Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Mai 2019

Claudia Lenssen
Andres Veiel
Streitbare Zeitbilder
Marburg, Schüren Verlag 2019
320 S., 28 €
ISBN 978-3-89472-717-8

Claudia Lenssen:
Andres Veiel.
Streitbare Zeitbilder

Er gehört zu den wichtigsten Filmdokumentaristen in der Bundes-republik, realisiert auch Spielfilme mit politischer Thematik und inszeniert eigene Theater­stücke. Claudia Lenssen nennt die künstlerische Arbeit von Andres Veiel „Streitbare Zeitbilder“ und analysiert sie in ihrem Buch, das im Schüren Verlag erschienen ist.

Claudia Lenssen: „Dieses Buch verdankt sich meinem Interesse an Andres Veiels Vermögen, mit jedem seiner sehr unterschiedlichen Filme und Theater­stücke zu überraschen und von Begegnungen und Biografien zu erzählen, die über sich hinaus auf soziale und historische Bedingtheiten verweisen – offen genug, um im Nachhall neue Fragen auszulösen. Es verdankt sich auch meiner Neugier auf seine Doppel-existenz als Filmemacher und Theatermann, vor allem sein Credo, das beides gleichwertig, die Schauspielkunst wie das psychosoziale Rollen-spiel authentischer Protagonist*innen, verborgene und verdrängte Wahr­heiten ans Licht bringt. Im Wechselspiel zwischen dokumenta-rischen und fiktionalen Elementen entwickelt er für jedes seines Projekte eine eigene Form.“ (S. 8, Einführung).

„Interventionen“ ist das 55seitige Gespräch von Claudia Lenssen mit Andres Veiel überschrieben, das der Werkanalyse vorangestellt ist. Man spürt darin, die Vertrautheit der Autorin mit den Filmen und Theaterinszenierungen von Andres und kann sich beeindrucken lassen von seinen reflektierten Antworten auf die Fragen nach seinem Leben und seinem Werk.

Dies sind die (für mich) wichtigsten Filme und Theaterstücke von Andres Veiel, die in der Werkanalyse von Claudia Lenssen entspre-chend gewürdigt werden:

BALAGAN (1993/94) porträtiert den palästinensischen Schauspieler Khaled Abu Ali und die israelische Schauspielerin und Performerin Madi Smadar Yaaron, dokumentiert ihre Zusammenarbeit bei Aufführungen des Stückes „Arbeit macht frei“, das im Theaterzentrum Akko nördlich von Haifa inszeniert wurde und sich auf ungewöhnliche Weise mit dem Holocaust beschäftigt.

In dem Dokumentarfilm DIE ÜBERLEBENDEN (1994-96) werden die Biografien von drei Klassenkameraden rekonstruiert, die sich in den 80er Jahren das Leben genommen haben. Es ist ein Blick zurück in die Denkweisen der deutschen Provinz.

In dem Dokumentarfilm BLACK BOX BRD (2001) konfrontiert Veiel die Biografien des Bankmanagers Alfred Herrhausen, der durch 1989 einen Bombenanschlag getötet wurde, und des RAF-Terroristen Wolfgang Grams. Befragungen von Hinterbliebenen und Zeitzeugen machen die Polarisierung des Landes deutlich.

DIE SPIELWÜTIGEN (1996-2003) sind eine Langzeitbeobachtung von drei Studentinnen und einem Studenten der Hochschule für Schauspiel-kunst „Ernst Busch“ in Berlin während ihrer gesamten Ausbildung. Der Wille zum Erfolg, Zweifel, Frustration und Anstrengung werden physisch und psychisch deutlich. In der Werkanalyse ist diesem Film ein besonders beeindruckender Text gewidmet. DER KICK (2005) ist einerseits eine Theaterarbeit von Andres Veiel, realisiert am Theater Basel, und andererseits ein in seiner Form sehr spezieller Film, in dem eine Schauspielerin und ein Schauspieler auf einer Bühne zahlreiche Rollen spielen. Thematisiert wird die Ermordung eines Jugendlichen durch drei Neonazis in dem brandenburgischen Dorf Potzlow.

Der Spielfilm WER WENN NICHT WIR (2011) erzählt die Lebensge-schichten von Gudrun Ensslin, Bernward Vesper und Andreas Baader in den 60er Jahren in Tübingen und West-Berlin, also lange vor der RAF-Zeit. Eine wichtige Rolle spielen in dem Film die Väter und ihr Verhalten in der NS-Zeit. Auch für diesen Film hat Veiel intensiv recherchiert.

BEUYS (2017) ist ein Porträt des 1986 gestorbenen Künstlers, montiert aus dokumentarischem Material und Fotos, ohne Kommentar, mit Interviews von Kunsthistorikern, Zeitzeugen, Weggefährten. Natürlich bewegt man sich in diesem Film nicht auf einem gesicherten Boden, sondern muss mit vielen Widersprüchen umgehen, und es ist nicht unwichtig, welchen Sympathie-Bonus für Beuys man mitbringt.

Zwei jüngere Theaterarbeiten von Andres Veiel werden von Claudia Lenssen ausführlich gewürdigt: „Das Himbeerreich“ (2013) und „Let them eat money“ (2018); beide wurden für das Deutsche Theater in Berlin realisiert. Es geht inhaltlich um die Finanzwelt und um Fragen der Zukunft. Interessant sind jeweils die Formen der Bühnenpräsen-tation, die wenig mit traditionellen Theater­aufführungen zu tun haben.

Dreißig Jahre ist Andres Veiel – nach einem Studium der Psychologie und Ethnologie und Regieseminaren im Künstlerhaus Bethanien u.a. bei dem polnischen Regisseur Krzysztof Kieslowśki – inzwischen künstlerisch tätig. Die Werkanalyse von Claudia Lenssen macht deutlich, wie komplex und reflektiert er im Film und auf der Bühne arbeitet, wie intensiv er recherchiert und welche Bedeutung das Publikum für ihn hat. Gewalt, Geschichte, Ökonomie sind zentrale Themen für ihn, für ihre Darstellung sucht er nach eigenen Formen, die von der Autorin sehr differenziert beschrieben werden.

Im Oktober wird Andres Veiel sechzig Jahre alt. Irgendwann wird es hoffentlich eine aktualisierte Neuauflage dieses Buches geben, denn wir erwarten von ihm noch interessante Filme und Theaterarbeiten.

Mit Abbildungen in guter Qualität.

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