Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Jahres
2012
Filmbuch des Jahres

Jennifer M. Kapczynski / Michael D. Richardson (Ed.)
A New History of German Cinema
Camden House, Rochester, NY 2012
674 Seiten, 115 $
ISBN 978-1-57113-490-5

Jennifer M. Kapczynski / Michael D. Richardson (Ed.):
A New History of German Cinema

Aus Amerika kommt ein neues Buch zur deutschen Filmgeschichte, das allein durch seinen Umfang und die Zahl der Beiträge eine Spitzenstellung beanspruchen darf. 674 Seiten, 88 Texte. Jeder Text (vier bis sieben Seiten) widmet sich einem speziellen Datum der deutschen Filmgeschichte und macht daraus ein paradigmatisches Ereignis, dessen Ursachen und Folgen geschildert werden. Da die Autorinnen und Autoren aus der ersten Liga der amerikanischen Filmwissenschaft und Germanistik stammen (es gibt auch einige Gäste aus Deutschland), fügt sich das chronologische Puzzle zu einem originellen und substanziellen Gesamtwerk.

Es beginnt am 1. November 1895 mit dem Wintergarten-Programm der Brüder Skladanowsky und endet am 11. Februar 2008 mit dem Preis der Filmkritik für Ulrike Ottingers PRATER. Ein Epilog der Herausgeber füllt die Lücke in die unmittelbarere Gegenwart. Die Daten: das sind zum Beispiel Premieren wichtiger Filme, kulturpolitische Ereignisse, Zensurfälle, Firmengründungen, Filmpreise. An der Auswahl kann man sich reiben. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass dies ein Filmbuch aus Amerika ist. Also: ein Blick von außen, der auch den Vorteil einer anderen Neugier und Perspektive besitzt. Er hat einen dezidiert politischen Fokus.

Fünf eigenwillige Daten des Buches sind für mich: der 6. März 1920, an dem der Protest chinesischer Studenten gegen rassistische Darstellungen in zwei Folgen des Films DIE HERRIN DER WELT von Joe May die Ufa und den Regisseur dazu bringen, den Film zu verändern (Autor: Tobias Nagl). – 13. Januar 1954: im Zusammenhang mit Otto Premingers zwei Versionen THE MOON IS BLUE und DIE JUNGFRAU AUF DEM DACH reflektiert Christine Haase über die damaligen Grenzen der Darstellung von Sexualität. – 2. Februar 1956: ein Brief von Siegfried Kracauer an Enno Patalas initiiert einen Text von Johannes von Moltke über die Zeitschrift Filmkritik und ihre ideologiekritische Perspektive. – 1. Februar 1968: der Film HERSTELLUNG EINES MOLOTOW-COCKTAILS, gedreht von Studenten der dffb, führt zu existentiellen Konflikten an der Filmschule (Text: Tilman Baumgärtel). – 16. Mai 1992: die Beerdigung von Marlene Dietrich (und den Ankauf ihres Nachlasses durch das Land Berlin) nutzt Barbara Kosta zu einem kurzen, aber sehr komplexen Porträt der Diva. Oft sind es Daten, die mit dem eigenen Leben verbunden sind, an denen man sich festliest. Und es ist erstaunlich, wie die Texte auch in ihrer Kürze die entscheidenden Punkte treffen.

Natürlich provoziert so ein Buch auch das Beklagen von Lücken oder, anders ausgedrückt, den Wunsch, Vorschläge zur Erweiterung zu machen. Mir fehlen zum Beispiel die Gründung der UFA (18. Dezember 1917), die Premiere von LIEBELEI (Max Ophüls), dem letzten bedeutenden Film der Weimarer Republik (24. Februar 1933), eine substantielle Auseinandersetzung mit JUD SÜSS (5. September 1940), die Gründung der DEFA (17. Mai 1946), das Verbot von SPUR DER STEINE (15. Juni 1966) oder ein spezieller Schlöndorff-Text (wäre mit dem Oscar für DIE BLECHTROMMEL zu verbinden, 14. April 1980). Die Namen Eberhard Fechner und Klaus Wildenhahn kommen nicht vor, der Dokumentarfilm ist deutlich unterrepräsentiert. Auch Romuald Karmakar vermisse ich. Aber die Fehlstellen sind nur die eine Seite der Medaille, die andere: dass der deutsche Film in seinen Kernen, in seinem Nerv, in seiner Komplexität gewürdigt wird.

In den Acknowledgments gibt es ein Dankeschön für Anton Kaes und Eric Rentschler, „who continue to inspire us through their own writing and their exceptional record as mentors in the field of German filmstudies. Their long-standing series of summer German Film Institute workshops provide a model of collaborative scholarly inquiry, and it is no accident that this anthology was conceived at one such gathering.“ Tony und Rick sind auch als Autoren dabei: der eine mit einem Text über Karl Grunes Film DIE STRASSE (1923), der andere mit einer Reminiszenz an das Oberhausener Manifest (1962). Sie lesen sich wunderbar abgeklärt.

