Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
November 2022

Edgar Reitz
Filmzeit, Lebenszeit
Erinnerungen
Rowohlt Berlin, Berlin 2022
672 S., 30,00 €
ISBN 978-3-7371-0159-2

Edgar Reitz:
Filmzeit, Lebenszeit.
Erinnerungen

Zu seinem 90. Geburtstag schenkt uns Edgar Reitz ein 672-Seiten-Buch mit seinen Erinnerungen, das uns einen tiefen Einblick in alle Phasen seines Lebens, in sein Denken und Fühlen gewährt. Mit der fast 60-stündigen HEIMAT-Trilogie hat er Filmgeschichte geschrieben. Aber sein Gesamtwerk hat viele Facetten, die man für sich noch entdecken kann.

Geboren am 1. November 1932 in Morbach im Hunsrück als Sohn eines Uhrmachers und einer Modistin hatte Edgar Reitz schon als Kind handwerkliche Interessen und großen Wissensdurst. Seinen ersten Film sah er bei einer Reise mit seinen Eltern nach Bochum, wo er mit seiner Tante Mia am 13. August 1938 im Metropol-Kino die Kinder-vorstellung des amerikanischen Films DIE DSCHUNGELPRINZESSIN besuchte. Das konnte der Filmhistoriker Christoph Wahl rekonstru-ieren. Im April 1939 eingeschult, hatte er Konflikte mit seiner Lehrerin, wechselte 1943 auf die sogenannte „Hauptschule“ und ab 1946 auf das Gymnasium in Simmern. Die Fahrt dorthin und zurück dauerte jeweils drei Stunden. Sein Deutschlehrer gründete eine Theatergruppe, in der sich Edgar vielfältig betätigte. 1952 bestand er das Abitur und begann ein Studium der Germanistik, Publizistik und Theaterwissenschaft in München.

Das Geschichtenerzählen hat Edgar Reitz von seinem Großvater gelernt. „Der Opa liebte es, vor dem Haus auf einer Gartenbank zu sitzen und auf die Rosenbüsche in seinem Vorgärtchen zu blicken. Er nahm mich neben sich, legte seinen Arm um meine Schulter und fing an zu erzählen. Was er mir zu sagen hatte, das ergab sich immer aus der Frage ‚Willst du hören, was ich heute auf meinem Weg durch den Wald erlebt habe?‘ Schon die Frage weckte meine Neugier.“ (S. 44). Und dann mischten sich Tatsachen mit phantasievollen Erfindungen. Reitz nennt es „Das Großvaterprinzip“.

Während des Studiums in München – vor allem bei Artur Kutscher – gründet Reitz eine Studiobühne und assistiert bei Filmproduktionen. Experimentelle Formen sind ihm wichtig. Werbefilme bringen Einnahmen, wenn man gute Ideen hat. Dem Kameramann Willy Zielke ist ein eigenes Kapitel gewidmet, die intensive Zusammenarbeit an dem Film ALUMINUM (1958) endet im Streit.

1962 macht der Produzent Norbert Handwerk Edgar Reitz zum Leiter der Abteilung „Entwicklung und Experiment“ bei der Firma Insel-Film. Das führte zu „paradiesischen Arbeitsvoraussetzungen“. Und in Oberhausen wurde mit einem Manifest die Geburt des „Neuen deutschen Films“ verkündet. Zu den 26 Unterzeichnern gehörte auch Reitz, der im Rückblick ein „Wir“ kaum noch zu erkennen vermag.

Relativ eng war die Verbindung zu Alexander Kluge. Bei dessen Film ABSCHIED VON GESTERN stand Reitz zusammen mit Thomas Mauch hinter der Kamera. In Ulm gründeten sie 1963 gemeinsam das „Institut für Filmgestaltung“ an der Hochschule für Gestaltung, deren Gründungspräsident Otl Aicher war. Pädagogische Arbeit im Filmbereich gehört seither zu den gern ausgeübten Beschäftigungen. Gemeinsam haben Kluge und Reitz den Film IN GEFAHR UND GRÖSSTER NOT BRINGT DER MITTELWEG DEN TOD realisiert. Dissonant endete die Zusammenarbeit bei DER STARKE FERDINAND. Reitz hatte große Teile des Films gedreht, als Kluge die Regie plötzlich an sich zog.

