Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
August 2016

Claudia Dillmann/Olaf Möller (Hg.)
Geliebt und verdrängt
Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963
Frankfurt am Main, Deutsches Filminstitut DIF 2016
416 S., 24,80 €
ISBN 978-3-88799-089-3

Claudia Dillmann/Olaf Möller (Hg.):
Geliebt und verdrängt.
Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963

Einerseits galt und gilt der bundesdeutsche Film der 1950er Jahre als bieder und hoffnungs­los veraltet. Joe Hembus schrieb 1961 in seiner Polemik „Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“: „Er ist schlecht. Es geht ihm schlecht. Er macht uns schlecht. Er wird schlecht behandelt. Er will auch weiterhin schlecht bleiben.“ Diese Ein-schätzung hat sich tradiert. Anderseits entstanden zwischen 1949 und 1963 in der Bundesrepublik über tausend Filme. Und wenn man heute auf sie zurückblickt, erweisen sich viele besser als ihr Ruf. Zur Retro-spektive in Locarno hat das Deutsche Filminstitut einen Katalog publiziert, der neue Bewertungen wagt. 32 Texte verbunden mit zahlreichen Fotos regen zu einer differen­zierteren Sicht auf das Kino jener Zeit und auf das frühe Fernsehen an.

„Adenauerland“ heißt der Einleitungstext des Co-Herausgebers Olaf Möller, der an einzelne Filme jener Zeit erinnert und auf die für ihn wichtigsten Beiträge verweist. Für Möller zeigt sich aus heutiger Sicht, „dass die jungen Bundesrepublik entschieden anders war, als einen die allseitig geläufigen Klischees glauben machen wollen. Sie war z.B. kein monolithischer Block, den dann die Sixties sprengten. Das Kino war auch bei weitem nicht so provinziell, wie man im Nachhinein oft behauptete. Vor allen Dingen aber war das Kino der jungen Bundes-republik nicht so harmoniesüchtig und zahm, wie es gemeinhin kolportiert wird.“

Die Co-Herausgeberin Claudia Dillmann erinnert in ihrem Beitrag an die Produktions­bedingungen des Adenauer-Kinos, die sich fundamen-tal von der heutigen Situation unter­schieden, in der die verschiedenen Förderungen und die Co-Produktion mit dem Fernsehen als Finanzie-rungsbasis unverzichtbar sind. Das Firmenarchiv von Artur Brauner, das im DIF verwahrt wird, liefert der Autorin die Belege für den Balanceakt zwischen Risiko und Sicherheit, auf den ein Produzent sich damals einlassen musste. Sie verweist auf kommer­zielle und künstlerische Erfolge, die sich summiert haben.

Bei Lars Henrik Gass geht es um die „Manifeste vor Oberhausen“: die Streitschrift „Rettung des deutschen Films“ (1951) von Wolfdietrich Schnurre, die Seminare von Walter Hagemann am Institut für Publi-zistik der Universität Münster, die u.a. von Frieda Grafe, Theodor Kotulla, Enno Patalas und Heinz Ungureit besucht wurden, die von Hagemann herausgegebenen „Filmstudien“, die Zeitschrift film 56 und die Gründung der Filmkritik 1957, die Filmclub­bewegung in den 50er Jahren und schließlich die Publikation der beiden Bücher „Kunst oder Kasse“ von Walther Schmieding und „Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“ von Joe Hembus.

Vier Beiträge, die den Blick auf die Zeit erweitern, stammen dann von Ralph Eue (über die Re-Education-Bewegung durch den Film in den späten vierziger und den fünfziger Jahren), Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen (über den Sammler und Filmemacher Rudolf Werner Kipp, den Filmemacher Ekkehard Scheven, den Dokumentarfilmregisseur Herbert Viktor und den Spielfilmregisseur Raphael Nussbaum, die heute weitgehend vergessen sind), Fabian Tietke (über den westdeut-schen Animationsfilm von 1945 bis 1963) und von Rudolf Worschech (über die kreative Kameraarbeit von Werner Krien, Friedl Behn-Grund, Göran Strindberg, Igor Oberberg, Heinz Pehlke und ihre technische Ausstattung).

