Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
August 2022

Oksana Bulgakowa/Roman Mauer (Hg.)
Dinge im Film
Stummer Monolog, verborgenes Gedächtnis
Wiesbaden, Springer VS 2022
474 S., 54,99 €
ISBN 978-3-658-35260-8

Oksana Bulgakowa/Roman Mauer (Hg.):
Dinge im Film.
Stummer Monolog, verborgenes Gedächtnis

Es sind nicht nur handelnde Personen, die wir im Film sehen, sondern Schauplätze, sowie Objekte und Dinge, die in den verschiedenen Genres unterschiedliche Bedeutungen haben können. Zwanzig Texte thematisiere das in einem sehr lesenswerten Buch, das Oksana Bulgakowa und Roman Mauer herausgegeben haben.

In ihrem Vorwort schreibt die Herausgeberin: „Die Beiträge dieses Bandes versuchen, Dinge nicht als materielle Kultur vergangener Zeit, die der Film konserviert, nicht als objektivierte Ideen, sondern als handelnde Personen zu betrachten, in die Monologe der Dinge hineinzuhorchen und zu verfolgen, welche Interaktionen Dinge im Film auslösen, mit welchen Bedeutungen und emotionalen Färbungen sie in verschiedenen Genres und Filmen aus diversen Epochen versehen werden, ob sich diese Bedeutungen geändert haben und was diese Änderungen bestimmt. Wie wird die Wahrnehmung eines Dinges, der Umgang mit ihm und seine affektive Ladung mit filmischen Mitteln inszeniert?“ (S. 9).

Die zwanzig Beiträge fügen sich zu einem weiten Spektrum. Jörg Schweinitz beginnt mit dem Vogelkäfig und seiner symbolischen Bedeutung im Kino der 1920er und frühen 30er Jahre. Unter den Filmen, die er analysiert, findet man THE SCARLET LETTER von Victor Sjöström, DER BLAUE ENGEL von Josef von Sternberg, BERLIN ALEXANDERPLATZ von Piel Jutzi, CITY GIRL von F. W. Murnau und GREED von Erich von Stroheim. – Anna Muza beschreibt melodramatische Dinge auf der Bühne und im Film. Dazu gehören Rasiermesser, Pistolen, Briefe, Medaillons, Schatullen, Pantoffeln. Ihre Theaterautoren sind vor allem Ibsen und Tschechow, zu den Filmbeispielen gehören ORPHANS OF THE STORM von D. W. Griffith und ALL THAT HEAVEN ALLOWS von Douglas Sirk. – Margrit Thröhler reflektiert über die filmische Gegenwärtigkeit der Dinge und stellt dabei Jean Epstein in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. – Bei Oksana Bulgakowa ist dies Sergej Eisenstein in Verbindung mit Sergej Tretjakow und sein Film OKTOBER, den er im Winterpalais drehen durfte mit der Zugriffsmöglichkeit auf alle Requisiten. Dinge definierten den sozialen Raum und die Zeit.

Norbert Grob beschreibt „die Rede der Dinge“ in Fritz Langs Films Noirs jenseits des Anthropozentrischen. Handlungsträger sind hier zum Beispiel ein Hut, ein Revolver, ein Dessertteller, eine Cremetorte, ein Frauen-Porträt, Stichwaffen, Zeitungstitel, Briefe, Koffer, konkret in sieben Filmen, von YOU ONLY LIVE ONCE bis BEYOND A REASONABLE DOUBT. – Simon Spiegel lenkt unseren Blick auf Dinge im Science-Fiction-Film: „Things to come“. Sie haben hier eine grundlegende Bedeutung. Zwei Filme werden ausführlich gewürdigt: THE THING FROM ANOTHER WORLD (1951) von Christian Nyby und THE THING (1983) von John Carpenter. – Ann-Christin Eikenbusch beschäftigt sich mit der dinglichen Cinéphilie und der Ausstellungspraxis im Musée du Cinéma von Henri Langlois in Paris. Wunderbar!

