Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
1972
Filmbuch des Jahres

Jerzy Toeplitz
Geschichte des Films
Band 1: 1895-1928
Henschel, Berlin/DDR 1972
Rogner & Bernhard, München 1973
609 S. 59 DM

Jerzy Toeplitz:
Geschichte des Films

Der polnische Filmhistoriker Jerzy Toeplitz (1909-1995) verfasste in vierzig Jahren sein Mammutwerk zur internationalen Filmgeschichte. Ein Alleingang, den sich heute wohl niemand mehr zutrauen würde. Der erste Band behandelt auf 600 Seiten die Geschichte des Stumm-films. Es geht vor allem um die Industrie, die Politik und das Publikum. Wilhelm Roth: „Toeplitz’ Buch will ausdrücklich keine Geschichte der Filmkunst sein. Die Gesellschaft, aus der die Filme hervorgehen und auf die sie einwirken, wird in die Darstellung miteinbezogen. Und hier ist Toeplitz’ Stärke: Je weniger das Buch von Filmen handelt, desto besser wird es.“ (Filmkritik, April 1973). Klingt ein bisschen absurd, wird aber dem eigenen Anspruch des großen polnischen Filmhistori-kers gerecht. 1991 erschien der fünfte und letzte Band des Werkes, der die Jahre 1945 bis 1952 behandelt.

Ulrich von Thüna, Kenner und Sammler der europäischen Film-literatur, hat für die Neue Zürcher Zeitung eine ins Grundsätzliche gehende Rezension des ersten Toeplitz-Bandes geschrieben, die ich hier ausführlich zitiere, weil sie viel über die filmkritische Perspektive der sechziger Jahre vermittelt:

„Seit Anfang letzten Jahres sind verhältnismäßig wenige Filmneuer-scheinungen aus Verlagen der DDR zu verzeichnen, darunter freilich ein Buch, das umso gewichtiger ist und Aufmerksamkeit verlangt; der seit vielen Jahren angekündigte erste Band der ‚Geschichte des Films‘ von Jerzy Toeplitz, von Lili Kaufmann übersetzt und redigiert, liegt nun als hervorragend ausgestatteter und intelligent bebilderter Band von 609 Seiten beim Henschel-Verlag vor. Eine wesentlich teurere Teilauflage erschien als Lizenzausgabe für die Bundesrepublik beim Rogner & Bernhard-Verlag in München.

Mit großen Erwartungen nimmt man das Buch in die Hand. Toeplitz ist Professor an der polnischen Filmhochschule in Lodz und als vorzüg-licher Kenner des internationalen Films ausgewiesen. Seine Film-geschichte ist denn auch sehr verlässlich gearbeitet. Eine systematische Überprüfung einiger Kapitel ergab eine angesichts der bekannten Unzuverlässigkeit der Filmliteratur hohe Genauigkeit. Auch die reichlichen Literaturangaben und Nachweise, erfreulicherweise am Fuß der Seite und nicht wie heute beliebt am Ende des Buches, stimmen in der Regel. Die Zitierweise ist allerdings uneinheitlich. (…). Die Bibliographie ist vorzüglich.

Was den Inhalt des Werkes betrifft, so erweist sich ein Blick auf die Genesis dieser ‚Geschichte des Films‘ als nötig. Die zwei Bände der polnischen Ausgabe, die jetzt in einem Band der deutschen Ausgabe zusammengefasst worden sind, erschienen 1955 und 1956. Das war vor dem polnischen Oktober. Der Text litt sehr unter dem Klima jener Jahre. Ab und zu spukte die Verteufelung des Formalismus und der Dekadenz durch die Zeilen. Besonders schlecht erging es den Genossen Dsiga Wertow, Kosinzew und Trauberg und auch Sergei Eisenstein.

