Filmbuch des Monats
Oktober 2021
Marcus Stiglegger / Christoph Wagner (Hg.)
Film / Bild / Emotion
Film und Kunstgeschichte im postkinematographischen Zeitalter
Berlin, Gebr. Mann 2021
560 S., 79,00 €
ISBN 978-3-7861-2835-9
Marcus Stiglegger / Christoph Wagner (Hg.):
Film / Bild / Emotion.
Film und Kunstgeschichte im postkinematographischen Zeitalter
Im Kino erlebt das Publikum die Filme mit unterschiedlichen Emotionen, aber die Ereignisse auf der Leinwand aktivieren in der Regel die Gefühle, und das ist auch so beabsichtigt. Die Mittel dafür sind natürlich verschieden, je nachdem ob es sich um ein Melodram, einen Thriller oder einen Horrorfilm handelt. In einer Mixtur aus Film- und Psychoanalyse wird das Thema in diesem Buch behandelt.
An der Universität Regensburg fanden seit 2017 mehrere Symposien zum Thema „Film / Bild / Emotion“ statt, die mit der Ringvorlesung „Sehen und Verstehen“ verbunden waren. 27 Vorträge sind für diesen Band ausgewählt und überarbeitet worden, die das breite Spektrum des Themas abbilden. Sie haben alle ein hohes Niveau und unterschied-liche Perspektiven.
Thomas Elsaesser (der 2019 in Peking verstorben ist) beschreibt in seinem Beitrag das Kino der abjekten Affekte. Es geht um Filme über das Leben am Rande der Gesellschaft und um Gedankenexperimente (Was wäre wenn?). Zentrale Beispiele sind dafür I, DANIEL BLAKE von Ken Loach und TONI ERDMANN von Maren Ade.
Der Kunsthistoriker Christoph Wagner, Co-Herausgeber des Bandes, beschäftigt sich mit dem Schrei. Ist er ein Geburtsmoment der Film-geschichte? Ausgehend von Lessings „fruchtbarem Augenblick“ schlägt Wagner den Bogen zur Bildenden Kunst, zu Edward Munch und Paul Klee. Zu seinen Filmbeispielen gehören PANZERKREUZER POTEM-KIN von Eisenstein, GODFATHER III von Coppola und KILL BILL 1 und 2 von Quentin Tarantino.
Marcus Stiglegger, der andere Herausgeber, und der Psychologe Andreas Hamburger führen einen Dialog über Filmtheorie und Filmpsychologie: Szenisches Verstehen und die Seduktionstheorie des Films. Es ist mit 26 Seiten der längste Beitrag im Buch. Er öffnet den Blick für psychoanalytische Lektüren mit konkreten Beispielen.
Bei Lothar Mikos geht es um Szenisches Verstehen als emotionale Aktivität in der Rezeption von audiovisuellen Medien. Das Filmerleben kann als Aktualisierung biografischer Erinnerungen gesehen werden und bezieht sich auf spezielle Situationen, nie auf den kompletten Film. Als Beispiele werden PRETTY WOMAN von Gerry Marshall, TERMINATOR 2 von James Cameron und THE DARKEST HOUR von Joe Wright genannt.
Der Psychoanalytiker Gerhard Schneider reflektiert über Unbewusste Fantasie, Abwehr, Affekt. Seine subjektive psychoanalytische Perspektive auf die affektive Wirkung von Filmen konkretisiert er mit einer beeindruckenden Analyse der Duschszene des Films PSYCHO von Alfred Hitchcock. – Auch die Perspektive von Ralf Zwiebel, Arzt für Neurologie und Psychiatrie, ist psychoanalytisch: Der Film als ungeträumter Traum des Zuschauers. Als Filmbeispiel dient hier VERTIGO von Alfred Hitchcock.
Der Psychoanalytiker Dirk Blothner fragt, ob wir im Zusammenhang zwischen Bilddramatik und Filmwirkung auf den Emotionsbegriff verzichten können, weil er zum überholten Erbe gehört, das der Psychologie von der Philosophie übertragen wurde und zu unspezifisch ist. Wieder wird ein Hitchcock-Film als Beispiel analysiert, diesmal eine Szene aus NORTH BY NORTHWEST.
