Filmbuch des Monats
Mai 2014
Christoph Hübner / Gabriele Voss
Film / Arbeit
Texte, Dokumente, Arbeitsnotizen
Bert Rebhandl (Hg.)
Vorwerk 8, Berlin 2014
328 S., 19,00 €
ISBN: 978-3-940384-56-0
Christoph Hübner / Gabriele Voss:
Film / Arbeit.
Texte, Dokumente, Arbeitsnotizen
Seit rund vierzig Jahren drehen Christoph Hübner und Gabriele Voss gemeinsam Filme, in der Regel Dokumentarfilme; ihr Wirkungsfeld ist das Ruhrgebiet. Meist sind sie zusammen für die Konzeption zuständig, Christoph führt die Kamera, Gabriele hat die Verantwortung für die Montage. Verbunden sind sie auch in einer Lebenspartnerschaft. Und beide reflektieren ihre Arbeit seit Jahrzehnten in Texten, Dialogen und Notizen. Sie machen sich sehr grundsätzliche Gedanken über die Inhalte ihrer Filme, die dokumentarische Form, die Verantwortung gegenüber den Protagonisten und ihre Position in der deutschen Medienlandschaft. Sie sind Chronisten der Zeit. Es war überfällig, eine Auswahl ihrer publizierten Texte und ihrer internen Arbeitsnotizen in einem Buch zu veröffentlichen, auch um in der aktuellen Inflation der Dokumentarfilm-Literatur mal wieder für etwas Grundsätzliches zu sorgen. Der Filmpublizist Bert Rebhandl hat den Band bei Vorwerk 8 herausgegeben. Dafür sei ihm ausdrücklich gedankt.
Rund 300 Seiten, elf Kapitel, 45 Texte. Natürlich kann man das in der zeitlichen Abfolge lesen, in der das Buch strukturiert ist, beginnend mit den Arbeitsnotizen zu HUCKINGER MÄRZ (1973), endend mit den Arbeitsnotizen zu TRANSMITTING (2013) und dem wie ein schönes Nachwort wirkenden Text „Schattenmund“ von Gabriele Voss. Das ist mit der Konsequenz verbunden, sich mit aller Konzentration auf den Prozess einer Lebens- und Werkbegleitung einzulassen. Die Filmografie im Anhang ist dafür hilfreich. Man kann aber auch einen anderen Einstieg suchen. Zum Beispiel: es gibt zwei Kapitel mit dem Titel „Das Dokumentarische als Haltung“, eines für die Jahre 1983-1992 mit Texten von Christoph Hübner, eines für die Jahre 2007-2013 mit Texten vor allem von Gabriele Voss. Da öffnet sich für den Leser/die Leserin ein Denkraum, da geht es ums eher Grundsätzliche, das aber auch immer konkret ist: ein Besuch bei dem amerikanischen Dokumentaristen Les Blank, eine Reflexion über Johan van der Keuken und Wim Wenders als Fotografen oder die wunderbaren persönlichen Erinnerungen von Gabriele „Shoot this, shoot that, and than…“.
Zu den ersten Filme, die ich von Christoph und Gabriele gesehen habe, gehörte die LEBENS-GESCHICHTE DES BERGARBEITERS ALPHONS S. (1977/78), persönliche Erinnerungen von 1906 bis 1939, in die Kamera gesprochen, vor allem nach dem Alltagsleben befragt, ohne das Beiwerk von Fotos oder Zeitzeugen, 256 Minuten, s/w. Das war mutig und faszinierend. Knapp 30 Jahre später entstand der Film THOMAS HARLAN – WANDERSPLITTER. Nur der Protagonist ist im Bild, der Sohn des Regisseurs Veit Harlan, und erzählt assoziativ und in schwankender Stimmung seine Lebensgeschichte, aufgenommen in einem Lungensanatorium in der Nähe von Berchtesgaden. 96 Minuten, Farbe. Auch dies ist in seinem Purismus ein bedeutender Film.
