Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
März 2023

Nicolai Hannig, Anette Schlimm, Kim Wünschmann (Hg.)
Deutsche Filmgeschichten
Historische Porträts
Göttingen 2023, Wallstein Verlag
288 S., 32,00 €
ISBN 978-3-8353-5364-0

Nicolai Hannig, Anette Schlimm, Kim Wünschmann (Hg.):
Deutsche Filmgeschichten.
Historische Portraits

39 deutsche Filme werden in diesem Buch aus der Perspektive der Geschichts­wissenschaft analysiert. Wie ergiebig sind sie als historische Quellen? Was vermitteln die Bilder von Spiel- und Dokumentarfilmen von der Realität ihrer Zeit? Welche konkrete Bedeutung haben sie im Blick zurück auf ihre Entstehungsjahre?

Dies sind die 39 Filme, die im Buch in chronologischer Folge analysiert werden, mit der jeweiligen Autorin oder dem Autor des Textes und der Überschrift:

Für die Zeit der Weimarer Republik: WEGE ZU KRAFT UND SCHÖN-HEIT (1925), Kulturfilm von Wilhelm Prager, beschrieben von Maren Möhring, Historikerin an der Universität Leipzig („Bewegte und bewegende Bilder“). – METROPOLIS (1927) von Fritz Lang mit Gustav Fröhlich und Brigitte Helm, analysiert von Norbert Finzsch, Historiker an der Universität Köln, 2016 emeritiert („Die multiplen musikalischen Leben eines Meisterwerks“). – WESTFRONT 1918 (1930) von G. W. Pabst, beschrieben von Martin Baumeister, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom („Im Schatten von Milestone und Remarque“). – REVOLTE IM ERZIEHUNGSHAUS (1930) von Georg Asagaroff mit Carl Ballhaus und Toni van Eyck, analysiert von Wilfried Rudloff, Historiker an der Universität Kassel („Das Stück, der Film und die zyklische Wiederkehr der Empörung“). – MÄDCHEN IN UNIFORM (1931) von Leontine Sagan mit Hertha Thiele und Dorothea Wieck, beschrieben von Simone Derix, Historikerin an der Universität Erlangen-Nürnberg („Die Entdeckung der Homoerotik“). – MAN BRAUCHT KEIN GELD (1932) von Carl Boese mit Hedy Lamarr und Heinz Rühmann, analysiert von Winfried Süß, Historiker an der Universität Potsdam („Kapitalismuskritik mit Heinz Rühmann“).

Für die Zeit des Nationalsozialismus: ABBRUCH DER SYNAGOGE (1938) Dokumentarfilm, beschrieben von Kim Wünschmann, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden Hamburg („Bewegte Bilder der Zerstörung jüdischen Lebens in München“). – OLYMPIA (1938), zweiteiliger Film von Leni Riefenstahl, analysiert von Olaf Stieglitz, Historiker an der Universität Leipzig („Fallende Pferde oder Tiere als strategische Unterhaltungsträger“). – STROMSPAREN/KOHLENKLAU (1943), beschrieben von Reinhold Reith, Historiker an der Universität Salzburg („Propaganda in der Kriegswochenschau“).

Für die Nachkriegszeit: FILM OHNE TITEL (1948) von Rudolf Jugert mit Hans Söhnker und Hildegard Knef, analysiert von Martin H. Geyer, Historiker an der Universität München („Das Leben im Ausnahme-zustand als Komödie und Romanze“).

Für die Fünfzigerjahre: 1. APRIL 2000 (1952) von Wolfgang Liebeneiner mit Hilde Krahl und Josef Meinrad, beschrieben von Massimo Perinelli, Historiker und Referent für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung („Geschichts­verdrehung im Österreich-Film“). – ERNST THÄLMANN. SOHN/FÜHRER SEINER KLASSE (1954/55) von Kurt Maetzig mit Günther Simon, analysiert von Jan Neubauer, Historiker an der Universität Augsburg („Der DEFA-Zweiteiler als kommunistische Familiengeschichte“). – SISSI (1955) von Ernst Marischka mit Romy Schneider und Karlheinz Böhm, beschrieben von Claudia Moisel, Historikerin an der Universität München („Abschied vom Mythos oder How to be French“). – DIE HALBSTARKEN (1956) von Georg Tressler mit Horst Buchholz und Karin Baal und BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER… (1957) von Gerhard Klein mit Ekkehard Schall und Ilse Pagé, analysiert von Ralph Jessen, Historiker an der Universität Köln („Jugend als Problem und Projektion“). – DAS WIRTSHAUS IM SPESSART (1958) von Kurt Hoffmann mit Lieselotte Pulver und Carlos Thompson, beschrieben von Sabine Freitag, Historikerin an der Universität Bamberg („Dunkler Wald und dunkle Vergangenheit“).

