Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
April 2019

Ernst Blass
„in kino veritas“
Essays und Kritiken zum Film. Berlin 1924-1933
Hrsg. von Angela Reinthal
Berlin, Elfenbein Verlag 2019
286 Seiten, 22,00 €
ISBN 978-3-96160-008-3

Ernst Blass:
in kino veritas.
Essays und Kritiken zum Film. Berlin 1924-1933

Er war Lyriker und Autor von Erzählungen, bevor er zwischen 1923 und 1933 als Filmkritiker in Erscheinung trat. Viele Jahre war er Chef-rezensent des Berliner Tageblatts. Eine Auswahl seiner Filmtexte ist jetzt von Angela Reinthal unter dem Titel „in kino veritas“ im Elfenbein Verlag herausgegeben worden. Sie erinnern an das filmkulturelle Leben Berlins in den 1920er und frühen 30er Jahren.

Der Film der Weimarer Republik ist uns nicht nur als kulturelles Erbe überliefert, sondern auch durch Texte präsent, die in Zeitungen und Zeitschriften veröffent­licht wurden. Es gibt Bände zur damaligen Film-kritik mit Texten von Wolfgang Dunker (Mersus), Manfred Georg, Herbert Ihering, Lucy von Jacobi, Ernst Jäger, Rudolf Kurtz, Paul E. Marcus (PEM), Kurt Pinthus, Hans Sahl, Libertas Schultze-Boysen, Hans Siemsen, Hans Wollenberg und demnächst auch Hans Feld (alle in der Reihe „Film & Schrift“), von Rudolf Arnheim, Willy Haas, Alfred Kerr, Siegfried Kracauer. Ernst Blass wurde bisher nur als Dichter, nicht als Filmkritiker gewürdigt.

Ernst Blass (häufig auch Blaß geschrieben) wurde 1890 geboren, war der Sohn einer jüdischen Fabrikantenfamilie, studierte Jura und hatte 1912 mit seinem Lyrik-band „Die Straßen komme ich entlang geweht“ einen großen Erfolg. Er gab die literarisch-philosophische Zeitschrift Die Argonauten heraus, schloss 1915 sein Jurastudium ab, arbeitete bis 1920 als Archivar bei der Dresdner Bank und ab 1924 als Lektor im Paul Cassirer Verlag. Seit seiner Jugend war er gesundheitlich gefährdet, kämpfte seit 1926 gegen ein tuberkulöses Augenleiden, das am Ende zu einer Erblindung führte. Nach der Machtergreifung der Nazis hatte er keine Arbeitsmöglichkeiten mehr und starb verarmt 1939 in einem jüdischen Krankenhaus in Berlin.

Die Herausgeberin Angela Reinthal hat für diesen Band 147 Texte ausgewählt. Sie sind chronologisch geordnet. Ihr Nachwort ist eine beeindruckende Würdigung der filmkritischen Arbeit von Ernst Blass. Sie beschreibt ihn als „Lyriker der Filmkritik“, stellt ihn in den Zusam-menhang der damaligen Filmkritik in Zeitungen und Zeitschriften, verweist auf seine Texte zum Beiprogramm in den Kinos, positioniert die Filmkritik im Verhältnis zwischen Filmschaffenden und Zuschauern, informiert über die Eingriffe der Zensur insbesondere bei den „Russenfilmen“ und richtet den Blick auf das filmische Spannungs-verhältnis zwischen Amerika und Europa.

Stilistisch prägend für die Texte von Blass sind Ironie und Empathie, Nähe und Distanz, Kenntnisreichtum und Neugier. Das sind alles Eigenschaften, die für einen Filmkritiker Voraussetzungen für seine Tätigkeit sein sollten. Blass verfügt über sie.

Meist wurden von Blass unter der Rubrik „Die Filme der Woche“ mehrere Titel rezensiert. Sein Blick war auf die internationale Produktion gerichtet, er schätzte amerikanische Komiker (Chaplin, Keaton, Lloyd), die Lubitsch-Filme aus Hollywood, Griffith („der beste amerikanische Regisseur“), auch Filme aus Frankreich oder Schweden. Sehr positiv beurteilte er den russischen Film DER LEBENDE LEICH-NAM von Fedor Ozep, zweimal würdigte er Eisensteins PANZER-KREUZER POTEMKIN: einmal nach der deutschen Erstaufführung im Apollotheater im April 1926 („Ein herrliches Werk“), zwei Jahre später nach der Vorführung der russischen Originalfassung im Tauentzien-Palast („Dies innigste und monumentalste, wirklichste und mythos-wuchtigste, wärmste und wahrste aller Lichtspiele“).

Sehr lesenswert ist seine ausführliche Rezension des Films DER HEI-LIGE BERG mit dem Schluss: „Was als Außenphotograph Dr. Arnold Fanck in diesem Ufa-Film schuf, ist höchster Bewunderung wert. Die weibliche Hauptrolle hat Leni Riefenstahl, die Tänzerin. Wie ihre Rolle hat sie viel Verschwommenes und Unbegründetes im Ausdruck. Die Begleitmusik ist von Edmund Meisel.“ (BT, 18.12.26). Oder, noch ein Zitat, zur Darstellung von Werner Krauß in GEHEIMNISSE EINER SEELE von G. W. Pabst: „Nicht eine Meisterleistung, sondern ein Wunder ist der Neurotiker von Werner Krauß. Zum Tiefsten gehörig, was Schauspielkunst geben kann. Nicht nur ein Chemiker mit seinem Zwangs­impuls, sondern der Mensch mit seinem Schicksal. Wenn er schreiend aus dem vergessenen Traum auffährt, so scheint (im stummen Film) der Schrei einer ganzen Menschheit ausgestoßen zu werden. Die Urangst über die unheimlichen Dinge um uns und in uns zittert, beherrscht sich, windet sich, quält sich, und bricht aus in seinen Mienen und Gesten. Eine der wahrsten Menschen­gestaltungen, völlig erschütternd.“ (BT, 25.3.26).