Fünf Beiträge beschäftigen sich mit Spielfilmgenres, die damals besonders erfolgreich waren: Heimatfilm (Fritz Tauber unternimmt den Versuch der Systematisierung eines Phänomens, Jörg Gerle schafft Verbindungen zwischen dem Heimatfilm und den damaligen Kultur-filmen von Bernhard Grzimek und Heinz Sielmann), Melodram (Werner Sudendorf schreibt auf seine wunderbar ironische Art über NACHTWACHE, ES KOMMT EIN TAG, DR. HOLL, DAS LETZTE REZEPT, DIE GROSSE VERSUCHUNG, EIN HERZ SPIELT FALSCH, BIS WIR UNS WIEDERSEH’N und UNSTERBLICHE GELIEBTE), Kriminalfilm (Peter Ellenbruchs Essay handelt von Fälschern, Schmugglern, Mördern und Monstern, und von den verschiedenen Phasen des deutschen Kriminalfilms nach 1949), Kriegsfilm (Marcus Stiglegger beginnt seinen sehr klugen Text mit dem ARZT VON STALINGRAD und CANARIS und endet mit Bernhard Wickis DIE BRÜCKE). Ein Beitrag über Komödien und Schlagerfilme fehlt. Dafür gibt es einen lesenswerten Text von Stefanie Mathilde Frank über Remakes von Spielfilmen aus der Zwischenkriegszeit am Ende der 1950er Jahre, bei denen es sich oft um Komödien handelte.

Der umfangreichste Text stammt von Dominik Graf. Er ruft einige Männerbilder und ihre Darstellungsform im westdeutschen Nach-kriegsfilm in Erinnerung. Ausführlicher geht er auf Robert Graf (Dominiks Vater), Rudolf Prack, Dieter Borsche, O. W. Fischer, Curd Jürgens, Viktor de Kowa, Carl Raddatz, Horst Buchholz, Hannes Messemer, Joachim Fuchsberger, Hansjörg Felmy, Mario Adorf, Klaus Kinski und Horst Frank ein. Er beschreibt sehr sensibel die unter-schiedlichen schauspielerischen Mittel, die sie in ihren Rollen eingesetzt haben. Dies ist einer der zentralen Texte der Publikation.

Sehr lesenswert ist auch der Beitrag von Rainer Knepperges: „Mamas Kino lebt!“. Aus­gehend von der Chefin des Gloria-Filmverleihs, Ilse Kubaschewski, charakterisiert der Autor beeindruckende deutsche Schauspielerinnen der 50er Jahre. Dies sind für ihn u.a. Hilde Krahl, Ruth Leuwerik, Hildegard Knef, Brigitte Grothum, Inge Egger, Barbara Rütting, Nadja Tiller, Marianne Koch, Ingrid van Bergen, Karin Baal, Elke Sommer, Karin Dor, Margit Saad, Sonja Ziemann. Schöne, liebevolle Beschreibungen geben dem Text seine Stärke.

Sechs Beiträge sind im eigentlichen Sinne Porträts, also einzelnen Personen gewidmet. Stefanie Plappert skizziert das Lebenswerk von Victor Vicas, der in Deutschland u.a. die Filme WEG OHNE UMKEHR (1953), JONS UND ERDME (1959) und ZWEI UNTER MILLIONEN (1961, zusammen mit Wieland Liebske) gedreht hat. Die Autorin erinnert in ihrem Text auch an die von Ronny Loewy kuratierte Vicas-Ausstellung im Deutschen Film­museum. – Hervé Dumont, der ein beeindruckendes Buch über Robert Siodmak publiziert hat („Le maître du film noir“, 1990), informiert über Siodmaks Rückkehr aus dem Exil nach Deutschland und seine Filmarbeit von 1955 (DIE RATTEN) bis 1969 (KAMPF UM ROM). – Fabian Schmidt macht in seinem Beitrag über Frank Wisbar und dessen durchs Exil unter­brochene Karriere neugierig auf die Filme BARBARA – WILD WIE DAS MEER mit Harriet Andersson und DURCHBRUCH LOK 234 mit Erik Schumann. – Jennifer Lynde Barker porträtiert den Animationsfilmer Hans Fischerkoesen, Norbert Pfaffenbichler den Avantgarde­filmer Franz Schömbs und Thorsten Krämer den Film- und Fernsehregisseur Michael Pfleghar.