Laura-Katharina Mücke unterscheidet bei der filmischen Leinwand zwischen semipermeabler Projektionsfläche und ephemerem Ding. Zu den Filmbeispielen gehören CINEMA PARADISO, SHERLOCK JR. und THE AVIATOR. – Bei Philipp Scheid geht es um den Zusammenhang der Dinge und die Entschlüsselung des kriminalistischen Codes an Crazy Walls. – Nils Jönck und Winona Wilhelm informieren über das Fenster im Film als mediale Schwelle im Spannungsfeld der Räume. Filmbeispiele: POSSESSED von Clarence Brown, ARRIVAL von Denis Villeneuves, DREI FARBEN: BLAU von Krzysztof Kieslowski. – Roman Mauer und Elisabeth Sommerlad analysieren die Verbindung zwischen Kartographie, animierten Karten und Film, unter den Beispielen findet man verschiedene James Bond-Filme, M von Fritz Lang, THE 39 STEPS von Alfred Hitchcock, CASABLANCA von Michael Curtiz und die Serie GAME OF THRONES. Interessant ist die unterschiedliche Materialität von Karten. – Christian Alexius widmet seinen Text der Eisenbahn im Film als protokinematografischem Phänomen und motivischer Konstante, als Schauplatz und beweglichem Gegenstand bis hin zur Spielzeugeisenbahn. – Vasco V. Ochao befasst sich mit dem Mikrofon im Film. Auditive Transformationen von Figuren, Raum und Zeit können im Tonstudio, auf der Konzertbühne oder auch beim Drehen eines Films stattfinden. Beispiele: THE KING’S SPEECH von Tom Hooper, BOHEMIAN RHAPSODY von Bryan Singer und Dexter Fletcher, THE CONVERSATION von Francis Ford Coppola. – Das Mobiltelefon taucht im Film in den verschiedensten Formen und Funktionen auf. Andreas Rauscher entdeckt viele Varianten, u.a. in LOST HIGHWAY von David Lynch, in mehreren James Bond-Filmen, in PASSION von Brian De Palma.

Zu den ikonischen Dingen im Film gehören die Zigarette, die Zigarre und die Pfeife. Roman Mauer verweist auf ihre unterschiedliche Bedeutung in den Genres Komödie, Kriegsfilm, Western, Kriminalfilm und Film Noir, Coming-of-Age-Film. Die konkreten Beispiele sind zahlreich. – Maryna Zaporozhets schaut auf die Sonnenbrille im Film, die der Mystifizierung und Enthüllung dienen kann. Zu ihren Beispielen gehören THE INVISIBLE MAN von James Whale, CHUNGKING EXPRESS von Wong Kar-Wai und JOHN CARPENTER’S THEY LIVE. – Der Regenschirm im Film kann Ornament, Abschirmung oder Fluginstrument sein. Lea Nover beweist das u.a. an LES PARAPLUIES DE CHERBOURGH von Jacques Demy, dem Kurzfilm THE BLUE UMBRELLA von Saschka Unseld und MARY POPPINS von Robert Stevenson. – Der MacGuffin ist nach einer Definition von Alfred Hitchcock eine Finte, ein Trick, oft ein Objekt, das die Handlung eines Films verändert. Lucas Curstädt macht sich zusammen mit Slavoj Žižek auf die Suche. – Die Kerze spielt im Film eine facettenreiche Rolle „zwischen Leben und Tod, Gut und Böse, Licht und Dunkelheit, Entdecken und Verbergen, Zukunft und Vergangenheit, weiblich und männlich, Körper und Ding“, wie Carina Silvia Manger mit Szenen aus DER MÜDE TOD von Fritz Lang, THE SCARLET EMPRESS von Josef von Sternberg, HOME ALONE von Chris Columbus oder DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖZERN von Fritz Genschow zeigt. – Und am Ende geht es um das Spielzeug im Film zwischen motivischer Verdichtung, Kommerzialität und Nostalgie. Zu den Beispielen, die Michael Brodski nennt, gehört auch die Glaskugel in CITIZEN KANE von Orson Welles.

Alle Texte erfüllen wissenschaftliche Ansprüche, es gibt am Ende immer Literaturlisten. Die Filmbeispiele sind international ausgewählt und reichen zurück bis in die Anfänge. Das Niveau der Texte ist sehr hoch, aber es werden auch trivialere Filme behandelt. Das Schöne bei der Lektüre sind die persönlichen Erinnerungen an Dinge im Film, die hier genannt werden, und an die zahllosen anderen, an die man beim Lesen denkt. So entstehen im Kopf Fragmente für ein Lexikon der filmischen Objekte, das es bisher noch nicht gibt.

Mit Abbildungen in sehr unterschiedlicher Qualität.

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