Die beiden Herausgeber waren mir bisher nicht bekannt: Jennifer M. Kapczynki ist Associate Professor of German an der Washington University in St. Louis, Michael D. Richardson ist Associate Professor of German und Chair of the Department of Modern Languages and Literatures am Ithaca College, NY. Sie haben mit diesem Buch eine hervorragende Herausgeberarbeit geleistet. Es ist in der Reihe „Screen Cultures: German Film and the Visual“ erschienen, die von Gerd Gemünden (Dartmouth College) und Johannes von Moltke (University of Michigan) verantwortet wird. Als Gastautoren aus Deutschland sind Heide Schlüpmann (Asta Nielsen, 1911), Michael Wedel (Lubitsch, 1920), Philipp Stiasny (DAS FLOSS DER TOTEN, 1921), Ulrike Weckel (DIE TODESMÜHLEN, 1946) und Annette Brauerhoch (die Gründung der Zeitschrift Frauen und Film, 1974) mit Texten vertreten.

53 klug ausgewählte Fotos, drei Register (Sachworte, Namen, Filmtitel) und bibliografische Hinweise an mehreren Stellen zeigen die Sorgfalt der Herausgeber. Auch die Verweise auf verwandte Daten am Ende jedes Textes bauen Verständnisbrücken.

Und hier für alle, die neugierig geworden sind, die Themen der 88 Texte und die Autorinnen und Autoren (in Klammern):  01.11.1895: Wintergarten-Programm (Janelle Blankenship) /  22.09.1907: Sigmund Freud im Kino (Tan Waelchli) / Frühjahr 1913: Karl Valentin und Liesl Karlstadt (Christian Rogowski) / 27.05.1911: Asta Nielsen (Heide Schlüpmann) / 18.12.1913: ATLANTIS (Deniz Göktürk) /  21.01.1914: DIE FIRMA HEIRATET (Mila Ganeva) / 06.03.1920: Rassismus in DIE HERRIN DER WELT (Tobias Nagl) / 23.05.1920: DAS CABINET DES DR. CALIGARI (Paul Dobryden) / 15.10.1920: Ernst Lubitsch über Tränen im Kino (Michael Wedel) / 04.03.1921: DAS FLOSS DER TOTEN (Philipp Stiasny) / 01.04.1921: OPUS 1 von Walther Ruttmann (Gregory Zinman) / 27.05.1921 SCHERBEN (Patrick Vonderau) / 14.09.1922 Der Schüfftan-Prozess (Katharina Loew) / 13.10.1922 Alexander Kolowrat-Krakowsky (Robert von Dassanowsky) / 29.11.1923 DIE STRASSE (Anton Kaes) / 31.01.1924 ORLACS HÄNDE (Paul Coates) / 14.02.1924 DIE NIBELUNGEN (Adeline Mueller) / 10.05.1924 DER BERG DES SCHICKSALS (Kamaal Haque) / 23.12.1924 DER LETZTE MANN (Robert Schechtman) / 16.03.1925 WEGE ZU KRAFT UND SCHÖNHEIT (Britta Herdegen) / 03.05.1925 Der absolute Film (Joel Westerdale) / 10.01.1927 METROPOLIS + Brigitte Helm (Valerie Weinstein) / 17.06.1927 Gründung der Amateurfilm-Liga (Martina Roepke) / 16.12.1927 FAMILIENTAG IM HAUSE PRELLSTEIN und der jüdische Humor (Daniel H. Magilow) / 31.01.1929 / PICCADILLY, Anna May Wong und E.A. Dupont (Cynthia Walk) / 29.05.1929 Oscar für Emil Jannings (Gerd Gemünden) / 03.06.1929 Tonfilmdebatte und THE SINGING FOOL (Lutz Koepenick) / 04.02.1930 MENSCHEN AM SONNTAG (Noah Isenberg) / 13.06.1930 Der Hörfilm WEEKEND (Brian Hanrahan) / 17.10.1930 DIE 3-GROSCHEN-OPER (Marc Silberman) / 11.12.1930 ALL QUIET ON THE WESTERN FRONT (Dayton Henderson) / 11.05.1931 M (Sara F. Hall) / 28.03.1933 Goebbels’ Kaiserhof-Rede (Laura Heins) / 29.02.1935 DER ALTE UND DER JUNGE KÖNIG (Martina G. Lüke) / 28.03.1935 TRIUMPH DES WILLENS (Michael Cowan & Kai Sicks) / 19.06.1935 Lilian Harveys Rückkehr nach Deutschland (Antje Ascheid) / 30.08.1936 Luis Trenker (Carola Daffner) / 30.12.1940 WUNSCHKONZERT (Jaimey Fisher) / 18.02.1941 THE DEVIL AND DANIEL WEBSTER (Simon Richter) / 28.05.1942 Brecht und Lang schreiben ein Drehbuch (Jonathan Skolnik) / 03.09.1942 DIE GOLDENE STADT und der deutsche Farbfilm (Russell A. Alt) / 18.01.1943  Die Analyse von HITLERJUNGE QUEX durch den Anthropologen Gregory Bateson (Gary L. Baker) / 18.05.1945 Erste Nachkriegswochenschau (Winfried Wilms) / 22.03.1946 DIE TODESMÜHLEN (Ulrike Weckel) / 16.08.1949 Ilse Kubaschewski gründet den „Gloria“-Filmverleih (Hester Baer) / 16.02.1952 Peter Lorre verlässt Deutschland zum zweiten Mal (Gerd Gemünden) / 13.01.1954 DIE JUNGFRAU AUF DEM DACH (Christina Haase) / 09.03.1954 ERNST THÄLMANN – SOHN SEINER KLASSE (Hunter Bivens) / 22.12.1955 SISSI (David Bathrik) / 02.02..1956 Kracauer schreibt an Enno Patalas (Johannes von Moltke) / 21.06.1957 JONAS; 30.08.1947 BERLIN – ECKE SCHÖNHAUSER… (Bastian Heinsohn) / 19.09.1958 A TIME TO LOVE AND A TIME TO DIE (Jennifer M. Kapczynski) / 04.09.1959 DER FROSCH MIT DER MASKE (Tassilo Schneider) / 28.02.1962 Das Oberhausener Manifest (Eric Rentschler) / 01.02.1968 HERSTELLUNG EINES MOLOTOW-COCKTAILS (Tilman Baumgärtel) / 01.02.1968 ICH WAR NEUNZEHN (Larson Powell) / 07.04.1968 Straub, Huillet, Fassbinder (Barton Byg) / 23.06.1968 Alexander Kluge (Richard Langston) / Herbst 1968 Thomas Brasch (Katie Trumpener) / 30.06.1969 O.K. (Kris Vander Lugt) / 29.02.1970 DIE ANGST DES TORMANNS BEIM ELFMETER (Brad Prager) / 24.06.1974 Gründung von Frauen und Film (Annette Brauerhoch) / 20.06.1977 Manfred Krug verlässt die DDR (John Griffith Urang) / 27.10.1977 DEUTSCHLAND IM HERBST (Jennifer Marston William) / 22.01.1979 HOLOCAUST im Deutschen Fernsehen (Erin McGlothin) / 20.08..1981 LOLA (Brigitte Paucker) / 06.08.1984 HEIMAT (Rachel Palfreyman) / 08.06.1986 WIE MAN SIEHT (Michael Cowan) / 02.02.1988 DEFA-Regisseure fordern Reform (Reinhild Steingröver) / 23.07.1991 OSTKREUZ (Mattias Frey) / 16.05.1992 Marlene Dietrichs Beerdigung (Barbara Kosta) / 25.08.1992 Ostalgie (Roger F. Cook) / 10.08.1994 X-Filme und Filmboard Berlin-Brandenburg (Brigitta B. Wagner) / 02.11.1995 NEUROSIA (Randall Halle) / 31.12.1995 DER BEWEGTE MANN: 6,5 Mio Zuschauer (David N. Coury) / 10.02.1999 Vier türkisch-deutsche Filme bei der Berlinale (Andrea Reimann) / 30.04.1999 Werner Herzogs „Minnesota Declaration“ (Eric Ames) / 13.05.1999 Klaus Kinski  (Will Lehman) / 19.05.2000 Michael Haneke (Monica Filimon) / 21.10.2001 DER SCHUH DES MANITU (Sebastian Heiduschke) / 16.10.2003 DAS WUNDER VON BERN (Cornelius Partsch) / 14.02.2004 GEGEN DIE WAND (Barbara Mennel) / 08.09.2004 DER UNTERGANG (Michael D. Richardson) / 22.10.2005 FREMDE HAUT (Faye Stewart) / 22.01.2007 Die „Berliner Schule“ (Marco Abel) / 25.02.2007 DAS LEBEN DER ANDEREN (Paul Cooke) / 06.12.2007 FÜR DEN UNBEKANNTEN HUND (Patricia Anne Simpson) / 11.02.2008 PRATER (Nora M. Alter) / The Many Lives of Contemporary German Cinema (Kapczynski/Richardson).