Für die Sechziger Jahre: der Kurzfilm MALARIA (1962), analysiert von Julia Tischler, Historikerin an der Universität Basel („Chemie statt Dekolonisierung“). – DER GETEILTE HIMMEL (1962) von Konrad Wolf mit Renate Blume und Eberhard Esche, beschrieben von Ute Schneider, Historikerin an der Universität Duisburg („Eine tragische Liebesgeschichte zwischen Ost und West“). – Die Satire GENOSSE MÜNCHHAUSEN (1962) von Wolfgang Neuss, analysiert von Hans-Peter Ullmann, Historiker an der Universität Köln („Wolfgang Neuss‘ ‚grandioses Kabarett‘“). – ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN (1968) von May Spils mit Werner Enke und Uschi Glas, beschrieben von Nicolai Hannig, Historiker an der Technischen Universität Darmstadt („Im Kino mit der Neuen Münchner Gruppe“). – JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN (1969) von Peter Fleischmann mit Martin Sperr und Angela Winkler, analysiert von Magnus Altschäfl, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität München („Dunkelbayern“).

Für die Siebziger Jahre: ALICE IN DEN STÄDTEN (1974) von Wim Wenders mit Rüdiger Vogler und Yella Rottländer, beschrieben von Alexander Nützenadel, Historiker an der Humboldt-Universität Berlin („Heimatfragmente, urbane Landschaft und Mobilität“). – FAUST-RECHT DER FREIHEIT (1975) von Rainer Werner Fassbinder mit Peter Chatel und Karlheinz Böhm, analysiert von Felix de Taillez, Referent der Präsidentin der Universität der Bundeswehr, München („Homosexuelle Lebensformen und gesellschaftliches Machtgeflecht“).

Für die Achtziger Jahre: SOLO SUNNY (1980) von Konrad Wolf und Wolfgang Kohlhaase mit Renate Krößner, beschrieben von Paul Betts, Historiker an der University of Oxford („Individuality, Performance and the Quest for an Alternative Life in the GDR“). – DIE BLEIERNE ZEIT (1981) von Margarethe von Trotta mit Jutta Lampe und Barbara Sukowa, analysiert von Petra Terhoeven, Historikerin an der Unive-rsität Göttingen („Von ‚großen Frauen der Weltgeschichte‘?“). – MEPHISTO (1981) von István Szabó mit Klaus-Maria Brandauer, beschrieben von Nicholas Stargardt, Historiker an der University of Oxford („From Flawed to Sublime Film“). – DIE WEISSE ROSE (1982) von Michael Verhoeven mit Lena Stolze und Wulf Kessler, analysiert von Hans Günther Hockerts, emeritierter Historiker an der Universität München („Wie ein Nachspann Justizgeschichte schrieb“). – HEIMAT (1984) von Edgar Reitz mit Marita Breuer und Dieter Schaad, beschrieben von Christoph Cornelißen, Historiker an der Universität Frankfurt am Main („‘Manchmal bedauere ich, dass ich meinen Film HEIMAT genannt habe‘“). – VORSPIEL (1987) von Peter Kahane mit Susanne Hoss und Hendrik Duryn, analysiert von Christiane Kuller, Historikerin an der Universität Erfurt („Mit dem Rücken zur Leinwand“).

Für die Neunziger Jahre: SCHTONK! 1992) von Helmut Dietl mit Uwe Ochsenknecht und Götz George, beschrieben von Annemone Christians-Bernsee, stellvertretende Direktorin des NS-Dokumenta-tionszentrums Köln („Eine filmische Katharsis der Bonner Republik“).

