Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
November 2020

Isabella Reichert (HG.)
Eine eigene Geschichte
Frauen Film Österreich seit 1999
Wien, Sonderzahl 2000
360 S., 24,00 €
ISBN: 978-3-85449-550-5

Isabella Reicher (Hg.):
Eine eigene Geschichte.
Frauen Film Österreich seit 1999

Seit zwanzig Jahren gibt es eine Nouvelle Vague Viennoise, ausgelöst durch den Film NORDRAND von Barbara Albert. Erstaunlich viele österreichische Filmemacherinnen sind hier miteinander verbunden. 34 Beiträge vermitteln den Hintergrund dieser Bewegung in einem Buch, das Isabella Reicher im Sonderzahl Verlag herausgegeben hat.

In ihrer Vorbemerkung stellt die Herausgeberin einen Zusammenhang her, der die sehr unterschiedlich arbeitenden Filmemacherinnen miteinander verbindet. Sie klärt kulturpolitische Fragen, informiert über die Filmförderung in Österreich, die Beteiligung des Fernsehens, die im Land existierenden Festivals und den Anteil der Frauen an wichtigen Entscheidungen. So beginnt man als Leser gut vorbereitet mit der Lektüre.

Claudia Lenssen eröffnet die Porträts mit einem Text über Barbara Albert (*1970) und ihre Filme: „Raffiniert collagierte Parallelgeschich-ten“. Die Beschreibungen sind kurz und präzise. Dominik Kamalzadeh beschäftigt sich mit den Filmen von Jessica Hausner (*1972): „Komi-sche Ungewissheit“. Ihre großen Qualitäten werden erkennbar. Verena Mund vergleicht Tischgesellschaften in den Filmen AMOUR FOU von Jessica Hausner und WESTERN von Valeska Griesebach. Bei Karin Schiefer geht es um Ruth Maders (*1974) filmische Ahnungen von den Rissen in der Mittelschicht: „Vom guten Leben“.

Die essayistischen Texte werden gelegentlich von Gesprächsproto-kollen unterbrochen. Insgesamt fünf Gespräche sind über das Buch verteilt. Den Beginn macht Andrea Pollach. Sie hat mit der Sound-designerin Veronika Hlawatsch, der Kamerafrau Leena Koppe, der Kostümbildnerin Ingrid Leibezeder und der Editorin Karina Ressler gesprochen. Thematisch dominiert das Verhältnis von „Männerdomä-nen“ und „Frauenberufen“. Ein zweites Gruppengespräch führten Valerie Dirk und Vrääth Öhner mit Nathalie Borgers, Ulli Gladik, Tina Leisch, Gabriele Mathes und Jo Schmeiser, die vor allem dokumen-tarisch arbeiten.

Drei Einzelgespräche sind zu lesen: von Michelle Koch mit der Video- und Performancekünstlerin Kurdwin Ayur, von Dietmar Schwärzler mit der Videokünstlerin und Performerin Sabine Marte, von Maike Mia Höhne mit der Filmemacherin, Musikerin und Performerin Billy Roisz. Auch hier spielen Genderfragen natürlich eine beherrschende Rolle.

Zurück zu den Einzeltexten. Birgit Flos hat Beobachtungen zum Tanzen in den Filmen von Barbara Albert, Jessica Hausner und Katharina Mückstein formuliert, die interessante Unterschiede und Parallelen deutlich machen: „Stolpern, Abstürzen, Fliegen“. Melanie Letschnig richtet ihren Blick auf die Filme von Gudrun Krebitz (*1980): „Realität ist Traum und umgekehrt“. Katharina Stöger beschäftigt sich mit dem zeitgenössischen Kurzspielfilm und den möglichen Zukunftsperspektiven.

In vier Texten geht es um Genre und Autorinnenschaft. Julia Pühringer beschreibt das Werk von Marie Kreutzer (*1977): „Machtposition Mainstream“. Die Herausgeberin Isabella Reicher macht interessante Anmerkungen zu Publikumserfolgen. Melanie Letschnig äußert sich zu Filmen und Serien von Barbara Eder (*1976): „Die Dynamiken des Milieus“, Doris Priesching befasst sich mit Filmen und Serien von Sabine Derflinger (*1963): „In prekären Verhältnissen. Leben“.

