Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Januar 2019

Kino der Moderne – Film in der Weimarer Republik
Hrsg: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn, Deutsche Kinemathek, Berlin
Sandstein Verlag, Leipzig 2018,
196 S. 29 €
ISBN: 978-3-95498-436-7

Diverse:
Kino der Moderne.
Film in der Weimarer Republik

Schon wieder ein Buch über den Film der Weimarer Republik? Ja, aber ein ganz besonderes: der Katalog zur aktuellen Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn, herausgegeben in Zusammenarbeit mit der Deutschen Kinemathek. Klug und ideenreich konzipiert, mit pointiert formulierten Texten und gut ausgewählten Abbildungen entsteht ein vielseitiges Bild von jenen 15 Jahren deutscher Filmgeschichte, in denen es noch viel zu entdecken gibt.

Kristina Jaspers und Annika Schaefer, verantwortlich für das Konzept des Katalogs, geben mit ihrem Einleitungsessay „Individuum und Typ“ die Richtung vor: wie schauen Menschen in eine Welt, die sich gerade radikal verändert? Auf jeweils sechs Seiten (inklusive Abbildungen) werden dann 19 Aspekte des „Modernen Lebens“ in den Blick genommen:

Annika Schaefer beschreibt „Arbeitswelten“; ihre Filmbeispiele sind DER LETZTE MANN von F.W. Murnau, DIE PRIVATSEKRETÄRIN von Wilhelm Thiele, DER SIEGER von Hans Hinrich und Paul Martin, KUHLE WAMPE ODER WEM GEHÖRT DIE WELT? von Slatan Dudow. Bei Peter Mänz geht es um „Soziales“; Filmbeispiele: DER LETZTE MANN, METROPOLIS von Fritz Lang, DIE VERRUFENEN von Gerhard Lamprecht, MUTTER KRAUSENS FAHRT INS GLÜCK von Phil Jutzi. Karin Herbst-Meßlinger richtet ihren Blick auf die Darstellung von „Kindheit“; Filmbeispiele: DIE VERRUFENEN, MÄDCHEN IN UNIFORM von Leontine Sagan, EMIL UND DIE DETEKTIVE von Gerhard Lamprecht. Vera Thomas beschäftigt sich mit „Mobilität“; Filmbeispiele: ASPHALT von Joe May, ACHTUNG! LIEBE! LEBENSGEFAHR! von Ernö Metzner, DER TEUFELSREPOR-TER von Ernst Laemmle, FRÄULEIN – FALSCH VERBUNDEN! von E.W. Emo. Dietrich Neumann beschreibt „Urbanität“, erinnert an den Architekten Hans Poelzig, richtungsweisende Kinos und die Filme BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT von Walther Ruttmann und METROPOLIS. Nils Warnecke entdeckt neue Stilformen im „Interieur“: Möbel, Lampen, Teppiche; Filmbeispiele: QUICK von Robert Siodmak, FRAU IM MOND von Fritz Lang, DIE GROSSE PAUSE von Carl Froelich, DIE DREI VON DER TANKSTELLE von Wilhelm Thiele. Maximilian Weinberg erkennt das wachsende Interesse am „Sport“, vor allem am Boxen und an Gymnastik; Filmbeispiele: LIEBE IM RING von Reinhold Schünzel mit Max Schmeling, WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT von Wilhelm Prager. Annette Dorgerloh reflektiert über „Gender“ und Crossdressing; Filmbeispiele: ICH MÖCHTE KEIN MANN SEIN von Ernst Lubitsch, ANDERS ALS DIE ANDERN von Richard Oswald, MÄDCHEN IN UNIFORM. Bei Daniela Sannwald geht es um die „Mode“, konkre-tisiert in den Kostümentwürfen von Aenne Willkomm für die Ma-schinen-Maria in METROPOLIS und Lilian Harvey in EINBRECHER von Hanns Schwarz. Thomas Macho charakterisiert „Stars und Fans“, er beschreibt die Entstehung von Starpostkarten und Auto-grammen und von Selbstinszenierungen im Photomaton. Ralf Forster stellt eine Verbindung zwischen „Wissenschaft“ und dem Kulturfilm her und schlägt den Bogen zur Darstellung neuester kriminologischer Verfahren in M von Fritz Lang. Kristina Jaspers konstatiert die wachsende Bedeutung der „Psychoanalyse“ nach Kriegsende und verweist vor allem auf die Filme NERVEN von Robert Reinart, DER STUDENT VON PRAG von Henrik Galeen und GEHEIMNISSE EINER SEELE von G.W. Pabst. Jeanpaul Goergen befasst sich mit der „Avantgarde“, also mit den Experimenten von Walther Ruttmann, Hans Richter, Lotte Reiniger, Lászlo Moholy-Nagy. Albrecht Dümling sieht die „Musik“ als selbstverständlichen Bestandteil des Films schon in der Stummfilmzeit, erinnert an die Komponisten Giuseppe Becce, Edmund Meisel, Gottfried Huppertz und – in der Tonfilmzeit – Hanns Eisler und Werner Richard Heymann. Im Zusammenhang mit dem Thema „Literatur“ spielen bei Kristina Jaspers vor allem Bertolt Brecht, Arthur Schnitzler, Thomas und Heinrich Mann eine Rolle; Filmbeispiele: KUHLE WAMPE, FRÄULEIN ELSE von Paul Czinner, BUDDENBROOKS von Gerhard Lamprecht, DER BLAUE ENGEL von Josef von Sternberg. Im Beitrag von Susanne Marschall geht es um „Exotismus“, also um Filme wie DAS INDISCHE GRABMAL von Joe May, DIE LEUCHTE ASIENS von Franz Osten, aber auch um DIE ABENTEUER DES PRINZEN ACHMED von Lotte Reiniger. Matthias Struck assoziiert mit der „Natur“ vor allem den Bergfilm (DIE WEISSE HÖLLE VOM PIZ PALÜ von Arnold Fanck und G.W. Pabst, DAS BLAUE LICHT von Leni Riefenstahl), aber auch Ausflugsfilme wie MENSCHEN AM SONNTAG von Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer. Dem „Laster“ widmet sich Wolfgang Theis und erinnert an Filme wie ALKOHOL von Alfred Lind und E.A. Dupont, JENSEITS DER STRASSE von Leo Mittler, aber auch an Travestien in DER HIMMEL AUF ERDEN von Reinhold Schünzel und Alfred Schirokauer und VIKTOR UND VIKTORIA von Reinhold Schünzel. Zuletzt: die „Politik“. Rolf Aurich beschreibt vor allem Zensurfälle: PANZER-KREUZER POTEMKIN von Eisenstein, IM WESTEN NICHTS NEUES von Milestone und den Streit um Filme wie KUHLE WAMPE, aber auch den Besuch von Reichspräsident Ebert bei den Dreharbeiten zu Lubitschs MADAME DUBARRY.

