Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
April 2015

Thomas Koebner
Edgar Reitz
Chronist deutscher Sehnsucht. Eine Biographie
Reclam, Stuttgart 2015
284 S., 26,95 €
ISBN 078-3-15-011016-4

Thomas Koebner:
Edgar Reitz.
Chronist deutscher Sehnsucht

Er gehörte – mit Alexander Kluge, Peter Schamoni, Haro Senft und Herbert Vesely – vor 53 Jahren zu den Unterzeichnern des „Oberhausener Manifests“. Als Regisseur war er natürlich ein Protagonist des westdeutschen Autorenfilms. Er bekam Beifall von der Kritik (zum Beispiel für seinen ersten Spielfilm MAHLZEITEN, für seine Komödie DIE REISE NACH WIEN, für die Erinnerung an die STUNDE NULL), aber beim Kinopublikum war er nicht sehr erfolgreich. Mit dem Film DER SCHNEIDER VON ULM geriet er 1978 in eine Schaffenskrise. Dann kam die Wende im Leben von Edgar Reitz. Sie ist mit dem Wort „Heimat“ verbunden. HEIMAT – EINE DEUTSCHE CHRONIK wurde zu einem Schlüsselfilm der 1970er Jahre. Es folgten DIE ZWEITE HEIMAT – CHRONIK EINER JUGEND (1987-92), HEIMAT 3 – CHRONIK EINER ZEITENWENDE (2002-04) und schließlich DIE ANDERE HEIMAT (2013). Thomas Koebner hat jetzt im Reclam Verlag eine Biographie des Regisseurs publiziert. Sie trägt den Untertitel „Chronist deutscher Sehnsucht“ und ist eine sehr lesenswerte Werkanalyse.

2015.ReitzVor sieben Jahren erschien bei edition text + kritik das Buch „Edgar Reitz erzählt“, herausgegeben von Thomas Koebner und Michelle Koch. Es war das Resultat langer Gespräche, die im Sommer und Herbst 2007 in München stattgefunden hatten. Koebner, wie immer bestens vorbereitet, stellte Reitz Fragen zu wichtigen Stationen seines Lebens und seiner Arbeit und bekam Antworten, die in ihrer Genauigkeit und Differenziertheit bewundernswert waren. Viele Aspekte in der Biografie und im Werk von Edgar Reitz sind beispielhaft für Künstler in diesem Land, die Anfang der 1930er Jahre geboren wurden, das Ende des Nationalsozialismus erlebten, in der Adenauerzeit ihr kreatives Profil finden mussten, in der Phase der Studentenbewegung auch politisch eine Position bezogen und in den 1970er Jahren von den Veränderungen in der Medienlandschaft der Bundesrepublik betroffen waren. So berichtete Edgar Reitz seinem Gesprächspartner von seiner Suche nach einer eigenen Identität, vom Weg aus dem Hunsrück nach München, von Erfolgen und Misserfolgen, von Überzeugungen und Zweifeln – und vor allem von den Überlegungen und Entscheidungen bei der Realisierung seiner Filme. Ich denke, das Buch „Edgar Reitz erzählt“ gab Thomas Koebner die Motivation, dem Filmemacher eine eigenständige Biographie zu widmen, in der ein Lebenswerk von großer Dimension und Bedeutung gewürdigt wird.

Es gibt, das sei gleich gesagt, in dieser Biographie keine Einblicke ins Privatleben von Edgar Reitz und natürlich keine Trivialitäten oder Indiskretionen. Im ersten Kapitel, „Annäherung“, werden ein paar biografische Fakten über Kindheit, Jugend und Ausbildung vermittelt, dann sind wir schon bei den frühen Dokumentarfilmen und den avantgardistischen Experimenten, die heute kaum noch bekannt sind. Koebners Filmbeschreibungen wirken immer konkret und genau, sind nah an Personen und Bildern, was bei Reitz, der auch als Kameramann tätig war, eine Logik hat. Die Interpretation des ersten Spielfilms, MAHLZEITEN (1967), ist schlüssig und sensibel, man möchte den Film gern wieder sehen. Interessant ist der Hinweis, dass bereits im zweiten Film, CARDILLAC (1969), beliebig zwischen Farbe und Schwarz-weiß hin- und her gesprungen wird. Das hatte ich nicht mehr in Erinnerung. Mit Ula Stöckl inszenierte Reitz dann die GESCHICHTEN VOM KÜBELKIND (1971), mit Stöckl, Alf Brustellin und Niko Perakis den Reisefilm DAS GOLDENE DING (1972), der sehr phantasievoll in die Zeit von Jason und den Argonauten führt.

