Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Juni 2021

Joseph Garncarz
Begeisterte Zuschauer
Die Macht des Kinopublikums in der NS-Diktatur
Köln, Herbert von Halem 2021
356 S., 38,00 €
ISBN 978-3-86962-562-1

Joseph Garncarz:
Begeisterte Zuschauer.
Die Macht des Kinopublikums in der NS-Diktatur

Welche Vorlieben hatte das deutsche Kinopublikum in der Zeit des National­sozialismus? Folgte es den Empfehlungen der Politik oder erfüllte es sich im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten eigene Wünsche? Auf diese Fragen gibt der Filmwissenschaftler Joseph Garncarz in seinem Buch erstmals genauere Antworten.

Es ist statistisch verbürgt, dass in der Zeit zwischen 1933 und 1945 rund 7,6 Milliarden Kinokarten verkauft wurden. Aber es gibt keine Besucherzahlen für einzelne Titel. Knapp 2.000 Filme wurden in der NS-Zeit gezeigt. Erstmals wendet Joseph Garncarz zur Ermittlung konkreter Zahlen die komplizierte POPSTAT-Methode des britischen Wirtschaftswissenschaftlers John Sedgwick aus dem Jahr 2000 an, die im Buch genau erklärt wird und sich nur schwer in wenigen Sätzen vermitteln lässt. Berlin ist der Ort der zentralen Berechnung, eine wichtige Rolle spielt dabei die Berliner Morgenpost mit den täglichen Kinoanzeigen. Die methodischen Grundlagen und die Optimierung des POPSTAT-Verfahrens beschreibt der Autor auf 50 Seiten, die nicht einfach zu verstehen sind, aber glaubwürdig klingen.

Ein umfangreiches Kapitel ist dem Thema Kinopublikum, Filmwirt-schaft und Filmpolitik gewidmet. Hier geht es um das Verhältnis zwischen Filmpolitik und Filmproduktion in der NS-Zeit, um Kino-besucher und Filmanbieter, die Demografie des Kinopublikums, kulturelle Differenzierungen der Filmpräferenzen, Genrepräferenzen und die Präferenz für NS-nahe Filme. Auf zwanzig Seiten wird das Thema Hollywood und NS-Deutschland verhandelt, denn bis zum Kriegsbeginn spielte der amerikanische Film in den deutschen Kinos noch eine relativ große Rolle.

Ein eigenes Kapitel ist den Filmen der NS-Zeit außerhalb des NS-Staates gewidmet, speziell am Beispiel der OLYMPIA-Filme von Leni Riefenstahl, und den Präferenzen des deutschen Publikums der Nachkriegszeit.

Der Anhang enthält u.a. die Filmerfolgsranglisten der Spielzeiten 1933/34 bis 1944/45 (Top-100), die Liste der 100 erfolgreichsten Filme der NS-Zeit, eine Liste der Filmerfolge beim deutsch-jüdischen Publi-kum und bei Studenten, eine Liste der Top-Komödien, der deutsch-sprachigen Filme nach adressiertem Geschlecht, der Schauspieler/ innen nach ihrem Verdienst pro Film 1941-43, der Nachfrage nach Genres im Zeitverlauf, der Rentabilität der deutschen Filmproduktion und der Marktanteile verstaatlichter deutscher Filmfirmen.

Dies waren die zwölf erfolgreichsten Filme der NS-Zeit: ZIRKUS RENZ (1943) von Arthur Maria Rabenalt: 36,56 Mill. Zuschauer/innen. EIN GLÜCKLICHER MENSCH (1943) von Paul Verhoeven: 35,05 Mill. DIE GROSSE LIEBE (1942) von Rolf Hansen: 33,03 Mill. GLÜCK BEI DEN FRAUEN (1944) von Peter Paul Brauer: 30,81 Mill. ES FING SO HARMLOS AN (1944) von Theo Lingen: 30,35 Mill. OPERETTE (1940) von Willi Forst: 29,99 Mill. DIE GATTIN (1943) von Georg Jacoby: 29,01 Mill. GROSSSTADTMELODIE (1943) von Wolfgang Liebeneiner: 28,53 Mill. DIE GOLDENE STADT (1942) von Veit Harlan: 28,52 Mill. ANNELIE (1941) von Josef von Báky: 28,16 Mill. FRAUEN SIND DOCH BESSERE DIPLOMATEN (1941) von Georg Jacoby: 26,65 Mill. DIE GROSSE NUMMER (1943) von Karl Anton: 26,57 Mill.

Die höchsten Gagen als Schauspielerinnen in den Jahren 1941-43 bekamen Paula Wessely (Durchschnittsgehalt pro Film 130.000 Reichsmark), Jenny Jugo (92.000), Marika Rökk (72.000), Brigitte Horney (60.000), Kristina Söderbaum (50.000), Käthe Gold (42.000), als Schauspieler Hans Albers (120.000), Heinrich George (107.000), Rudolf Forster (94.000), Emil Jannings (93.000), Paul Hartmann (64.000), Werner Krauß (62.000).

Zwölf Säulen der Literatur über den Film des Nationalsozialismus sind für mich die Bücher von Gerd Albrecht („Nationalsozialistische Film-politik“, 1969), Dorothea Hollstein („Antisemitische Filmpropaganda“, 1971), Francis Courtade/Pierre Cadars („Geschichte des Films im Dritten Reich“, 1975), Erwin Leiser („Deutschland erwache!“, 1968/ 1989), Klaus Kanzog („Staatspolitisch besonders wertvoll“, 1994), Karsten Witte („Lachende Erben, Toller Tag“, 1995), Felix Moeller („Der Filmminister“, 1998), Sabine Hake („Popular Cinema of the Third Reich“, 2001), Eric Rentschler („Nazi-Cinema and its afterlife“, 2002), Manfred Hobsch („Film im Dritten Reich“, 2010), Rother/ Thomas („Linientreu und populär“, 2017) und Rainer Rother („Zeit-bilder. Filme des Nationalsozialismus“, 2019) – und natürlich die Ufa-Bücher von Bock/Töteberg und Kreimeier. Ihr Focus ist auf die Filme gerichtet und auf die Staatsmacht. Die Macht des Kinopublikums wurde nicht thematisiert. Mit seinem Buch gelingen Joseph Garncarz neue Einsichten in die Filmkultur der NS-Zeit, die unseren Blick auf jene Jahre weiter differenzieren.

Mit 59 Abbildungen und 24 Grafiken. Coverfoto: Kinobesucher erwarten Willy Fritsch vor dem Kölner Ufa-Palast am 25. August 1933 zur Premiere von SAISON IN KAIRO.

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