Norbert M. Schmitz ist Professor für Ästhetik an der Universität Kiel. Von ihm stammt ein Beitrag zum Verhältnis zwischen Kunst- und Filmgeschichte. Dies wird in einem umfassenden Blick über 100 Jahre differenziert geklärt. Seinen Text hat er dem Kollegen James Wulff gewidmet.
Der Historiker Dario Vidojković erzählt kurz und pointiert die Geschichte einer langen wechselseitigen Beziehung: Künstler im Film, Künstler und Film, konkret im Bereich der Malerei. Filmbeispiele sind hier u.a. DAS CABINET DES DR. CALIGARI von Robert Wiene, L’INHUMAINE von Marcel L’Herbier, UN CHIEN ANDALOU von Luis Bunuel, LE MYSTÈRE PICASSO von Henri-Georges Clouzot, MOULIN ROUGE von John Huston und LUST FOR LIFE von Vincente Minnelli. Der Autor sieht das Verhältnis zwischen Film und Kunstgeschichte als eine Liebesbeziehung.
Der Kunsthistoriker Michael Lüthy richtet seinen Blick auf die Narration des Films THE CHELSEA GIRLS (1966) von Andy Warhol, der als Höhepunkt in der Filmphase des Künstlers einzuschätzen ist. Mit dreieinhalb Stunden Laufzeit in einer Doppelprojektion ist er eine Herausforderung für die Zuschauer.
Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch äußert sich zum Anthro-pomorphismus der Medien: Der menschliche Körper als generische Form. Ihr Fallbeispiel ist Andy Serkis als Affe Caesar in RISE OF THE PLANET OF THE APES von Rupert Wyatt. – Bei Marcus Stiglegger geht es um den Einfluss von Francis Bacon auf den Film: Distorsionen. Im Mittelpunkt steht dabei der Film LOVE IS THE DEVIL von John Maybury.
Der Kommunikationswissenschaftler Marcus S. Kleiner beschreibt den britischen Spielfilm CONTROL von Anton Corbijn, der die Lebens-geschichte des Sängers Ian Curtis von seinem 17. Lebensjahr bis zu seinem Freitod mit 23 erzählt: Atmosphärische Intimität. – Die Kulturwissenschaftlerin Anke Steinborn äußert sich zu Hülle, Haut und emotionalem Entfalten im Film: Bekleiden / Entkleiden. Ihr Filmbeispiele sind DIE FRISEUSE von Doris Dörrie, FRÄULEIN ELSE von Anna Martinetz und TONI ERDMANN von Maren Ade.
„Filmtheorie sollte nicht taub werden“, fordert Michael Braun in seinem Beitrag „Von der Kunst des Erzählens“. Es geht um die Rolle der Musik. Sein Bezugspunkt sind vor allem Bücher von David Bord-well, Kurt London, Theodor W. Adorno und Hanns Eisler, Rudolf Arnheim, Siegfried Kracauer, Gilles Deleuze.
Der Kunsthistoriker Jürgen Müller versucht, Fritz Langs Film METROPOLIS neu zu deuten, unterzieht den Film einer ikonografischen Analyse und entdeckt zahlreiche Werke der bildenden Kunst, die von Fritz Lang zitiert werden: Babelsberg/Babylon heißt die Überschrift. – Henry Keazor, ebenfalls Kunsthistoriker, richtet seinen Blick auf die Architektur von Fritz Langs METROPOLIS: „Kein Gegenwartsbild, kein Zukunftsbild – ein Geschehen“.
Der Filmwissenschaftler Thomas Koebner befasst sich mit der Inszenierung des einsamen Kindes. Seine Beispiele aus der Filmgeschichte sind u.a. LE QUATRE CENT COUPS und L’ENFANT SAUVAGE von François Truffaut, OLIVER TWIST von David Lean (1948) und Roman Polanski (2005), SALAAM BOMBAY! Von Mira Nair, IWANS KINDHEIT von Andrej Tarkowski, JEUX INTERDITS von René Clément, EMPIRE OF THE SUN und A.I. / ARTIFICIAL INTELLIGENCE von Steven Spielberg. Es geht vor allem um die Gesichter der Kinder und ihre Fluchten in eine ungewisse Zukunft.