Für die 2000er Jahre: DER SCHUH DES MANITU (2001) von und mit Michael Herbig, analysiert von Juliane Hornung, Historikerin an der Universität Köln („Männlichkeitsvorstellungen, Sexualität und Gesellschaftspolitik“). – GOOD BYE, LENIN! (2003) von Wolfgang Becker mit Daniel Brühl und Katrin Sass, beschrieben von Andreas Daum, Historiker an der State University of New York at Buffalo („Coping with Change – and the Future in the Counterfactual“). – DER UNTERGANG (2004) von Oliver Hirschbiegel mit Bruno Ganz und Ulrich Matthes, analysiert von Jost Dülffer, emeritierter Historiker der Universität Köln („Die Fiktion des authentischen Spielfilms“). – Der Dokumentarfilm FULL METAL VILLAGE (2006) von Cho Sung-Hyung, beschrieben von Anette Schlimm, Historikerin an der Universität Heidelberg („Ein Heimatfilm zwischen Jungvieh und Dixiklo“). – Die Serie MORD MIT AUSSICHT (2008-2014) mit der Hauptkommissarin Sophie Haas als zentraler Figur, analysiert von Britta von Voithenberg, Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität München („Langeweile und kein Netz – ein Erfolgsrezept“). – DAS WEISSE BAND. EINE DEUTSCHE KINDERGESCHICHTE (2009) von Michael Haneke mit Christian Friedel, beschrieben von Theresia Bauer, Historikerin an der Universität München („Über-legungen zur Figurenkonstellation im Hinblick auf die soziale Lage“).

Nach 2010: BARBARA (2012) von Christian Petzold mit Nina Hoss, analysiert von Andreas Wirsching, Historiker am Institut für Zeit-geschichte in München („Beredsamkeit durch Schweigen“). – DER HAUPTMANN (2017) von Robert Schwentke mit Max Hubacher, beschrieben von Emanuel V. Steinbacher, Historiker an der Universität München („Gewaltstrukturen und Täterschaften in einer pervertierten Köpenickiade“). – Die ZDF-Serie SCHLAFSCHAFE (2021), analysiert von Benedikt Sepp, Historiker an der Universität München („Wie verfilmt man keine Verschwörung?“).

Die Texte haben jeweils eine Länge von fünf bis zehn Seiten. Sie vermitteln Produktionshintergründe, beschreiben Inhalte, verweisen auf formale Besonderheiten, stellen die Filme in größere Zusammen-hänge. Oft werden zeitgenössische Kritiken zitiert. Zu den Qualitäten gehört auch die Fokussierung auf das Wichtige und der Verzicht auf Abschweifungen.

Wenn ich zwölf Texte nennen soll, die mir besonders gut gefallen haben, dann sind dies: Maren Möhring über WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT, Simone Derix über MÄDCHEN IN UNIFORM, Martin H. Geyer über FILM OHNE TITEL, Ralph Jessen über DIE HALB-STARKEN und BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER…, Uta Schneider über DER GETEILTE HIMMEL, Nicolai Hannig über ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN, Alexander Nützenadl über ALICE IN DEN STÄDTEN, Paul Betts über SOLO SUNNY, Petra Terhoeven über DIE BLEIERNE ZEIT, Christoph Cornelissen über HEIMAT, Theresia Bauer über DAS WEISSE BAND, Andreas Wirsching über BARBARA.

Natürlich kann man über die Auswahl der Filme streiten. Ich vermisse zum Beispiel MENSCHEN AM SONNTAG (1930) von Robert Siodmak und Edgar Ulmer, UNTER DEN BRÜCKEN (1944/45) von Helmut Käutner (es gibt keinen Spielfilm aus der NS-Zeit), ABSCHIED VON GESTERN (1966) von Alexander Kluge, LOLA RENNT (1998) von Tom Tykwer. Aber: „Die Filmauswahl dieses Buches erhebt keineswegs den Anspruch, einen Kanon historisch relevanter Filme zu präsentieren. Vielmehr geht der Band exemplarisch vor und spürt am Beispiel unterschiedlicher Produktionen und Themen dem Quellenwert deutscher Filme nach.“ (Nicolai Hannig, Anette Schlimm und Kim Wünschmann im Vorwort, S. 16).

Mit Personen- und Filmregister, ohne Abbildungen.

Das Buch ist der Historikerin Margit Szöllösi-Janze aus Anlass ihrer Emeritierung gewidmet.

Mehr zum Buch: www.wallstein-verlag.de/9783835353640-deutsche-filmgeschichten.html