Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
August 2012

Olaf Brill
Der CALIGARI-Komplex
belleville, München 2012
432 S., 38,00 €
ISBN 978-3-923646-77-7

Olaf Brill:
Der CALIGARI-Komplex

CALIGARI, NOSFERATU und METROPOLIS sind drei Schlüsselwerke der deutschen Stummfilmgeschichte. Kann man zu ihnen faktisch oder analytisch noch etwas Wichtiges beitragen? Ist nicht schon alles gesagt und geschrieben worden? Im Falle CALIGARI gab es über die Jahrzehnte immer wieder neue, sich zum Teil auch widersprechende Informationen, während sich die Quellenlage zunehmend verbesserte. Da musste mal jemand für Ordnung sorgen – und das hat Olaf Brill mit Erfolg getan.

DAS CABINET DES DR. CALIGARI, uraufgeführt am 26. Februar 1920, war kein klassischer Autorenfilm, sondern eine komplizierte Gruppenarbeit, an der viele Kreative ihren Anteil hatten: die beiden Drehbuchautoren Hans Janowitz und Carl Mayer, der Regisseur Robert Wiene, die Filmarchitekten/Maler Hermann Warm, Walter Reimann und Walter Röhrig, die Produzenten Erich Pommer und Rudolf Meinert. Sie alle haben später, als der CALIGARI-Film zum Klassiker des Expressionismus geadelt worden war, ihre Anteile am künstlerischen Erfolg subjektiv hochgerechnet und dafür die entsprechende Anerkennung eingefordert. Werner Krauß, einer der beiden Hauptdarsteller, meinte in seiner Autobiografie, am Erfolg des Films seien ohnehin nur die Schauspieler schuld: „Veidt und ich und die Dagover.“

Die vielen widersprüchlichen Aussagen haben den Filmhistoriker Olaf Brill (* 1967) neugierig gemacht und seine detektivischen Fähigkeiten aktiviert. Erst entstand 1995 eine Magisterarbeit („Die Caligari-Legenden: Untersuchung der Entstehungsgeschichte des Films DAS CABINET DES DR. CALIGARI aus der Sicht der Erzählforschung“), dann eine Dissertation, mit der Brill 2003 an der Universität Bremen promoviert hat. Inzwischen gehört er zum Team von CineGraph Hamburg. 2010 hat der Verleger Michael Farin das Potential des CALIGARI-Komplexes erkannt, jetzt liegt die Publikation vor. Sie hat, wenn man sie in der Hand hält, das Gewicht eines Schlüsselwerks.

Teil 1 (S. 13-110) ist eine genaue Filmanalyse. Sie geht von zeitgenössischen filmsprachlichen Standards aus, setzt sich mit expressionistischen Filmen vor CALIGARI auseinander, zieht damalige Entwicklungen in Hollywood zum Vergleich heran und richtet dann den Blick aufs Detail: Einführungseinstellungen, Bewegungen, Räume, Figuren, Requisiten, subjektive Kamera, Parallelmontagen, Rückblenden, Titel und Textinserts, Viragierung, Licht und Schatten. Am Ende wird der Film ins Genre des Psycho-Thrillers eingeordnet.

Teil 2 (S. 113-251) erzählt die Entstehungs-geschichte. Hier ist Brill als detektivischer Ermittler gefragt, der, mit dem vorliegen-den Archivmaterial bestens vertraut, viele Widersprüche zwischen den beteiligten Künstler aufklären kann, beginnend mit einem realen Mord am Holstenwall, den der Autor Janowitz 1913 relativ unmittelbar erlebt hatte und der zum Nukleus des CALIGARI-Drehbuchs wurde. Das Drehbuch selbst, von dem sich seit 1977 ein Exemplar im Bestand der Deutschen Kinemathek befindet, unterscheidet sich in vielen Aspekten vom fertigen Film, die von Brill benannt und, soweit möglich, erklärt werden. Ausführlich wird natürlich die Produktionsgeschichte konkretisiert, die durch wichtige zeitgleich realisierte Filme beeinflusst war. Ein spezielles Drama war der Aufstieg und Tod der Schauspielerin Gilda Langer, die die Hauptrolle im CALIGARI-Film hätte spielen können, aber Ende Januar 1920 ein Opfer der Spanischen Grippe wurde. Auch die „drei Maler“ und die prominente Besetzung bekommen ihre Geschichte, gefolgt von der Werbekampagne („Du musst Caligari werden!“) und der Uraufführung.

Teil 3 (S. 255-303) handelt von der Wirkung des Films – was der Erfolg für die Hauptbeteiligten bedeutete, welche unmittelbaren Folgefilme entstanden und welche späteren Remakes, vor allem aber welche Interpretationen der Film auslöste, polarisiert zwischen der ideologisch-politischen von Siegfried Kracauer („From Caligari to Hitler“) und der ästhetischen von Lotte H. Eisner („L’Ecran Démoniaque“).

Im Anhang sind 24 Uraufführungs-Kritiken nachgedruckt und das Programmheft zum Filmstart; dazu: ein präzises Einstellungsprotokoll, die filmografischen Daten und die vorliegende Literatur.

Es versteht sich von selbst, dass den Autor sein Hang zur Genauigkeit auch zu Redundanzen verleitet, dass es entbehrliche Details gibt, auf die man hätte verzichten können. Andererseits hat Brill für die Komplexität seines Themas eine sehr gute Struktur gefunden, die ihm beim Ordnen der Sachverhalte hilfreich war und dem Leser die Orientierung erleichtert. Man kann das Buch auch lesen, ohne im Einzelfall die 856 Anmerkungen und Quellenhinweise zu konsultieren. Es enthält 249 meist sehr gute Abbildungen, bei der Filmanalyse sind sie ein bisschen klein geraten.  .

In jedem Jahr seit 1986 verleiht der Bundesverband kommunale Filmarbeit (inzwischen zusammen mit der Zeitschrift film-dienst) während der Berlinale den „Caligari-Filmpreis“  für einen thematisch und stilistisch innovativen Film in der Sektion „Berlinale Forum“. Da kann es nicht schaden, sich genauer über den Film zu informieren, der dem Preis seinen Namen gab.