Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Mai 2021

Charlie Kaufman
Ameisig
München, Carl Hanser 2021
864 S., 34,00 €
ISBN 978-3-446-26833-3

Charlie Kaufman:
Ameisig

Dies ist der erste Roman des amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Charlie Kaufman, dessen Filme oft zwischen Traum und Realität wechseln. „Ameisig“ sprengt alle Konventionen des Erzählens, wenn wir den Autor begleiten bei seiner Suche nach der Erinnerung an einen unendlich langen Film, den er einmal gesehen hat und der dann verbrannt ist. Der Weg (860 Seiten) ist lang, aber wir gehen ihn durch ein Labyrinth der Film-, Literatur-, Kunst- und Menschheitsgeschichte.

Der Ich-Erzähler heißt Balaam (B.) Rosenberger Rosenberg, lebt in New York, ist Filmkritiker und Filmhistoriker, hält Vorlesungen, schreibt Bücher und Zeitungs­kritiken, liebt Godard und verachtet Charlie Kaufman. Bei einem Aufenthalt in Florida lernt er den 119 Jahre alten Regisseur Ingo Cutbirth kennen, der einen Film realisiert hat, dessen Vorführung drei Monate dauert. B. lässt sich auf das Abenteuer ein. Nach 17 Tagen stirbt Ingo. B. lädt das Filmmaterial für den Transport nach New York in einen Lastwagen. Unterwegs ver-brennt das Material, B. erleidet schwere Verletzungen, als er es retten will, überlebt aber und kehrt nach New York zurück. Da er Teile seines Gedächtnisses verloren hat, geht er zu dem Hypnotherapeuten Barassini, der die Erinnerungen an den Film zurückholen will. Dies gelingt nur partiell. B. verliert seine Arbeit als Filmkritiker, wird Verkäufer in einem Feinkostgeschäft und später von aufblasbaren Clownsmasken. Er begegnet Klonen von sich, einen bringt er um, in die Wohnung eines anderen zieht er ein, der Berg der Klone wächst.

In einem Raum mit einem Projektor findet B. haufenweise rechteckige Filmdosen. Es handelt sich offenbar um Ingos Film, auch wenn B. ihn ganz anders in Erinnerung hat. Er sieht sich alle Rollen an. Auf Rolle 6501 erscheint eine Person, die immer größer wird, auf Rolle 10008 schaut ihm Ingo in die Augen. Dann sagt er: „Du kannst nicht noch einmal sehen, was du gestern gesehen hast. Es ist nicht mehr da, und du bist es auch nicht. Wir sind allesamt Opfer der Illusion von Bestän-digkeit. Ich mag vielleicht wirken wie eine Fortführung desjenigen, der ich vor einer Sekunde war, doch das ist nur eine Täuschung, so wie ein Film eine Täuschung ist. Und wir Menschen lieben es, getäuscht zu werden.“ Dann verschwindet Ingo von der Leinwand.

Am Ende liegt B. im Clownskrankenhaus und erinnert sich an das Ende von Ingos Film. Er spielt Milliarden Jahre später, Hauptfigur ist die kluge Ameise Calcium, die ein Medikament erfindet, das alle Lebe-wesen auf der Erde tötet. B. fällt in ein Loch. „Mir kommt der Gedanke, dass ich mich mit dem Film auch an mich selbst erinnere, denn der Film existiert nicht ohne mich. Nun ja, diese Version von B2 tut es schon, und diese andere Version, die in den rechteckigen Filmdosen, aber das sind nicht die echten Versionen. Sie sind eher eine Art Ver-fälschung, eine Art Rekonstruktion, eine Parodie, despektierlich und widerwärtig. Ich erkenne jetzt, dass die Erinnerung an den Film der Film ist, dass selbst die Teile, an die ich mich nicht erinnern kann, der Film sind. Die Erinnerung ist fehlerbehaftet. Sie ist unpräzise, aber sie ist das einzige Werkzeug, mit dem wir über die Zeit hinweg Kontakt zur Welt halten können. Ohne sie existiert das Leben, wie wir es kennen, nicht weiter. Ich schlage auf.“ (S. 859).

Im Personal des Romans gibt es viele reale Menschen aus der Filmwelt und sehr viele erfundene. Das Komikerpaar Abbott und Costello ver-wandelt sich in Mudd und Molley, später in Rooney und Doodle. Es gibt einen Marvin Scorsesso. Hoch geschätzt werden Wes Anderson und Judd Apatow, gering geliebt Ridley Scott und Christopher Nolan. Im Hintergrund regiert der Präsident Donald Trunk.

B.’s männerhassende Tochter Grace Farrow dreht Filme wie VATER IST DER BESTIE und beschimpft ihn auf einem Blog. Er wehrt sich dagegen. B.’s afroamerikanische Lebensgefährtin mutiert zur Manns-frau. Enge Freunde gibt es nicht. Das führt zu einsamen Momenten, Träumen und häufigem Unglück. Mehrmals fällt B. in einen offenen Kanalschacht. Die Verletzungen halten sich in Grenzen. Es gibt eine Phase, in der B. schrumpft. Nachts schläft er schließlich in einer Schublade. Aber dann gewinnt er seine Größe zurück.

Einerseits ist der Roman eine Satire, die sich lustig macht über die Welt des Films, der Literatur, der Kunst, über Amerika, Political Correctness und Psychotherapien. Andererseits ist er eine Reflexion über die Situation eines Intellektuellen, der viele Niederlagen erlebt und trotzdem nicht aufgibt. Die Sprache hat erzählerischen Fluss, ist anschaulich, dialogreich und pointiert. Die Stadt New York ist sehr präsent. Es werden Verbindungen zwischen den USA und Europa deutlich, die für den Autor prägend erscheinen. Die deutsche Über-setzung von Stephan Kleiner hat keine erkennbaren Schwächen.

Ja, das Buch ist lang. Bei einem Film würde man am Schneidetisch kürzen. Aber ein Buch folgt eigenen Spielregeln. Und manchmal kann es gar nicht lang genug sein. Auf Seite 859 ist man glücklich über das Ende und traurig, weil es nicht weitergeht.

Ein Gespräch mit Charlie Kaufman hat Bert Rebhandl für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung geführt: charlie-kaufmans-roman-ameisig-17241156.html

„Es ist ein Meisterwerk der Melancholie – und ein wahnsinniges Vergnügen“ heißt es in der sehr lesenswerten Rezension von Fritz Göttler in der Süddeutschen Zeitung: charlie-kaufman-ameisig-roman-postmoderne-rezension-1.5256083

Mehr zum Buch: ameisig/978-3-446-26833-3/