Der Japaner Tóru Itó reflektiert über das Selbstsein in Terayama Shújis Film STERBEN AUF DEM LAND: „Dekonstruierte Vergangenheit“. Ein wichtiges Motiv in dem Film ist die Uhr. – Die Filmwissen-schaftlerin Susanne Kappesser entdeckt Konstruktionen des monströsen Mütterlichen im Horrorfilm. Ihre Beispiele stammen u.a. von Ridley Scott, Xavier Gens, Gaspar Noé, Darren Aranowsky, Richard Donner, Jonathan Glazer und Lynne Ramsay. Es gibt sichtbare Unterschiede zwischen der Urmutter und der zweifelnden Mutter.
Der Kunsthistoriker Dominic E. Delarue beschäftigt sich mit der Christomimesis im Film. Biblische Erzählungen haben ihre eigenen Gesetze. Zu seinen Filmbeispielen gehören KREUZWEG von Dietrich Brüggemann, MAMMA ROMA von Pier Paolo Pasolini, WIE IM HIMMEL von Kay Pollack, STRANGER THAN FICTION von Marc Foster und VIRIDIANA von Luis Bunuel. – Für die Kunstwissen-schaftlerin Nina Gerlach ist der Film EX MACHINA von Alex Garland ein Exempel für die All-over-Ästhetik Künstlicher Emotionaler Intelligenz. Sie verortet unsere Zukunft zwischen „Technikdarwinis-mus“ und „Vertrauensfrage“.
Lioba Schlösser, Spezialistin für Genderqueermedien, untersucht mythisiertes Begehren im postklassischen Melodram. Ihre Film-beispiele sind LAURENCE ANYWAS von Xavier Dolan, MA VIE EN ROSE von Alain Berliner und THE DANISH GIRL von Tom Hooper. Der Beitrag des Filmwissenschaftlers Kai Naumann hat die Überschrift Mit den Ohren sehen. Er definiert das Wesen des „hörenden Blicks“ in Dario Argentos SUSPIRIA.
Die Kunsthistorikerin Sara Tröster Klemm bezeichnet den Film THE NINE LIVES OF TOMAS KATZ von Ben Hopkins als einen der verrücktesten Filme der Kinogeschichte und begründet dies einleuchtend. – Der Kunsthistoriker Gerald Dagit konstatiert die Absenz von Emotion bei Paul Verhoeven und beweist dies an den drei Filmen ROBOCOP, STARSHIPP TROOPERS und FLESH AND BLOOD.
Der Medienwissenschaftler Ivo Ritzer sieht das Direct-to-Video als Herausforderung für die Medien-, Kultur- und Kunstwissenschaft und schließt mit seinem Beitrag „Das Bewegtbild im Zeitalter des Postkinematographischen“ den Band ab. Im Zentrum stehen bei ihm Filme des südafrikanischen Filmregisseurs Darrel James Roodt.
Die Vielfalt der Themen in den genannten 27 Beiträgen, die sich überwiegend auf den Aspekt der Emotion in Film und Bild beziehen, ist beeindruckend. Die Erkenntnisse verbinden sich zu einem lockeren Netz, in dem wissenschaftlich stabil und inhaltlich nachvollziehbar die Bereiche Filmgeschichte, Kunstgeschichte und Psychologie mitein-ander verknüpft sind. Der zeitliche Bogen reicht dabei von der frühen Film-geschichte bis in die Gegenwart. Das Herausgeberduo hat bei den Autorinnen und Autoren eine gute Auswahl getroffen. Ihre Kompetenz ist ausnahmslos spürbar. Was ich vermisse, sind Kurzbiografien der Autorinnen und Autoren.
Die Abbildungen haben eine sehr gute Qualität. Coverabbildung: Duschszene in PSYCHO (1960) von Alfred Hitchcock.
Mehr zum Buch: https://www.reimer-mann-verlag.de/controller.php?cmd=detail&titelnummer=302835&verlag=3