In einer solchen Aufreihung kann die spezifische Qualität der 19 Texte nicht differenziert vermittelt werden, aber es soll zumindest das Spektrum der Themen deutlich werden, das hier aufgefächert wird. Und: die Auswahl der Autorinnen und Autoren ist beeindruckend.

Zwei etwas längere Beiträge fügen sich an: Anton Kaes gibt einen sehr informativen Überblick über die Filmtheorie in der Weimarer Republik („Der Traum vom Kino“), von Gerlinde Waz stammt ein bestens recherchierter Text über Frauen hinter der Kamera („Aufbruch ins Unbekannte“). Mit je zwölf Seiten setzen sie starke Akzente im Buch. Der Anhang enthält eine Auflistung der Exponate, ein Personen- und ein Filmregister.

Der Film der Weimarer Republik ist mir persönlich sehr vertraut. Wenn ein neues Buch zu diesem Thema erscheint, lese ich es mit besonderem Interesse und beurteile es mit meinem Wissen über diese Zeit. Der Katalog „Kino der Moderne“ hat mich in der Verbindung von Bildern und Texten sehr überzeugt.

Einen lesenswerten Text über die Ausstellung in Bonn hat Alexandra Wach für den Filmdienst geschrieben: 14845/kino-der-moderne-film-in-der-weimarer-zeit

Die Ausstellung ist in Bonn bis zum 24. März zu sehen und wird vom 20. Juni bis 13. Oktober 2019 im Berliner Museum für Film und Fernsehen gezeigt.

Mehr zum Buch: https://verlag.sandstein.de/detailview?no=98-436