Mit seinem ersten Film, MAHLZEITEN, debütierte Reitz 1967 beim Filmfestival in Venedig. Dort war er in den folgenden Jahrzehnten oft zu Gast. Die Blicke in die Vergangenheit begannen 1973 mit DIE REISE NACH WIEN, setzten sich fort mit STUNDE NULL (1977) und DER SCHNEIDER VON ULM, der zum Misserfolg wurde. Mit der HEIMAT-Trilogie, produziert 1980 bis 1984, 1987 bis 1992 und 2002 bis 2004, entstanden die Chroniken, mit denen Edgar Reitz in die Geschichte eingeht. Die monatelange Zusammenarbeit mit den Autoren Peter Steinbach und Thomas Brussig im Hunsrück und am Ammersee wird wunderbar beschrieben. Casting und Dreharbeiten sind spannende Phasen, die internationale Resonanz ist beglückend. Allerdings entzweit sich Reitz nach der ZWEITEN HEIMAT mit dem WDR und dem Redakteur Joachim von Mengershausen. Die Rolle des Fernsehens erscheint in diesem Zusammenhang dubios. Mit der ANDEREN HEIMAT (2013) entsteht noch einmal ein Kinofilm.

„Über das Vergessen“ heißt das letzte Kapitel. Es endet mit den Sätzen „Das wahre Abbild unseres Lebens findet sich ganz nahe am Ufer des Lethe, des antiken Flusses des Vergessens. Erinnerungen, die mit ihren Koordinaten Raum und Zeit einen Moment im Diesseits lokalisiert werden können, bevor sie an das andere Ufer hinüberwechseln, sind die eigentlichen Boten der Wahrheit. An Lethes Ufer werden Vergessen und Erinnern eins.“

Frauen spielen im Leben von Edgar Reitz eine große Rolle. Die erste Hochzeit findet 1956 mit der Postbeamtin Gertraud Heldt statt. Die gemeinsame Tochter Susanne, geboren 1956, wird später Tänzerin und Choreographin, der Sohn Christian, geboren 1960, Kameramann und Produzent. 1976 endet die erste Ehe. Es gibt Beziehungen u.a. zu der Pädagogin Petra Kiener und der Regisseurin Ula Stöckl, mit der Reitz DIE GESCHICHTEN VON KÜBLKIND realisiert. Mit der Kranken-gymnastin Roswitha Rummel dauert die Ehe von 1982 bis 1986. Die Tochter Julia wird 1983 geboren. Seit 27 Jahren ist er mit der Cellistin und Sängerin Salome Kammer verheiratet. Sie spielt eine wichtige Rolle in der ZWEITEN HEIMAT.

Die Erzählweise der Erinnerungen von Edgar Reitz ist reflexiv, anschaulich und oft auch emotional berührend. Immer wieder sind Abschiede zu beklagen, von Freunden wie Hans-Dieter Roos und Alf Brustellin, von den Eltern Robert und Maria, vom Bruder Guido und der Schwester Heli, von langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wie dem Kameramann Gernot Roll. Sie bekommen eine große Präsenz durch konkrete Beschreibungen von Ereignissen und Eigenheiten.

Natürlich hat Edgar Reitz viele Quellen für seine Erinnerungen in Form von Tagebüchern, Dokumenten und Fotos. Aber die heraus-ragende Qualität des Textes ist der Stil, ist die Formulierung, die aus der Vergangenheit eine kurzfristige Gegenwart macht. Sie macht die Lektüre so spannend, dass man das Buch nicht aus der Hand legen mag.

Eingefügt sind drei jeweils sechsseitige Bildteile mit Fotos von 1937 bis 2014.

Mehr zum Buch: edgar-reitz-filmzeit-lebenszeit-9783737101592

Vor sieben Jahren erschien die Biografie „Edgar Reitz. Chronist deutscher Sehnsucht“ von Thomas Koebner. Sie war im April 2015 mein „Filmbuch des Monats“ und ist weiterhin sehr lesenswert.