Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Februar 2021

Dieter Kosslick
Immer auf dem Teppich bleiben
Von magischen Momente und der Zukunft des Kinos
Hamburg, Verlag Hoffmann & Campe 2021
336 S., 25,00 €
ISBN 978-3-455-00360-4

Dieter Kosslick:
Immer auf dem Teppich bleiben.
Von magischen Momenten und der Zukunft des Kinos

Vom 1. Juni 2001 bis zum 31. Mai 2019 war er Direktor der Berlinale. Jetzt hat Dieter Kosslick seine Autobiografie publiziert. Sie ist ein Rückblick auf ein Leben mit den Stationen Pforzheim, München, Hamburg, Köln, Berlin und eine Reflexion über die Zukunft des Kinos.

Geboren 1948 in Pforzheim, aufgewachsen in dem Dorf Ispringen. Sein Vater starb, als er drei Monate alt war, nach einer Explosion auf einem Werksgelände. Seine Mutter wurde unterstützt von einer Bäckers-familie, in deren Haus sie wohnten. Der erste Film, den er im Alter von elf Jahren sah, war BEN HUR von William Wyler auf großer Leinwand in Pforzheim. Dort machte er 1969 sein Abitur und begann in München ein Studium der Zeitungswissenschaft, Pädagogik und Politik. Parallel arbeitete er als Werbetexter, machte das Magisterexamen und bekam ein Promotionsstipendium. Der Hamburger Journalist Manfred Bissinger wurde zu einem engen Freund und vermittelte einen Job als Redenschreiber für den Bürgermeister Hans-Ulrich Klose. Die Tätig-keit begann am 2. Januar 1979 im Hamburger Rathaus.

Natürlich erzählt Dieter Kosslick seine Lebensgeschichte nicht chro-nologisch. Es gibt drei Teile: I. Die Hand auf der Klinke. II. Mit rotem Schal und schwarzem Barbisio – Berlinale-Geschichten. III. Thursday for Future. Kindheit, Jugend, Studium, Wechsel nach Hamburg sind weitgehend im ersten Kapitel platziert. Aber auch da gibt es schon Berlinale-Geschichten. Zum Beispiel das Procedere der Übergabe von Moritz de Hadeln an Kosslick, den 11. September 2001 bei der Film-auswahl in L.A., die Eröffnung der Berlinale 2002. Wichtige Erinne-rungen sind dann der politischen Situation in Hamburg in den 80er Jahren, dem Hamburger Filmbüro, dem Wechsel 1992 zur Film-förderung in Nordrhein-Westfalen gewidmet. Sie sind faktenreich und gut erzählt.

13 Texte bilden den Korpus des zweiten Teils, beginnend mit dem iranischen Filmemacher Jafar Pahani, der 2011 in die Jury berufen war, aber nicht ausreisen durfte. Sein „Liebesbrief ans Kino“, der damals von der Jury-Präsidentin Isabella Rossellini verlesen wurde, eröffnet das Kapitel. Erzählt werden die erste Begegnung mit Clint Eastwood, die Präsenz der Rolling Stones mit Martin Scorseses Film SHINE A LIGHT 2008, die Vergabe des Goldenen Bären an den süd-afrikanischen Film U-CARMEN EKHAYEKITSCHA von Mark Dorn-ford-May 2005, die Wirkung des Films FOOD, INC. von Robert Kenner 2008 im Rahmen des Kulinarischen Kinos, ein Besuch beim Bolly-wood-Star Shah Rukh Khan und sein Auftritt im Friedrichstadt-Palast 2012, die Rolle der Flughäfen Tempelhof und Tegel für den Empfang der Gäste, eine Reise zu den Filmfestspielen 2006 in Pjöng-jang, die Suche nach den Jury-Präsidentinnen Mira Nair (2002), Frances McDormand (2004), Charlotte Rampling (2006), Tilda Swinton (2009), Meryl Streep (2016), Juliette Binoche (2019), das Werben um Anouk Aimée als Ehrengast 2003, das Tauziehen um Fidel Castro als Präsentator des Films COMANDANTE von Oliver Stone und – mit großer Empathie – die Kooperation mit der Moderatorin Anke Engelke bei den Eröffnungen und Preisverleihungen der Berlinale.

Den dritten Teil, „Thursdays for Future“, eröffnet ein Zitat des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier: „Kino ist unverzichtbar für die Demokratie.“ (Juni 2020). Die 15 Texte handeln von den Veränderungen des Kinos, von Netflix, dem Zoo Palast, digitalen Festivals in Corona-Zeiten, Umweltveränderungen mit der Folge des „Green Production Guide“, der Filmförderung in Deutschland und dem Grünen Teppich bei der Berlinale 2019. Auch hier findet man viele Informationen, die nicht zum Allgemeinwissen gehören.

Das Nachwort – „Der Vorhang schließt sich“ – ist nicht nur eine per-sönliche Verabschiedung, sondern vermittelt noch eine spezielle Erfah-rung: wie Filme für den Wettbewerb abhanden kommen, wenn das weit entfernte China „technische Probleme“ nennt. So geschehen bei ONE SECOND von Zhang Yimou. Und auch der zweite chinesische Film, BETTER DAYS von Derek Tsang, wurde zurückgezogen, weil er nicht fertig geworden sei. Ein bitteres Abschiedsgeschenk für den scheidenden Berlinale-Chef 2019.

Dieter Kosslicks Autobiografie beschreibt vor allem die Bereiche Kino und Kulinarik. Dies geschieht oft assoziativ, manchmal anekdotisch und in der Regel sehr anschaulich. Wenn er auf Filme zu sprechen kommt, und dies tut er häufig, dann sind die Passagen konkret und präzise. Die Lektüre ruft viele Momente der Berlinale in Erinnerung, führt aber auch weit darüber hinaus in die Geschichte der deutschen Filmförderung und der europäischen Verknüpfung, an der Kosslick einen hohen Anteil hat. Immer ist spürbar, dass er vor der Übernahme von Verantwortung nicht zurückschreckt.

Ich habe mit Dieter in den Jahren 2003 bis 2006 als Leiter der Retro-spektive eng zusammengearbeitet. Die Themen waren damals Friedrich Wilhelm Murnau, New Hollywood, Production Design und Traumfrauen. In der Auswahl hatten wir eine große Freiheit, die Kommunikation war ganz anders als bei seinem Vorgänger Moritz de Hadeln. Auch geografisch gab es eine Nähe: die Büros der Berlinale waren gegenüber von unserem Filmhaus.

Die Autobiografie habe ich mit großem Interesse gelesen, in der positi-ven Beurteilung fühle ich mich nicht befangen. Eine eher traurige Pointe ist, dass dieses Buch im Februar erschienen ist, in dem keine Berlinale stattfindet. Sie wurde coronabedingt zweigeteilt auf die Monate März (intern) und Juni (mit Publikum) verschoben. Also lenkt das Festival nicht von der Lektüre des Buches ab. Der Autor hat viel Arbeit in seine Autobiografie investiert. Aber das hat sich gelohnt, lieber Dieter.

Mit einem 16seitigen Abbildungsteil.

Mehr zum Buch: immer-auf-dem-teppich-bleiben-buch-14664/