In vier Beiträgen wird auf internationale Aspekte eingegangen. Uwe Mies beschreibt Expeditionen des westdeutschen Films nach Afrika mit dem Dokumentarfilm SERENGETI DARF NICHT STERBEN und dem Spielfilm LIANE – DAS MÄDCHEN AUS DEM URWALD, nach Indien mit Zweiteilern von Veit Harlan und Fritz Lang, nach Amerika und den vorderen Orient mit Karl-May-Filmen und macht darauf aufmerksam, dass zumindest vier deutsche Schauspieler international Karriere gemacht haben: Hardy Krüger, Horst Buchholz, Gert Fröbe, Curd Jürgens. HT Nuotio berichtet über die Erfolge des westdeutschen Nachkriegs­kinos in Finnland. Marco Grosoli erinnert an italienische Filme, die in Deutschland spielten, zum Beispiel LA PAURA von Roberto Rossellini, I SEQUESTRATI DI ALTONA von Vittorio de Sica und I MAGLIARI von Francesco Rosi. Chris Fujiwara beschäftigt sich mit der Bundesrepublik Deutschland als Schauplatz in amerikanischen und britischen Filmen: THE BIG LIFT von George Seaton, INTERLUDE von Douglas Sirk, TOWN WITHOUT PITY von Gottfried Reinhardt, THE MAN BETWEEN von Carol Reed, ONE TWO THREE von Billy Wilder u.a.

Zweimal richtet sich der Blick nach Osten, in die DDR: Ralf Schenk erinnert an deutsch-deutsche Koproduktionsversuche mitten im Kalten Krieg, gelungene (LEUCHTFEUER von Wolfgang Staudte) und nicht gelungene (BUDDENBROOKS von Alfred Weidenmann). Andreas Goldstein schreibt über Filme der DEFA, die in der Bundesrepublik spielten, zum Beispiel DAS VERURTEILTE DORF von Martin Hellberg, DER HAUPTMANN VON KÖLN von Slatan Dudow, FREISPRUCH MANGELS BEWEISES von Richard Groschopp und FOR EYES ONLY von János Veiczi. Beide Beiträge sind sehr informativ.

Zweimal geht es um Literatur und Film. Christoph Huber informiert in seinem Beitrag „Der Simmel-Komplex“ sehr differenziert über Literatur-verfilmungen in der Adenauer-Ära. Er benennt Stärken und Schwächen der Filme nach Romanen von Johannes Mario Simmel, Hugo Hartung, Heinz G. Konsalik, Hans Helmut Kirst, Herbert Reinecker und Hans-Ulrich Horster (d.i. Eduard Rhein). Ein sehr lesenswerter Text! Inter-essant ist auch der Beitrag von Carolin Weidner über „Junge deutsche Literatur und die Filmindustrie“. Hier stehen drei Beispiele zur Debatte: die konfliktreiche Verfilmung des Romans „Die Rote“ von Alfred Andersch durch Helmut Käutner, die Verfilmung des Romans „Der gläserne Turm“ von Wolfgang Koeppen durch Harald Braun und der Experimentalfilm JONAS von Ottomar Domnick mit Kommentaren von Hans Magnus Enzensberger.

Es ist erstaunlich, wie viele neue Erkenntnisse zu gewinnen sind, wenn sich Autorinnen und Autoren noch einmal genauer auf eine Phase der Filmgeschichte einlassen, die – in der Regel verfügbaren – Filme ohne Vorbehalte anschauen und dabei individuelle Entdeckungen machen. Natürlich darf man dabei nicht die Kontexte der Zeit außer Acht lassen. Aber es gehört zu den schönen Erfahrungen beim Umgang mit der Filmgeschichte, dass man manches aus zeitlichem Abstand anders sehen kann und sich auch nicht von einhelligen zeitgenössischen Verrissen beeinflussen lassen muss. Mein Respekt gilt den Kolleginnen und Kollegen in Frankfurt für diese Publikation.

Redaktion und Lektorat: Ines Bayer und Olaf Brill.

Coverfoto: SCHWARZER KIES (1961) von Helmut Käutner.