Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Februar 2022

Margarethe von Trotta
Gegenwärtig sein
Gespräche mit Thilo Wydra
Zürich, Kampa Verlag 2022
348 S., 24,00 €
ISBN 978-3-311-14035-1

Margarethe von Trotta:
Gegenwärtig sein .
Gespräche mit Thilo Wydra

Sie war eine herausragende Schauspielerin und gehört seit vierzig Jahren zu den prägenden Regisseurinnen des deutschen Films. Sie hat in vielen Städten gelebt, aber fühlt sich nirgendwo „zu Hause“. In diesem Monat kann Margarethe von Trotta ihren 80. Geburtstag feiern. Mit Thilo Wydra hat sie Gespräche über ihr Leben und ihre Filme geführt.

Es sind Gespräche auf Augenhöhe, denn Thilo Wydra hat vor zwanzig Jahren das Buch „Filmen, um zu überleben“ über Margarethe von Trotta geschrieben, das ihre Biografie und ihr Werk auf beeindrucken-de Weise erschließt. Das neue Buch folgt keiner Chronologie, sondern ist auf Themen und Personen fokussiert. Um „Heimat und Unbehaust-sein“ geht es im ersten Kapitel, um Kindheit und Jugend, frühe Lektüre von Franz Kafka, die ersten Aufenthalte in Paris. Dann steht ein großer Regisseur im Mittelpunkt: Ingmar Bergman. Seine Filme haben sie fasziniert, beginnend mit DAS SIEBTE SIEGEL und ABEND DER GAUKLER, die sie in Paris gesehen hat. Später sind sie sich in München persönlich begegnet und 2018 hat sie den Dokumentarfilm AUF DER SUCHE NACH INGMAR BERGMAN realisiert.

Zwei Kapitel sind Alfred Hitchcock gewidmet. Margarethes Lieblings-film von ihm ist VERTIGO, aber auch THE MAN, WHO KNEW TO MUCH, REAR WINDOW, SPELLBOUND und STRANGERS ON A TRAIN haben eine große Bedeutung für sie. PSYCHO hat sie zusam-men mit ihrer Mutter als ersten Hitchcock-Film gesehen. Begegnet ist sie ihm 1972 bei der Münchner Premiere von FRENZY. Und MARNIE hat ihren eigenen Film ICH BIN EINE ANDERE stark beeinflusst.

Ein sehr persönliches Kapitel heißt „Lebenslieben“. Hier wird über die Ehe mit dem Verlagslektor Jürgen Moeller und den gemeinsamen Sohn Felix, über das Kennenlernen von Volker Schlöndorff und die zwanzig-jährige Ehe mit ihm, über die Beziehung zu dem italienischen Festival-leiter Felice Laudadio, über Liebe, Freundschaft und Alleinsein gesprochen. Dann geht es um ihre Arbeit als Schauspielerin vor der Kamera, speziell mit den Regisseuren Schlöndorff, Fassbinder und Achternbusch, über die Unterschiede zwischen Kinofilmen und Fernsehfilmen. Mehr als zehn Jahre hat Margarethe von Trotta als Schauspielerin gearbeitet.

Zwei „Biopics“ stehen im Zentrum des folgenden Kapitels: ROSA LUXEMBURG und VISION – AUS DEM LEBEN DER HILDEGARD VON BINGEN. Das Luxemburg-Projekt übernahm sie von Fassbinder, es wurde ihr zur Herzenssache, wie auch Hildegard von Bingen, deren Biografie sie schon früh verfilmen wollte, aber erst 2009 realisieren konnte. Dann wird ausführlich über den Film DIE BLEIERNE ZEIT gesprochen, der eng mit dem Leben der beiden Schwestern Gudrun und Christiane Ensslin verbunden ist. Die eine schließt sich der Roten Armee Fraktion an, die andere engagiert sich als Frauenrechtlerin. Der Film gewann 1981 den „Goldenen Löwen“ des Filmfestivals in Venedig.

„Ideologie und Utopie“ ist die Überschrift des Kapitels, in dem es um Heinrich Böll, dIe Filme DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM (zusammen mit Volker Schlöndorff) und DAS ZWEITE ERWA-CHEN DER CHRISTA KLAGES geht. Der politische Hintergrund in der Bundesrepublik ist ein wichtiger Impuls für die künstlerische Arbeit. Sehr intensiv ist das Kapitel über den Film HANNAH AHRENDT (2012) mit Barbara Sukowa in der Titelrolle, über die Recherchen für das Drehbuch, das Margarethe zusammen mit Pamela Katz geschrie-ben hat. Im Mittelpunkt stehen die Jahre 1960 bis 1964 und der Eichmann-Prozess in Jerusalem.

Schauplatz des nächsten Kapitels ist Italien, speziell: Rom, wo Marga-rethe von 1987 bis 1994 gelebt und drei Filme gedreht hat: FÜRCHTEN UND LIEBEN, DIE RÜCKKEHR und ZEIT DES ZORNS. Es wird an viele Menschen erinnert, mit denen sie damals gearbeitet hat oder freundschaftlich verbunden war. Die Empathie dieses Kapitels ist bemerkenswert. Das letzte Kapitel macht neugierig auf einen Film, den es noch nicht gibt. Er handelt von Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Er wird hoffentlich in diesem Jahr gedreht.

Es sind 340 spannende Seiten, die uns mit dem Leben, der Arbeit, dem Denken und Fühlen von Margarethe von Trotta vertraut machen. Die Gesprächsform erweist sich als großer Vorteil, weil man bei der Lektüre spürt, wie Erinnerungsarbeit funktionieren kann, wenn sie im Dialog erfolgt. Thilo Wydra gibt nicht nur Stichworte, er bringt Zitate ein, stellt Zusammenhänge her, hält die Fäden in der Hand und verliert sich niemals im Anekdotischen. Was für ein schönes Geschenk zum runden Geburtstag von Margarethe am 21. Februar.

Das Coverfoto stammt aus dem Jahr 1977: Dreharbeit zu dem Film DAS ZWEITE ERWACHEN DER CHISTA KLAGES.

Mehr zum Buch: kampaverlag.ch/margarethe-von-trotta-gegenwaertig-sein/