Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Juni 2020

Winfried Pauleit/Angela Rabing (Hg.)
Familien-Bilder
Lebensgemeinschaften im Kino
Berlin, Bertz + Fischer 2020
144 S., 20,00 €
ISBN 978-3-86505-266-7

Winfried Pauleit/Angela Rabing (Hg.):
Familien-Bilder.
Lebensgemeinschaften im Kino

Familiengeschichten und Konflikte zwischen den Generationen gehö-ren zu den Standardthemen der Kinogeschichte. Im vergangenen Jahr hat sich das „Internationale Bremer Symposium zum Film“ damit beschäftigt. Die Dokumentation der Veranstaltung ist jetzt im Verlag Bertz + Fischer erschienen.

Vier Beiträge sind dem Kapitel „Nationale Familienkinematografien“ zugeordnet. Daniela Berghahn beschäftigt sich mit Diasporafamilien im zeitgenössischen europäischen Kino. Vier Filme werden von ihr genauer untersucht: die Komödien ALMANYA: WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND von Yasemin Şamdereli und WEST IS WEST von Andy De Emmony, das Roadmovie LE GRAND VOYAGE von Ismaël Ferroukhi und das Melodram DIE FREMDE von Feo Aladağ. Bei Janna Heine geht es um Familienhorror und Kriegsterror am Beispiel des iranischen Films UNDER THE SHADOW von Babak Anvaris, der während des Iran-Irak-Krieges spielt. Julian Jochmaring richtet seinen Blick auf Sozialarbeiter*innen in der griechisch-deutschen Produktion STO SPITI von Athanasios Karanikolas und dem polnischen Film HUBA von Anka und Wilhelm Sasnal, die in prekären Abhängigkeits-verhältnissen zu den Familien stehen. Michael Karrer beschreibt den Essayfilm NO INTENSO AGORA von João Moreira Salles, der die politischen Ereignisse des Jahres 1968 in Paris, Prag und China anhand von Found Footage und Aufnahmen der eigenen Mutter dokumentiert.

Der zweite Teil des Buches handelt von Home Movies und Familien-archiven. Annette Brauerhoch sieht in ihrem Beitrag die Erinnerungs-reise von Recha Jungmann in ETWAS TUT WEH als prozessualen Vorgang, der mit dem Ende nicht abgeschlossen ist. Auch im Text von Babylonia Constantinides werden biografische Erkundungen thema-tisiert. Ihre Filmbeispiele sind TARNATION von Jonathan Caouettes und STORIES WE TELL von Sarah Polley. Dann geht es zweimal um Amateurfilme in Österreich: Sandra Ladwig äußert sich zur Ästhetik in der frühen Amateurfilmpraxis des Landes, Michaela Scharf porträtiert die Amateurfilmerin Ellen „Maexie“ Illich.

Drei Beiträge sind dem abschließenden Teil „Produktionsfamilien“ zu-geordnet. Theodor Frisorger beschäftigt sich mit Film- und Familien-produktion bei Chantal Akerman, speziell in FAMILY BUSINESS und GOLDEN EIGHTIES. Jonathan Klamer entdeckt Familienähnlich-keiten in den Filmen von Yasujiro Ozu und Béla Tarr. Er macht auch auf ästhetische Parallelen aufmerksam, zum Beispiel die Bilder leerer Räume und die Darstellung vergehender Zeit. Bei Bettina Henzler im abschließenden Beitrag wird die Kinder-Perspektive in den Mittelpunkt gestellt. Ihr Schlüsselfilm ist DEMI-TARIF von Isild Le Besco. Wie sehen wir als Erwachsene diesen Film? Ein Thema für Psychoanaly-tiker, von der Autorin sehr differenziert formuliert.

Alle Texte haben ein hohes Niveau, sind durch Quellenverweise wissenschaftlich abgesichert und widmen sich Filmen, die nicht zum Mainstream gehören. Es sind auch Namen und Titel dabei, die ich bisher nicht kannte. Die Beschreibungen sind so konkret, dass man die Schlussfolgerungen nachvollziehen kann und der Erkenntnisgewinn hoch ist. Eine Übertragbarkeit auf andere Filme ist möglich, auch wenn die Konstellationen oft unterschiedlich sein mögen. Es ist erstaunlich, wie sich Film und reales Leben mit einander verbinden. Das betrifft natürlich vor allem die Found-Footage-Filme. Aber auch im fiktionalen Bereich ist die Realität präsent. Und es gibt – auch das macht die Lektüre des Buches deutlich – interessante alternative Formen des Zusammenlebens jenseits des dominanten Modells der Kleinfamilie.

Zahlreiche Abbildungen in guter Qualität unterstützen die elf Texte.

Mehr zum Buch: www.bertz-fischer.de/familien-bilder