Ein Kapitel mit fünf Texten trägt die Überschrift „Partly Doc, Partly Fiction“. Magdalena Miedel beschäftigt sich mit den Filmen von Mirjam Unger (*1970), Bert Rebhandl beschreibt die Österreich-Filme von Elisabeth Scharang (*1969), bei Melanie Letschnig geht es um die Filme von Katharina Copony (*1972), Silvia Hallensleben äußert sich zu den Filmen von Sudabeh Mortezai (*1968) und Nina Kusturica (*1975), Alexandra Seibel zu den Filmen von Tizza Covi (Frau, *1971) und Rainer Frimmel (Mann, *1971): „Schönheit des Peripheren“.

Drei Texte handeln vom „Dokumentieren (oder demonstrieren)“: Bei Birgit Kohler geht es um Politik und Ästhetik im Kino von Anja Salomonowitz (*1976). Esther Buss charakterisiert ausgewählte filmische Porträts von Ulli Gladik (*1970), Ruth Kaaserer (*1972) und Ivette Löcker (*1970). Melanie Letschnig richtet ihren Blick auf die Filme von Edith Stauber (*1968): „Die alltägliche Aufmerksamkeit“.

Das fünfte Kapitel hat die Überschrift „Metakino“. Drehli Robnik beschreibt die Architektur in Filmen von Sasha Pirker, Lotte Schreiber, Heidrun Holzfeind, Ella Raidel und Claudia Larcher. Stefan Grisse-mann äußert sich zu Martina Kudlaceks und Christiana Perschons eigensinnigen Bearbeitungen künstlerischer Biografien. Michael Omasta untersucht die Filme von Astrid Johanna Ofner (*1966): „In der Literatur ein Zuhause“. Bei Andrea B. Braidt geht es um Katrina Daschners (*1973) Filmserie nach der Traumnovelle von Arthur Schnitzler: „Weiblichkeit, Maskerade, Queerness“. Christa Benser beschreibt performative Strategien in ausgewählten Videos und Filmen von Constanze Ruhm, Carola Dertnig, Ann Krautgasser, Michaela Schwentner und Miriam Bajtala. Alejandro Bachmann macht sich auf die Spurensuche nach Materialität und Medialität in Found Footage Filmen von Frauen.

Das sechs und letzte Kapitel konzentriert sich auf die Arbeit mit Material in Videos, Installationen und Filmen Bildender Künstlerinnen und Performerinnen. Claudia Slanar charakterisiert Michaela Grills (*1971) Videoarbeiten zwischen Abstraktion, Reduktion und Vermi-schung. Roman Gerold beschäftigt sich mit den digitalen Bewegt-bildern von LIA und Tina Frank (*1970): „Die Schönheit aus der Rechenmaschine und der geliebte Fehler“. Gerald Weber erforscht die animierten Welten von Nikki Schuster (*1974) und Anna Vasof (*1985): „Mechanisch – organisch“. Der letzte Text stammt von Naoko Kaltschmidt und würdigt die filmischen Arbeiten von Antoinette Zwirchmayr (*1989): „Stofflichkeiten und Schwellenphänomene“.

So kann man wirklich von einem A – Z der Neuen Wiener Welle sprechen, von Albert bis Zwirchmayr. Die hohe Qualität der Publika-tion ist der Herausgeberin zu verdanken, die 21 Autorinnen und acht Autoren zur Mitarbeit gewinnen konnte. Viele Namen – ich nenne nur Alejandro Bachmann, Andrea Braidt, Esther Buss, Stefan Grissemann, Silvia Hallensleben, Maike Mia Höhne, Michelle Koch, Birgit Kohler, Claudia Lenssen, Michael Omasta, Andrea Pollach, Julia Pühringer, Bert Rebhandl, Drelih Robnik, Alexandra Seibel – sind weit über Österreich hinaus bekannt. Ihre Texte sind konkret in den Beschrei-bungen, pointiert in den Charakterisierungen, überschaubar im Umfang, damit das Buch nicht zu umfangreich wurde. Sie machen neugierig auf Filme, die man noch nicht gesehen hat.

So erzählt das Buch wirklich „Eine eigene Geschichte“, und man darf davon ausgehen, dass viele der Protagonistinnen eine Zukunft haben, auch wenn diese Zukunft im Moment für Solokünstlerinnen nicht gesichert ist.

Coverfoto: Nina Proll in dem Film NORDRAND von Barbara Albert.

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