Ein relativ frühes „Langzeitprojekt“: PROSPER/EBEL – CHRONIK EINER ZECHE UND IHRER SIEDLUNG (1979-1982), fortgesetzt 1998. Drei Jahre und zwanzig Jahre später noch einmal einige Monate verbrachten Christoph und Gabriele vor Ort: wohnten und arbeiteten in einem halben Zechenhaus, dokumentierten Leben und Arbeit in einer unmittelbaren Realität. Der erste Zyklus dauerte 340 Minuten, der zweite Film (DAS ALTE UND DAS NEUE) 87. Von 2006 bis 2013 entstanden an der Emscher im Norden des Ruhrgebiets 74 kürzere Filme mit Beobachtungen von Menschen und Orten in einer sich verändernden Flusslandschaft: EMSCHER SKIZZEN. Voraussetzung ist immer, dass Christoph und Gabriele das Vertrauen der Menschen haben, die sie beobachten und befragen. Die Filme sind oft kommentarlos. – Noch ein Langzeitprojekt: die Begleitung von Nachwuchsfußballern von Borussia Dortmund. Der erste Film, DIE CHAMPIONS – DER TRAUM VOM FUSSBALL, entstand zwischen 1998 bis 2003, die Fortsetzung hatte den programmatischen Titel HALBZEIT und zeigte, was aus den Protagonisten im Alter von Mitte Zwanzig geworden ist.
Zweimal haben sich Christoph und Gabriele aufs Feld des „Spielfilms“ gewagt, aber beide Male auf eigene Art. In VINCENT VAN GOGH – DER WEG NACH COURRIÈRES (1989) ging es um die Anfänge des Malers; zeitgenössische Dokumente wurden mit aktuelle Bildern der Landschaften und Orte konfrontiert; ohne Schauspieler, Sprecher: Peter Nestler. In ANNA ZEIT LAND begeben sich zwei Frauen, beide heißen Anna, auf eine Reise. Die eine (dargestellt von Angela Schanelec) sammelt Bilder, die andere (Stephanie Adams) Töne. Es sind Momentaufnahmen aus Deutschland in der Wendezeit, gedreht in 16mm Farbe.
Meine große Bewunderung hat eine Filmreihe, die von Christoph und Gabriele seit 1995 verantwortet wird: DOKUMENTARISCH ARBEITEN. Es entstanden Werkstattgespräche mit Herz Frank, Richard Dindo, Johan van der Keuken, Peter Nestler, Klaus Wildenhahn, Volker Koepp, Hans-Dieter Grabe, Reni Mertens und Walter Marti, Egon Humer, Elfi Mikesch, Michael Pilz, Thomas Imbach, Nikolaus Geyrhalter, Erich Langjahr, Harun Farocki und Thomas Heise. Die Filme dauern jeweils 60 Minuten, einige sind inzwischen auf DVD in der „Edition Filmmuseum“ erhältlich. Für die Kontinuität sorgte bisher Reinhard Wulf als verantwortlicher Redakteur (WDR/3sat), aber nach seiner Pensionierung gibt es offenbar keine Hoffnung auf Fortsetzung.
Ihre jüngsten Filme sind MANDALA (2012), die Beobachtung eines Chakrasamvara-Mandalas von sechs Mönchen aus Bhutan in der Jahrhunderthalle in Bochum, ein faszinierendes Ritual führt zur Entstehung farbiger Bilder, die anschließend in einer Zeremonie wieder zerstört werden, und TRANSMITTING (2013), die Dokumentation einer Reise von drei internationalen Jazzmusikern (Joachim Kühn, Majid Bekkas und Ramon Lopez) nach Marokko und ihrer gemeinsamen Arbeit vor Ort. Der Film war auch in ausgewählten Kinos zu sehen.
Meine Passage durch das Werk von Christoph Hübner und Gabriele Voss macht hoffentlich deutlich, wie weit ihr Horizont gespannt ist, auch wenn sich die Mehrzahl der Filme konzentriert auf Leben und Arbeit in Deutschland und Europa seit den 1970er Jahren, auf die historischen Wurzeln und die Menschen, die hier tätig sind. Die Texte des Buches beziehen sich zumeist sehr konkret auf die Projekte, die Hübner/Voss realisiert haben, aber nicht in einem pragmatischen, sondern in einem reflexiven Sinn. Ihre Lektüre provoziert eigene Überlegungen, ruft Erinnerungen wach, sensibilisiert für ein Nachdenken über den dokumentarischen Film. Die Abbildungen sind klug verteilt, das Vorwort von Bert Rebhandl ist eine schöne Hommage an die Autorin Gabriele Voss und den Autor Christoph Hübner.