Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Dezember 2013

Marco Abel
The Counter-Cinema of the Berlin School
Camden House, Rochester, New York 2013
348 S., 60 Pfund
ISBN 978-1-57113-438-7

Marco Abel:
The Counter-Cinema of the Berlin School

Es gibt kein Manifest, das sie verbindet, keine gemeinsame Ausbildungsstätte, keinen identischen Wohnort, und die betroffenen Regisseurinnen und Regisseure lehnen das Etikett, das man ihnen gegeben hat, eigentlich ab. Aber mehrere von ihnen waren jetzt in New York, wo das Museum of Modern Art eine Retrospektive veranstaltet hat mit dem Titel „The Berlin School“. Ihre Filme haben ästhetische Parallelen, sie grenzen sich formal vom deutschen Mainstream ab. Marco Abel, Associate Professor of English and Film Studies an der University of Nebraska, Lincoln, setzt sich jetzt mit ihnen auf hohem theoretischen Niveau auseinander. Amerika hat die „Berliner Schule“ entdeckt.

„Counter-Cinema“ ist zunächst einmal ein „Gegenkino“, es opponiert gegen Konventionen und traditionelle Erzählweisen. In seinem Einleitungskapitel rekapituliert Marco Abel das Entstehen des Labels „Berliner Schule“ (der Begriff wurde erstmals 2001 von dem Filmkritiker Merten Worthmann ins Spiel gebracht und dann von Rainer Gansera, Katja Nicodemus und Rüdiger Suchsland multipliziert), er zitiert bekennende Gegner der Filme (Doris Dörrie, Oskar Röhler, Günter Rohrbach) und verweist auf ihre eher geringen Zuschauerzahlen. Aber er formuliert auch seine eigene Faszination und sein Erkenntnisinteresse an einem Thema, das ihn fast zehn Jahre beschäftigt hat.

In seinem Hauptteil unterscheidet Abel bei der Berliner Schule zwei „Wellen“. Zur ersten rechnet er Thomas Arslan, Christian Petzold und Angela Schanelec, zur zweiten Christoph Hochhäusler, Benjamin Heisenberg, Valeska Griesebach, Maren Ade und Ulrich Köhler. Ein Zusammenhang zwischen Arslan (*1962), Petzold (*1960) und Schanelec (*1962) lässt sich natürlich in ihrer Ausbildungsstätte finden: sie haben alle drei die DFFB in Berlin besucht, Arslan von 1986 bis 1992, Petzold von 1988 bis 1994, Schanelec von 1990 bis 1995; sie haben während ihrer Ausbildung bei verschiedenen Filmen in unterschiedlichen Funktionen eng zusammengearbeitet; sie hatten Dozenten wie Harun Farocki, Hartmut Bitomsky, Peter Nestler, die sie offenbar gemeinsam geprägt haben. Jedem der Drei widmet Abel ein umfängliches Kapitel. Bei Arslan („Realism beyond Identity“) stellt er die Filme GESCHWISTER (1997), DER SCHÖNE TAG (2001) und IM SCHATTEN (2010) in den Mittelpunkt seiner Analyse. Aber auch alle anderen Filme, bis hin zu GOLD, werden mit einbezogen. Es sind immer wieder formale Eigenheiten, die für Abel im Zusammenhang auffällig sind. Das setzt sich im Kapitel über Christian Petzold fort („Heimat-Building as Utopia“), wobei hier auch spezielle Motive (Flucht, Geld, Grenzbereiche) vertiefend dargestellt werden. Auch die Rolle der Architektur in Petzolds Filmen kommt zur Sprache. Besonders ausführlich werden DIE INNERE SICHERHEIT (2000) und YELLA (2007) besprochen. Bei Angela Schanelec („Narrative, Understanding, Language“) geht es vor allem um die Sprache in ihren Filmen, ums Hören und Sehen, um lange Einstellungen und um das Ende von PLÄTZE IN DEN STÄDTEN (1998), MARSEILLE (2004) und ORLY (2010).