„Erste Blicke in die deutsche Vergangenheit“ heißt das Kapitel über die letzten Kinofilme von Edgar Reitz, über die Komödie DIE REISE NACH WIEN (1973), über die Reminiszenz an das Kriegsende in STUNDE NULL (1976), über die Mitwirkung am Gruppenfilm DEUTSCHLAND IM HERBST (1978) und über das Scheitern mit dem Film DER SCHNEIDER VON ULM (ebenfalls 1978). Hier würdigt der Autor die künstlerische Leistung des Regisseurs und die Präsenz der beiden Hauptdarsteller Tilo Prückner und Vadim Glowna, kritisiert die höhnische Reaktion der damaligen Kritik und zitiert die zugeneigten Überlegungen von Doris Dörrie in der Süddeutschen Zeitung (man vergisst leicht, dass sie in den späten 70ern dort als Filmkritikerin sehr lesenswerte Texte geschrieben hat).

Rund 100 Seiten sind in der Biographie dem Reitz-Werk bis 1980 gewidmet, 160 Seiten der Zeit danach, also den vier HEIMAT-Zyklen, den Zwischen- und Nachspielen. Höhepunkte im Text von Thomas Koebner sind für mich seine Analysen der ersten und zweiten HEIMAT. Wie er Bilder beschreibt und vor allem Personen: Paul, Mathias, Katharina, Eduard, Maria, Otto, Hermann, Glasisch, Lucie und all die anderen in der ersten HEIMAT, die man nicht vergisst. Er verbindet sie mit den Handlungsorten, mit Situationen, Szenen, Konflikten, mit dem Alltag, an dem wir teilhaben.

Daraus folgt dann auch die Beschreibung der ZWEITEN HEIMAT, der „Chronik einer Jugend“, die vorwiegend im München der 1960er Jahre spielt und wohl auch biografisch (durch die Figur des Herrmännchen, dargestellt von Henry Arnold) eng mit Reitz verbunden ist. Die Personen heißen hier Clarissa (gespielt von Salome Kammer, die 1995 die Ehefrau von Edgar Reitz wird), Helga, Waltraud, genannt „Schnüsschen“, Ansgar und Evelyn, Reinhard und Esther, Juan und Volker, Fräulein Cerphal und Herr Edel. Ihnen widmet Koebner kleine Porträts, in denen er dramaturgisch und psychologisch die Personen verortet. Ein eignes Kapitel ist der Musik vorbehalten. Zum Abschluss werden „Stimmen der Kritik“ zitiert.

Eher kritisch setzt sich Koebner mit der HEIMAT 3 auseinander, die für ihn (und auch für mich) der Zyklus ist, der am wenigsten in Erinnerung bleibt. Intensiver ist dagegen die Nachwirkung der ANDEREN HEIMAT, mit der Reitz noch einmal ein großes Werk geschaffen hat. Auch hier macht Koebner schöne Entdeckungen in den Bildern und Tönen des Films.

Der Anhang des Buches enthält ein „Chronologisches Werkverzeichnis“, sehr hilfreiche „Lebensdaten“, eine Auflistung von Preisen und Auszeichnungen und eine kleine Bibliografie der Literatur von und über Edgar Reitz. Die im Buch verteilten Schwarzweiß-Abbildungen sind akzeptabel, der Farbblock (16 Seiten) hat eine exzellente Qualität.

Die Biographie wurde von Thomas Koebner mit Neugier und Respekt geschrieben, sie ist „von begründeter Zuneigung geprägt“. Das ist bei einem Künstler wie Edgar Reitz gut zu verstehen.

Nach der Biographie von Roman Polanski, die ebenfalls von Thomas Koebner stammt, ist dies der zweite Band in der Reihe der Filmbiographien des Reclam Verlages. Ich bin sicher, dass Thomas eine neue in Arbeit hat.

Mehr zum Buch: www.reclam.de/detail/978-3-15-011016-4