Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
1993
Filmbuch des Jahres

Gero Gandert (Hg.)
Der Film der Weimarer Republik 1929
Ein Handbuch der zeitgenössischen Kritik
Walter de Gruyter, Berlin, New York 1993
916 S. (480 DM)
ISBN 3-11-011183-7

Gero Gandert (Hg.):
Der Film der Weimarer Republik 1929.
Ein Handbuch der zeitgenössischen Kritik

Ein filmhistorisches Standardwerk. Eine Hommage an die großen Filmkritiker der Weimarer Republik.

Am besten zitieren wir – in Auszügen – den anspruchsvollen Autor und Leser Hanns Zischler, der dem Buch in der Zeit einen Text widmete, den man ruhig eine Eloge nennen darf:

„Es gibt publizistische Unternehmungen, die so groß, langwierig und eigentümlich verschwiegen sind, dass sie kaum wahrgenommen werden; treten sie an die Öffentlichkeit, dann geschieht das so diskret und selbstverständlich, als wären sie immer schon dagewesen. Erinnert sei hier nur an die monumentale und leider ins Stocken geratene Neubearbeitung des Grimmschen Wörterbuches seit 1968 oder den vor einigen Jahren vollendeten Abschluss von Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Zu diesen schier unauslotbaren Druckwerken gesellt sich seit einem Jhr der erste Band von Gero Ganderts ‚Der Film der Weimarer Republik – 1929‘. Der erste von vierzehn weiteren Bänden, die nach ihrem Abschluß in noch fernen Jahren den Höhepunkt und das Ende des Stummfilms sowie die experimentellen Jahre des Tonfilms von 1919 bis 1933 umfassen werden.

In diesen ersten Band – er umfasst gut 900 doppelspaltige Seiten einschließlich eines weit aufgefächerten Registers – ist auch ein Teil von Gero Ganderts wissenschaftlicher und politisch-moralischer Biographie eingegangen. Zwanzig Jahre hat er darauf verwendet, die deutschsprachigen Zeitungs- und Zeitschriftenbestände der Weimarer Zeit mit emsigen und geduldigen Augen zu lesen und zu exzerpieren. (…)

Die von Gandert nach vielen Überlegungen und Irrgängen entwickelte Systematik des Buches ist ebenso komplex wie einleuchtend. Er unterscheidet vier Kategorien, wobei die erste inhaltlich alle weiteren überragt: 1. Deutsche Kinofilme; 2. Deutsche Filme außerhalb des regulären Programms; 3. Ausländische Filme im regulären Programm und 4. Ausländische Filme außerhalb des rtegulären Programms; alphabetisch aufgelistet und mit erdrückend reichhaltiger Primärbibli-ographie versehen. Der Verzicht auf die nicht unbedeutende Sekundär-literatur ist uneingeschränkt zu rechtfertigen, denn sie würde das zum ersten Mal sichtbare, einzigartige Bild, ja den ‚Film’ von der Geburt des Kinos aus dem Geist der Kritik erheblich beeinträchtigen.

Blättern und lesen kann man in diesem Buch wie in einem Roman, der nie geschrieben wurde. Ganderts Griff in den Zettelkasten, die Auswahl, die er treffen, und die weiteren Quellen, die er wieder in den Orkus der Bibliographie verbannen musste, dirigiert den Blick des Lesers. Im Gespräch nennt er einige Prioritäten. Siegfried Kracauer (‚Raca’) zum Beispiel; von ihm ist alles in dem Band enthalten, was er 1929 an Filmkritiken verfasst hat. (…)

Das Jahr 1929 sollte ursprünglich den Abschluss des „Handbuchs“ bilden – das Sterbejahr des Stummfilms und das Geburtsjahr des Tonfilms. Die unmittelbaren Wirkungen der ersten Tonfilme auf das tatsächlich hin- und hergerissene Publikum sind mittlerweile (wieder) bekannt; doch was Gandert am Beispiel des Dupont-Films ATLANTIC an Quellen sprudeln lässt, ist atemberaubend. Auf fast zwanzig doppelspaltigen Seiten, durchsetzt von sehr schönen stills, formieren sich die Gegner und Befürworter dieses unerhörten neuen Genres; die Pointe ist schließlich eine ellenlange Polemik des Regisseurs E.A.Dupont, in der er gegen seine Kritiker mit zwar berechtigter, aber allzu besserwisserischer Wut (über die vielen Verrisse) zu Felde zieht, was postwendend von der Weltbühne mit einer beleidigend milden Schelte beantwortet wird.

Ganderts rhymes to standard, wird man nach diesem ersten Band sagen dürfen. Dieses Buch vereinigt viele Bücher in sich; es ist weit mehr als nur ein Handbuch der Kritik, das je nach Lesart und ‚Nutzung’ – derartige Bücher kennen ja eher Benutzer als Leser – in eindrucks-volle Monographien sich auflöst oder zu einem Kompendium der vergessenen und verschollenen, vielfach exilierten Stimmen und Gesichter gerät. So ist, um nur ein Beispiel zu nennen, der Kritiker Ernst Blaß zu entdecken, der die Physiognomie und die Material-besessenheit des Lyrikers Blaß in einem neuen Licht erscheinen lässt. Ganderts „1929“ ist der jetzt aus dem Nebel der kulturgeschichtlichen Archive auftauchende Eisberg, dessen Anblick, Ortung und Vermessung die lange Zeit perpetuierten Vorstellungen von high und low – wenn das Werk denn einmal abgeschlossen sein wird – revidieren werden. (…)

Die Zeit, 31. März 1995

Ein zweiter Band ist nie erschienen. Vielleicht erhöht das sogar die Bedeutung dieses einen, einmaligen Buches.