Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Januar 2011

Michaela Krützen
Dramaturgien des Films
Das etwas andere Hollywood
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
622 S., 24,95 €
ISBN 978-3-10-040503-6

Michaela Krützen:
Dramaturgien des Films.
Das etwas andere Hollywood

Vor sieben Jahren, 2004, hieß ihr Buch „Dramaturgie des Films“. Im Zentrum stand damals der Film SILENCE OF THE LAMBS. Das neue Buch von Michaela Krützen trägt den Titel „Dramaturgien des Films“. Diesmal geht es um elf amerikanische Filme, um „das etwas andere Hollywood“ und, etwas genereller, um die virtuose Erweiterung der Muster des klassischen Erzählens. Die Professorin der Münchner Filmhochschule entwickelt sich zunehmend zur Spezialistin für das populäre US-Autorenkino.

Dies sind die Filme, die im neuen Buch ausführlich behandelt werden: SHORT CUTS (1993) von Robert Altman, PULP FICTION (1994) von Quentin Tarantino, THE USUAL SUSPECTS (1995) von Bryan Singer, TWELVE MONKEYS (1995) von Terry Gilliam, FIGHT CLUB (1999) von David Fincher, THE SIXTH SENSE (1999) von M. Night Shyamalan, MEMENTO (2000) von Christopher Nolan, MULHOLLAND DRIVE (2001) von David Lynch, ADAPTION (2002) von Spike Jonze, THE HOURS (2002) von Stephen Daldry und TRAFFIC (2004) von Eric Bross und Stephen Hopkins. Sie sind drei zentralen Kapiteln zugeordnet. Im ersten geht es um erstaunliche Wendungen (Begriff: „Unzuverlässige Erzählungen“), im zweiten um andere Zeiten („Nichtchronologische Erzählungen“), im dritten um vielfältige Welten („Mehrere Handlungsstränge“). Es wird jeweils nachgewiesen, wie alte Geschichten mit aktuellen Strategien neu aufgeladen werden.

Einen interessanten Gedanken verfolgt in diesem Zusammenhang Jan Füchtjohann in seiner Rezension des Buches für die Süddeutsche Zeitung: „(…) Das Buch singt ein Loblied auf das Zeitalter der DVD. Die neue Komplexität im Film und das neue Speichermedium entstanden fast zur gleichen Zeit. Ende 1996 kamen in Japan die ersten DVD-Player auf den Markt, 2006 gab es sie in siebzig Prozent der deutschen Haushalte. So wurde ein Millionenpublikum in die Lage versetzt, Szenen ohne Qualitätseinbuße zwei-, drei- oder zehnmal anzusehen; dazu gab es Platz für Regiekommentare, neue Schnitte und alternative Enden.

Der Regisseur David Fincher versteckte in FIGHT CLUB einzelne Bilder, die beim normalen Ansehen nicht bewusst wahrnehmbar waren, die also gezielt angesteuert werden mussten – ‚DVD moments’ nannte er das. Dank der DVD ließen sich Filme also endlich in verschiedenen Geschwindigkeiten, sowie immer wieder neu und anders lesen. Damit hatten zahlreiche Innovationen etwas Altes zurückgebracht: Es wurde möglich, mit Filmen umzugehen wie mit Büchern. Darum greift Krützen bei ihrer Analyse auf eine an literarischen Texten entwickelte Erzählforschung zurück.

Wenn der etwas schlichte FORREST GUMP berichtet, er müsse sich um Geld keine Sorgen mehr machen, ein Freund habe für ihn erfolgreich in ‚irgendwas mit Obst’ investiert, macht die Rückblende seine Naivität offensichtlich: der Brief der ‚Obstfirma’ trägt das Logo des Technologie-Unternehmens Apple. Eine ‚unzuverlässige Erzählung’ nennt Krützen das, und nutzt damit einen aus der Literaturwissenschaft stammenden begriff. Auf die Spitze treiben diese Stilmittel dien oft charmant als ‚Mindfuck’ bezeichneten Filme wie THE SIXTH SENSE, THE USUAL SUSPECTS oder FIGHT CLUB. Hier offenbart sich die Unzuverlässigkeit der Erzählung erst ganz zum Schluss: ein ‚last act twist’ zwingt die Zuschauer, alles noch einmal anzusehen und anders zu interpretieren – und sei es nur im Kopf.

Zu einer solchen Neuordnung fordern auch nicht chronologisch erzählte Geschichten wie PULP FICTION, MEMENTO oder TWELVE MONKEYS heraus; oder die Fülle von Handlungsträgern, die man aus SHORT CUTS, TRAFFIC und THE HOURS kennt. Der Filmwissenschaftler Thomas Elsaesser fasst die gesamte Entwicklung perfekt zusammen: Die Erzählungen aus Hollywood, die früher ‚exzessiv offensichtlich’ waren, durften ‚exzessiv rätselhaft’ werden.

Inzwischen wirkt ein ‚Mindfuck’-Film wie der 2010 in die Kinos gebrachte INSEPTION on Christopher Nolan seltsam altmodisch. Dass über diese Art des Erzählens die Dämmerung hereingebrochen ist, dafür ist das besprochene Buch selbst ein Indiz. Denn entwirren und verstehen kann man das Neue nur, wenn seine überwältigende Präsenz nachgelassen hat. Und tatsächlich sinkt heute auch der Stern der DVD, die mit der Zeit von Blueray-Disc und immer schnelleren und besseren Downloads abgelöst wird. (…)“ (Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 2011)

Einen Hinweis verdient auch Michaela Krützens Buch von 2007: „Väter, Engel, Kannibalen. Figuren des Hollywoodkinos“. Es war mein Buch des Monats Mai 2007.