GmbH“, abge-kürzt „Kiba“, die 1926 gegründet wurde und bis zu ihrer endgültigen Auflösung 1999 von stadtpolitischen Interessen und historischen Umbrüchen beeinflusst war. Klaus Christian Vögl informiert über die nationalsozialistische Aneignung der Wiener Kinolandschaft zwischen 1938 und 1945 mit der „Arisierung“ der jüdischen Lichtspieltheater, der Rückabwicklung 1945 und den Folgen für die Wiener Kinotopografie.

Walther Richter porträtiert den Kinoarchitekten Robert Kotas (1904-1973), der in Wien 38 Kinos gebaut oder umgebaut hat, darunter das Metro-, das Gartenbau- und das Haydn-Kino. Architektur-Skizzen (mit Sitzplan) und Fotos zeigen seine konkreten Ideen. Nur das Gartenbau-Kino ist noch erhalten.

Edith Blaschitz beschäftigt sich mit dem Kulturkampf für Reinheit und Ordnung, der die Vorführung „unmoralischer“ Filme aus dem Ausland, speziell aus Frankreich verhindern wollte. Konkretes Beispiel ist der Film DIE GEHEIMNISSE VON PARIS (1943) in Wien 1948. Auch amerikanische Kriminalfilme gerieten in Verruf. Vor allem sollte der „Kampf gegen Schmutz und Schund“ Jugendliche schützen. Der österreichische „Filmbeirat“ hatte offenbar weniger Ansehen als die westdeutsche FSK. Die Auseinandersetzungen dauerten bis zum Ende der 50er Jahre.

Eine kurze Chronologie der beiden Action- und anderen Programm-kinos stammt von André. Hier werden auch das Österreichische Film-museum und das Metro Kinokulturhaus gewürdigt. Marion Breiter richtet ihren Blick auf die wichtige Rolle der Kinobesitzerinnen in Wien („Träume waren ihr Geschäft“). 1980 hat der Fotograf Herwig Jobst eine Bestandsaufnahme der damaligen Wiener Kinoland­schaft gemacht. Sie ist auf 70 Seiten dokumentiert.

Einige Wiener Kinos sind nach ihrer Schließung zu Theatern umgebaut worden. Darüber informiert Angela Heide („Weniger ist immer weniger“). Michael Omastas Beitrag „zu einer wahren Geschichte der Wiener Kinos“ sieht die Gegenwart in der Verbindung mit der Vergan-genheit, würdigt das von Ilse Aichinger oft besuchte Bellaria, erinnert an das Tabor und charakterisiert die Funktion der Multiplex-Kinos. Ein Gespräch mit Stefan Nehez beschreibt Vergangenheit und Zukunft des Kinos am Beispiel der Zentral-Theaters. Der letzte Beitrag, „Very Last Picture Shows“, stammt von Xaver Bayer.

Diese „Kulturgeschichte städtischer Traumorte“ ist in der Verbindung von Bildern und Texten eine Reise in die Vergangenheit und evoziert Fragen nach der Zukunft. Wie lange wird es das Kino noch geben? Die Frage wird natürlich nicht konkret beantwortet. 1980 hatte Wien noch 73 Kinos. Heute gibt es noch 30. Das sind – verglichen mit Berlin (knapp 100) oder München (55) – erstaunlich wenig. Zurzeit sind sie alle geschlossen. Mal sehen, wie die Zahlen in zwei Jahren aussehen.

Mit einem Kino-Faltplan als historischem Wegweiser zu den 360 Kinos, die es jemals in der Stadt gegeben hat.

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