Das ist noch jetzt spürbar, obschon die deutsche Ausgabe nicht nur wesentlich erweitert, sondern auch in Teilen korrigiert und neu formuliert worden ist. Laut dem Vorwort ist nicht die Grundkonzeption geändert worden, aber doch die Vergangenheit jetzt aus der Perspek-tive der siebziger Jahre gesehen. In diesem Vorwort charakterisiert Toeplitz auch seine beiden Grundsätze für die Arbeit des Filmhisto-rikers: es müsse verfolgt werden, wie der Film als Widerspiegelung der Wirklich-keit helfe, diese Wirklichkeit zu erkennen, und zugleich müsse der Film von Seiten der Konsumenten als Dialog zwischen den Schöpfern und den Zuschauern gesehen werden. Toeplitz überzeugt am meisten, wenn er diesen Grundsätzen folgt und einmal im Sinne der Widerspiegelungstheorie (über Kracauer ist offenbar die Filmtheorie noch nicht hinausgekommen!) nach der diese Filme produzierenden Gesellschaft fragt und ebenso die Wirkungen der Filme untersucht. Hierfür trägt er eine Unmenge von Material zusammen Der unvoll-endet gebliebenen großen Filmgeschichte von Georges Sadoul, von der fünf Bände erschienen sind und in der Sadoul ähnliche Ziele anvisiert, ist er durch größere Genauigkeit überlegen. Die Darstellung des Umfeldes der Filme berücksichtigt erfreulicherweise nicht nur filmwirtschaftliche und filmpolitische Gegebenheiten, sondern auch die Filmtheorie. Die wichtigsten Theoretiker der zwanziger Jahre, Cabudo, Delluc, Balázs, werden vorgestellt und eine Übersicht über ihre filmtheoretischen Überlegungen wird gegeben.

Die Gewichtung der einzelnen Filmländer lässt dagegen eher zu wünschen übrig, insbesondere die unzureichende Darstellung des amerikanischen Films der zwanziger Jahre. Zwar bekommt der ‚Liebling von Millionen‘, also Chaplin, ein ganzes Kapitel, aber der kurze Text in der einbändigen Filmgeschichte von Gregor und Patalas beschreibt besser das Genie und die Technik Chaplins, als es die langen Ausführungen bei Toeplitz vermögen. Durchaus schwach sind auch die Darstellungen von Harry Langdon, Buster Keaton  und Harald Lloyd. Langdon erhält eine Einschätzung von dreizehn Zeilen Länge, Keaton bekommt eine Seite und Lloyd eine halbe. Das ist schon räumlich zu wenig für diese führenden Komödienautoren, die ja auch soziologisch und massenpsychologisch interessant sind. Auch die amerikanische Karriere von Lubitsch wird unbefriedigend dargestellt, und ob Lubitsch wirklich der Konformist war, als den ihn Toeplitz ansieht, ist sehr die Frage.

Formale Analyse ist nicht Toeplitz‘ Stärke (unzureichend auch der Abschnitt über Griffith, dagegen hatte er mehr Zugang zu Sternberg), und die zu recht ausführliche Schilderung des sowjetischen Films leidet unter der noch von der polnischen Ausgabe herrührenden Abgrenzung gegenüber dem, was man in Osteuropa Formalismus nennt. Immerhin bemüht sich Toeplitz um eine vernünftige Einschätzung etwa von Eisensteins und Pudowkins Auseinandersetzung mit dem Formalis-musvorwurf, und dass man über die machtpolitischen und ideologi-schen Kämpfe beispielsweise vor der Allunionskonferenz von 1928 in Leydas hervorragender ‚History of the Russian and Soviet Film‘ objektiver informiert wird, ist bei einem Werk mit dem Erschei-nungsort Ostberlin zwar nicht entschuldbar, aber begreiflich (darüber hinwegzugehen wäre ebenso unentschuldbar).

Auch hätte man sich gerade bei dem filmsoziologischen Blickwinkel des Werkes eine stärkere Berücksichtigung des massenwirksamen Films, also des Unterhaltungsfilms, gewünscht. Vielleicht kann der Verfasser dies bei den geplanten weiteren drei Bänden noch berücksichtigen. Alles in allem jedenfalls eine höchst materialreiche, trotz gewisser Einschränkungen (und einer eigentümlich matten und gelegentlich präzeptorenhaften Sprache) wertvolle Filmgeschichte, der in England, Frankreich und Deutschland gegenwärtig nichts Vergleichbares an die Seite zu setzen ist und die mit Recht ein Standardwerk für Filminter-essierte und Bibliotheken werden wird.“

Ulrich von Thüna in: Neue Zürcher Zeitung, 27. Oktober 1973