Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
März 2021

Irmbert Schenk
Geschichte des italienischen Films
Cinema Paradiso?
Marburg, Schüren Verlag 2021
328 S., 34,00 €
ISBN 978-3-7410-0370-7

Irmbert Schenk:
Geschichte des italienischen Films.
Cinema Paradiso?

Bekannt sind vor allem der Neorealismus und das goldene Zeitalter des italienischen Films: die 1960er Jahre. Aber das Land gehörte von Anfang an zu den großen europäischen Filmnationen. Es ist erstaun-lich, dass es bei uns bisher keine Gesamtdarstellung seiner Geschichte gab. Die legt jetzt Irmbert Schenk in einem beeindruckenden Buch vor.

Sieben Kapitel strukturieren das Buch: 1. Der Stummfilm von 1895 bis in die 1910er Jahre. 2. Film und Kino nach dem Ersten Weltkrieg und im Faschismus. 3. Neorealismus. 4. Die 1950er-Jahre. 5. Der Aufbruch des italienischen Kinos um 1960. 6. Krise und Neuanfang des italieni-schen Kinos (1980-2000). 7. Das Kino der Gegenwart (2000-2020). Jedes Kapitel beginnt mit einem historischen Überblick, in dem die politische und soziale Situation des Landes skizziert wird.

Historien- und Monumentalfilme prägten die Frühgeschichte des italienischen Films, beispielhaft DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI von Mario Caserini und QUO VADIS? Von Enrico Guazzoni (beide 1913). Ein Höhepunkt war CABIRIA (1914) von Giovanni Pastrone, die Geschichte eines Mädchens im dritten Jahrhundert vor Christus, das einen Vulkanausbruch des Ätna und den zweiten Punischen Krieg überlebt. In den 1910er Jahren gab es die ersten Stars im italienischen Film: Francesca Bertini, Lyda Borelli, Mary Cléo Tarlarini. Die berühmte Eleonora Duse spielte nur in einem einzigen Film mit.

Die Zeit zwischen 1918 bis 1945 gilt als Krisenzeit des italienischen Films. Vor allem die 1920er Jahre waren im Gegensatz zum deutschen Film der Weimarer Republik in künstlerischer Hinsicht ein Nieder-gang. In den 30er Jahren gab es viele Unterhaltungsfilme, die den Hollywood-Importen Konkurrenz machen sollten. Benito Mussolini wurde zu einem Star der Wochenschau.

Als Opposition gegen den Faschismus entwickelte sich im Film und in der Literatur ab 1943 der Neorealismus, der die „Alltagswirklichkeit der einfachen Menschen“ in der Kriegs- und Nachkriegszeit abbilden sollte. Drei Regisseure stehen hier im kreativen Zentrum: Roberto Rossellini (ROMA, CITTÀ APERTA, 1945, PAISÀ, 1946), Vittorio De Sica (LADRI DI BICICLETTE, 1948, UMBERTO D., 1952), Luchino Visconti (OSSESSIONE, 1943, LA TERRA TREMA, 1948). Schenks Beschreibungen neorealistischer Filme sind sehr differenziert. Auch die internationale Resonanz des Neorealismus wird thematisiert.

In den 1950er Jahren setzt sich der Neorealismus fort, es gibt neue Erscheinungsformen der Komik und zwei „Newcomer“ betreten die Filmszene: Federico Fellini und Michelangelo Antonioni.

Das umfangreichste Kapitel (90 Seiten) ist den 1960er Jahren gewid-met, also dem „goldenen Zeitalter“, und den 1970ern. Einerseits werden die Klassiker von Antonioni, Fellini und Visconti gewürdigt, andererseits kommen neue Protagonisten ins Spiel: Pier Paolo Pasolini und Francesco Rosi, Gillo Pontecorvo als „Ausnahmeerscheinung“ und Mauro Bolognini, Bernardo Bertolucci und Marco Bellocchio als Vertreter einer neuen Filmemacher­generation. Auch das Genrekino jener Jahre wird berücksichtigt, ein ausführliches Unterkapitel ist dem Italo-Western gewidmet. Am Ende des Kapitels werden Filme von den Gebrüdern Taviani, Lina Wertmüller und Liliana Cavani gewürdigt.

Die 80er Jahre gelten als Krisenzeit des italienischen Films, die Kinos verlieren deutlich an Zuschauern, es gibt eine engere Zusammenarbeit mit dem Fernsehen, aber kaum ästhetische Innovationen. Das ändert sich erst am Ende des Jahrzehnts, als die ersten Filme von Nanni Moretti, Gianni Amelio, Francesca Archibugi und Cristina Comencini ins Kino kommen. International berühmt wird der Film CINEMA PARADISO von Giuseppe Tornatore, der 1989 mit dem Auslands-Oscar ausgezeichnet wird. Er erzählt die Geschichte eines Film-regisseurs, die eng mit Erinnerungen an das Kino in seinem Heimatort in Sizilien verbunden ist. Der Filmtitel, verbunden mit einem Fragezeichen, ist der Untertitel des Buches von Irmbert Schenk.

Im siebten und letzten Kapitel richtet der Autor seinen Blick auf das italienische Kino der vergangenen zwanzig Jahre. Die digitalen Veränderungen sind folgenreich, die staatliche Filmförderung ist lückenhaft. Moretti, Amelio, Archibugi, Comencini, Tornatore können ihre Arbeit fortsetzen. Für eine spezielle Komik sorgt weiterhin Roberto Benigni. Newcomer sind Marco Tullio Giordana, Matteo Garron, Paolo Sorrentino und Alice Rohrwacher. Die Vielfalt der Genres ist erstaunlich, die Vorlieben des Publikums sind kaum berechenbar, Prognosen für das neue Jahrzehnt fallen schwer. Aber ein historischer Rückblick muss nicht unbedingt mit einem Blick in die Zukunft enden.

Irmbert Schenk (*1941) war bis 2006 Professor für Medienwissen-schaft an der Universität Bremen, gehörte zu den Mitbegründern des Kommunalen Kinos der Stadt und hat zahlreiche Bücher zur Film- und Mediengeschichte publiziert. Die Stärke seiner Texte liegt in der Kon-kretisierung von Analysen und Beschreibungen, die sich nie in definito-rischen Labyrinthen verirren. Vor die Aufgabe gestellt, eine nationale Filmgeschichte in überschaubarem Umfang zu formulieren, konnte der Autor von seinem immensen Wissen über den italienischen Film profitieren und seine Fähigkeit zu präzisen, pointierten Formulie-rungen beweisen. Das Ergebnis ist ein Beitrag zur filmhistorischen Basisliteratur.

Ein Namensregister erleichtert die gezielte Suche nach Personen des italienischen Kinos.

Coverfoto: Marcello Mastroianni und Anita Ekberg in LA DOLCE VITA / DAS SÜSSE LEBEN (1960) von Federico Fellini.

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