Der zweite Teil („The Second Wave“) beginnt mit einem kurzen Kapitel über die Filmzeitschrift Revolver, dann folgen die Texte zu Christoph Hochhäusler („Intensifying Life“), Benjamin Heisenberg („Filming Simply as Resistance“), Valeska Griesebacg („A Sharpening of Our Regard“), Maren Ade („Filming between Sincerity and Irony“) und Ulrich Köhler („The Politics of Refusal“). Man kann davon ausgehen, dass Abel alle Filme der genannten Regisseurinnen und Regisseure gesehen hat. Wenn er einzelne Filme stärker in den Vordergrund stellt, dann führt das zu Akzentuierungen und Zuspitzungen im Interesse der Leser. Der Materialreichtum ist bei 300 Seiten Inhalt noch groß genug. Besonders gut gefallen haben mir die Analysen von FALSCHER BEKENNER (Hochhäusler, 2005), SCHLÄFER (Heisenberg, 2005) und ALLE ANDEREN (Ade, 2009).

In der pflichtgemäßen „Conclusion“ heißt es am Ende, fast ironisch und sehr entspannt: „There ‚is’ indeed no Berlin School; but perhaps we may say that today one of the more urgent critical-utopian acts may very well be to posit that it will have been at some time-to-come. It was, in any case, in this explicit, ‚minor’, spirit that I conceptualized this book as a means to reframe the discussion of the Berlin School und postunification ‚Germany’, which, through the lens provided by these films, emerges as something fundamentally different than what the discourse of normalization and its dialectical other (‚resistance,’ as distinguished from absolute refusal) prefers it to be. And this, perhaps, justified my titular claim that the Berlin School directors are engaged in forging a genuine counter-cinema – a ‚minor’ cinema that in working on its present explicity refuses its term in the (utopian) hope, for another time-to-come.“

Erschienen bei Camden House in der Reihe „Screen Cultures: German Film and the Visual“, herausgegeben von Gerd Gemünden und Johannes von Moltke. Titelbild: Nina Hoss in dem Film YELLA (2007) von Christian Petzold.

Weitere Bücher zur „Berliner Schule“

Bild 1Zur Retrospektive im Museum of Modern Art ist ein großformatiges Buch erschienen, das der Leiter der dortigen Filmabteilung, Rajendra Roy, und die Berliner Film-journalistin Anke Leweke herausgegeben haben. Die zehn Texte stammen von Christoph Hochhäusler, Rainer Rother, Valeska Griesebach, Katja Nicodemus, Thomas Arslan, Dennis Lim und Benjamin Heisenberg. Viele Abbildungen und eine Liste mit weiterführender Literatur. Titelbild: Lars Eidinger in Maren Ades Film ALLE ANDEREN (2009).

2013.Berlin School GlossaryAuch im Verlag der University of Chicago Press ist – an einen Zufall will man nicht glauben – ein Buch über die Berliner Schule erschienen, herausgegeben von Roger F. Cook, Lutz Koepnick, Kristin Kopp und Brad Prager. 31 Schauplätze und Begriffe und ein Name (Devid Striesow) sind in diesem Buch aufgelistet und kommentiert: Ambient Sound, The Anti-Hauptstadt, Bad Sex, Beginnings, Borders, Boredom, Cars, The Cut, Disengagement, Dorfdiskos, Eclectic Affinities, Endings, Familiar Places, Forests, Framings, Ghosts, Hotels, Interiority, Interpellation, Landscape, Language, Long Takes, Pools, Predecessors, Renovation, Seeing and Saying, Siblings, Surveillance, Urban Miniatures, Violence, Wind. Ihre Auswahl ist zumindest originell. Dazu gibt es eine größere Einführung und einige Abbildungen.

2013.german_studies_reviewDas neue Heft der German Studies Review (36/3, 2013) ist dem Film DREI LEBEN gewidmet, an dem zumindest zwei Protagonisten der Berliner Schule beteiligt waren: Christian Petzold und Christoph Hochhäusler (der dritte Beitrag stammte von Dominik Graf). Autoren sind Gerd Gemünden, Marco Abel, Christina Gerhardt, Felix Lentz und Eric Rentschler.