Immer wieder nennt Blass Kinos, in denen er einen Film gesehen hat, manchmal ist er auch bei der Eröffnung eines neuen Kinos dabei. Zum Beispiel im November 1926 im Phoebus-Palast: „Die Eröffnung des neuen Lichtspielhauses stand nicht nur unter dem üblichen Unstern. Auch die Vogelzeichen waren schlecht. Die Vögel kamen links vom Anhalter Bahnhof angeschwirrt, aus der Möckernstraße. (…) Wie gern hätte ich den besten Lichtspieldirektor Berlins, Hanns Brodnitz, bei dieser Gelegenheit gefeiert, wie gern das stärkste Regietalent des deutschen Films, Joe May, nachdrücklich und gerührt verkündet. Aber die Chronistenpflicht ist unnachläßlich. Es war ein Film, der über zwei Stunden anhielt und wie eine Eisenbahn nicht von der Stelle kam.“ Dann folgt die Kritik des Films DAGFIN (BT, 21.12.1926).

Häufig schaute sich Blass Filme im zeitlichen Abstand noch einmal an, fand seine ersten Eindrücke bestätigt oder korrigierte sie. So schreibt er 1925 über DAS CABINET DES DR. CALIGARI: „Wieder ist die Wirkung sehr stark. Die unheimlichen Morde, der Somnambule mit dem langen Messer und den irren Augen (Veidt), der alte, wahnsinnige Hexen-meister des Werner Krauß, das Irrenhaus mit dem gefährlichen Arzt hinter den Büchern, die verfolgenden Schriftzeichen ‚Du mußt Caligari werden’ – hier ist Meisterliches gelungen. (…)“. Und erweitert am Ende den Rückblick: „DIE BERGKATZE von Ernst Lubitsch (U.T. Kurfürstendamm) gefiel mir beim Wiedersehen weit besser als seinerzeit. Die Fülle kinematographischer Details und technisch gekonnter Episoden, die optische Mobilität und der Sinn für den Apparat entschädigt für den anfechtbaren Stoff.“  Anders erging es dem Rezensenten bei BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT, am Ende eines langen Textes ein Jahr nach der Premiere heißt es: „Der Film und Berlin kommen hier nicht zusammen. Der Film dichtet der Stadt sein Wesen an. Er ist das, was er von Berlin behauptet.“ (BT, 22.7.28).

Drei Nachrufe sind dokumentiert: einer gilt dem schwedischen Regisseur Mauritz Stiller (Die literarische Welt, 23.11.28), in einem zweiten werden Lupu Pick und Friedrich Wilhelm Murnau gewürdigt (Die literarische Welt, 20.3.31). Ein Text rezensiert die Publikation „Der Geist des Films“ von Béla Balázs: „Ein kenntnis­reiches und beschwingtes Buch voll kunstphilosophischer und soziologischer Bemerkungen, das in doppeltem Sinn den Film als die Kunst des Sehens auffaßt. Das Sehen bedeutet hier zuerst die Sehschärfe des Kamera-auges; zum zweiten den marxistischen Realismus.“ (Die literarische Welt, 8.5.31).

In essayistischer Form äußert sich Blass über die Filmkritik (BT, 22.7.25), das Lichtspieljahr 1928 (Die literarische Welt, 31.5.29), die Frau im Lichtspiel (Illustrierte Filmzeitung, 11.7.29), die Schau-spielerin Elisabeth Bergner (Das jüdische Magazin, November 29), die Wende vom Stummfilm zum Tonfilm (Die literarische Welt, 5.9.30). Der letzte Text widmet sich dem Thema „Wie man im Theater und Kino sitzen soll“ (Die literarische Welt, 10.2.33).

Angela Reinthal nennt ihre Textauswahl „repräsentativ“. 147 Beiträge sind im Band enthalten, 324 umfasst das Gesamtœvre des Autors zum Film. Wenn man Gero Ganderts „Handbuch der zeitgenössischen Kritik“ des Jahres 1929 zur Hand nimmt, findet man dort immerhin 13 Blass-Texte, die für das neue Buch nicht ausgewählt wurden. Schade finde ich das bei ASPHALT von Joe May und JENSEITS DER STRASSE von Leo Mittler. Aber jede Auswahl ist auch subjektiv, und endlich habe ich mich wieder einmal in Geros Handbuch festgelesen und es ist mir erneut bewusst geworden, was für eine Wahnsinnsarbeit er in dieses Buch investiert hat.

Zu hoffen ist, dass in den nächsten Jahren eine Gesamtausgabe der filmkritischen Texte von Ernst Blass publiziert wird. Dieser Band könnte dafür die Initialzündung sein.

Ein sehr persönliches Geleitwort stammt von Dieter Kosslick, der sich in die Gedankenwelt von Ernst Blass eingefühlt hat.

Zehn gut ausgewählte Plakate sind über das Buch als Abbildungen verteilt. Coverabbildung: Plakatmotiv zu dem Film DIE ROTE TÄNZERIN VON MOSKAU (1928).

Mehr zum Buch: http://www.elfenbein-verlag.de