Filmbuch des Jahres
1983
Alexander Kluge (Hg.)
Bestandsaufnahme: Utopie Film
Zweitausendeins, Frankfurt 1983
592 S. (20 DM)
ISBN: -
Alexander Kluge (Hg.):
Bestandsaufnahme: Utopie Film
Zwanzig Jahre neuer deutscher Film. Das Motto: „Auf der Ebene der fünf Sinne gibt es keinen Handel“. 52 Mitarbeiter sollen drei Jahre an diesem Buch gearbeitet haben.
»Die Collage aus Essays, Stellungnahmen, Interviews, Zitaten, Thesen und Bildern ist das Ergebnis eines Gemeinschaftsunternehmens. Die umfangreiche Autorenliste reicht von Produzenten über Regisseure bis zu Kritikern beiderlei Geschlechts. Das Buch tritt durchaus mit dem Anspruch auf, einen ›Querschnitt‹ durch die Filmszene der BRD zu geben. Wie bei anderen Kollektivprodukten, an denen Kluge beteiligt war, ist er auch hier als beherrschende Instanz präsent.(… ) Die ›Bestandsaufnahme‹ wird zu einem fesselnden Dialog. Aber es bleibt der Wunsch, daß mehr Autoren angesprochen worden wären. So fehlen in dieser Sammlung absolut unverzichtbare Aspekte, ohne die eine gründliche und prägnante Darstellung des Neuen deutschen Films nicht denkbar ist.« (Eric Rentschler, epd Kirche und Film, Dezember 1983).
Der Theater- und Filmkritiker Wolfgang Ruf schrieb im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt:
„Das Buch ist Alexander Kluges vertrackt dialektisch-zugespitzten Filmen nicht unähnlich strukturiert. Mit seinen eigenwilligen Illustrationen (und den eigensinnigen Bildunterschriften), den überraschend treffenden Zitaten von den Brüdern grimm bis zu Arno Schmidt verführt es schon beim ersten Blättern zum konzentrierten Lesen. Es gleich eher einer intellektuellen, auch sinnlichen, Odyssee durch die immer unüberschaubarer werdende Film- und Kinoszene, genauso verschlungen, widersprüchlich und zum Widerspruch auffordernd wie sein Gegenstand.
Eher peinlichen Widerspruch löste das Buch – bezeichnend für das bereits herrschende Klima, wo das Oben sich im Unten spiegelt – schon bei den direkt Betroffenen aus: Eines der konkretesten Kapitel, das Ergebnis einer Umfrage zu den Arbeitsbedingungen und -problemen der Filmarbeiterinnen, regte deren Verbandsspitze gleich so auf, dass die Autorin gefeuert wurde und eine Zweitauflage wohl mit geschwärzten Seiten erscheinen wird. Ob es freilich außerhalb der Szene des „neuen deutschen Films“, der an einer Stelle des analogieverliebten Buchs mit der Firma Borgward kurz vor ihrer Zahlungsunfähigkeit verglichen wird, während die drohende Verkabelung der euphorische Autobahn-bau in den 30er Jahren illustriert, ähnliche oder gar nützlichere Wirkungen zeitigen wird, ist eher fraglich.
Denn so faktenreich und argumentationssicher der beeindruckende Reader auch ist – von Helmut Färbers groß angelegtem Essay ‚Das unentdeckte Kino‘ bis zu Alf Mayers bissiger Untersuchung zur Film-kritik in der Provinz oder Florian Hopfs sachkundiger Auseinander-setzung mit den drohenden Medienkonzernen – , so gewiss dürfte er vor allem bei denjenigen zum kritischen Lesevergnügen werden, zu denen der „neue deutsche Film“ und sein Kino den Durchbruch schon geschafft haben.
Ein Schleier nostalgischer Esoterik liegt über den zweifellos aus der Papierflut der einst so spärlichen Filmliteratur herausragenden Buch. Die Sehnsucht, in der Utopie das verlorene Kino der Kindheit aufzuheben, macht diesen Versuch einer Bestandsaufnahme zu einem Stück kollektiver Trauerarbeit. Die eingestreuten Thesen zu einer Vorwärtsstrategie haben angesichts der anonym sich ausbreitenden neuen Technologien etwas von den Beschwörungsformeln entschlossener Romantiker.
‚Radikal, dick, frech und schäbig‘, soll Rainer Werner Fassbinder sich dieses Buch gewünscht haben. Schäbig ist es nun mit seinem silbernen Prägedruck auf rotem Pappeinband und dem kultivierten Layout gewiss nicht geworden. In dieser Äußerlichkeit, die es freilich so anziehend macht, spiegelt sich womöglich seine Schwäche. Sein kulturkritischer Impetus taugt angesichts der herrschenden Verhältnisse kaum als Waffe, rettet bestenfalls die Utopie – ’sie wird immer besser, während wir auf sie warten“.
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 23. Oktober 1983