Filmbuch-Rezensionen
Filmbuch des Monats
Juni 2012

Brigitte Peucker (Hg.)
A Companion to Rainer Werner Fassbinder
John Wiley & Sons, New York 2012
656 S., 142 €
ISBN 978-1-4051-9163-0

Brigitte Peucker (Hg.):
A Companion to Rainer Werner Fassbinder

Am 10. Juni 1982 starb Rainer Werner Fassbinder im Alter von 37 Jahren. Das ist jetzt dreißig Jahre her, und weil Fassbinder einer der Größten des deutschen Films war, ist das Datum ein Initial für verschiedene neue Bücher und für die Neuauflage älterer Publikationen. Für herausragend halte ich das amerikanische Sammelwerk von Brigitte Peucker, Professorin für Germanistik und Film Studies an der Yale University.

Fassbinder und seine Filme wurden schon in den 1970er Jahren von der angloamerikanischen Kritik und Filmwissenschaft aufmerksam wahrgenommen. 1981 erschien der Band der Blauen Reihe des Hanser Verlages bei Tanam in New York. Die Zeitschrift October (Cambridge, MA) publizierte 1982 eine Special Issue. In den Zeitschriften New German Critique und German Quaterly erschienen zahlreiche Aufsätze, Wissenschaftler wie Thomas Elsaesser, James Franklin, Anton Kaes, Anna K. Kuhn, Leo A. Lensing, Eric Rentschler legten die Grundlagen für die RWF-Rezeption an den amerikanischen Universitäten. Ohne all die Vorarbeiten wäre das jetzt publizierte Buch nicht denkbar.

Seine spezielle Qualität liegt in der Struktur und Komplexität. 29 Texte vereinen sich – dank der analytischen Fähigkeiten der Autorinnen und Autoren – zu einem Companion, der durch Fassbinders Gesamtwerk führt und es für eine heutige Wahrnehmung erschließt. Immer wieder wird auf die historischen Ereignisse der 1960er und 70er Jahre in der Bundesrepublik verwiesen, werden literarische und andere kulturelle Kontexte präsent gemacht, kommen wichtige ästhetische und ideologische Fragestellungen ins Spiel.

Vier Teile fügen sich zu einem Ganzen: 1. Life and Work. 2. Genre; Influence; Aesthetics. 3. Other Texts; Other Media; 4. History; Ideology; Politics.

Den ersten Teil eröffnet die Präsidentin der RWF-Foundation Juliane Lorenz mit einem sehr persönlichen biografischen Text. Thomas Elsaesser blickt auf das Leben und die „Filmfamilie“ von Fassbinder und charakterisiert die Filme als Zeitreisen durch die deutsche Geschichte. Leo A. Lensing thematisiert Fassbinders Verhältnis zur Literatur, zitiert RWF-Gedichte, die an Rilke erinnern, verweist auf Fontane und Döblin. Und der Poet Wayne Koestenbaum denkt zurück an fünf konkrete Fassbinder-Filmszenen, die ihn besonders beeindruckt haben.

Die Texte im zweiten Teil suchen vor allem nach stilistischen Beziehungen: Laura McMahon findet im RWF-Frühwerk Verbindungen zu Jean-Luc Godard, Victor Fan vergleicht IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN mit Pedro Almodóvars LA MALA EDUCATIÓN, Brian Price sieht Differenzen in der Verwendung der Farben zwischen Douglas Sirk und Fassbinder, John David Rhodes untersucht genereller die ästhetische Beziehung zwischen Sirk und RWF, Joe McElhaney vergleicht MARTHA mit female gothic films der 1940er Jahre, Brad Prager analysiert WELT AM DRAHT.

Im dritten Teil geht es um Beziehungen der Fassbinder-Filme zu Literatur, Musik, Malerei und Theater. Elena del Rio unternimmt eine BERLIN ALEXANDERPLATZ-Interpretation, Caryl Flynn untersucht die Musik zu QUERELLE, Elke Siegel vergleicht FONTANE EFFI BRIEST mit der Romanvorlage, und Paul Coates bringt Döblin und Fontane in einen speziellen Vergleich mit den Fassbinder-Filmen. Zwei Texte der Herausgeberin Brigitte Peucker haben mich hier besonders beeindruckt: ihre Analyse von DESPAIR als Verfilmung eines Nabokov-Romans und ihre Assoziationen zu DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT im Blick auf Malerei, Theater und die Körpersprache der Protagonistinnen.

Im vierten Teil finden sich Texte zu Geschichte, Ideologie und Politik; zum Beispiel Eric Rentschlers Brücke zwischen NIKLASHAUSER FART und RIO DAS MORTES und der Nach-68er-Zeit in der Bundesrepublik, Frances Guerins Analyse von DIE 3. GENERATION, Laura J. Heins’ Abgrenzung von LILI MARLEEN gegenüber den Filmen von Veit Harlan und Detlef Sierck, Rosalind Galts Überlegungen zur Ideologie des Theaterstücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Elena Gorfinkel geht auf Identifikationsaspekte mit den beiden Hauptfiguren in ANGST ESSEN SEELE AUF ein. Tobias Nagl und Janelle Blankenship porträtieren den Schauspieler Günther Kaufmann (der kürzlich gestorben ist). Randall Halle beschreibt Zusammenhänge zwischen den Filmen von Rosa von Praunheim, Werner Schroeter und Rainer Werner Fassbinder in den 1970er Jahren, als es um eine Etablierung des Schwulenfilms ging.

Ich habe jetzt nur die Texte erwähnt, die mich besonders interessiert haben. Und ich hoffe, dass damit die Vielfalt und der Reichtum des Buches deutlich geworden sind. Die Abbildungen lassen allerdings einige Wünsche offen.

Mehr über das Buch: books/ISBN978-1-4051-9163-0

Ich nutze die Gelegenheit, auch auf einige andere RWF-Publikationen hinzuweisen.

Schon im März ist die Fassbinder-Biografie von Jürgen Trimborn erschienen: „Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben“ (Propyläen Verlag). Der Autor (*1971) ist ein Biografien-Profi. Er hat in den vergangenen zehn Jahren – jeweils in epischer Breite – das Leben von Leni Riefenstahl, Johannes Heesters, Hildegard Knef, Rudi Carrell, Romy Schneider und Arno Breker zu Papier gebracht. Nun also RWF. Mit 1.000 Quellenhinweisen sichert sich der Autor gegen mögliche Einsprüche ab, wenn es sehr privat wird, bezieht er sich auf Interviews mit Ingrid Caven, Michael Fengler oder Peter Kern und auf die Bücher von Harry Baer, Peter Berling und Kurt Raab. Um die Foundation und ihr Archiv hat er einen großen Bogen gemacht. Trimborn interessiert sich mehr für Fassbinders Leben als für die Filme, die er auch gern „Streifen“ nennt. Und weil die Aneinanderreihung aller denkbaren Suchtpotentiale das Leseinteresse nicht dauerhaft in Anspruch nimmt, wirkt vor allem der zweite Teil der Biografie redundant und ermüdend. Mehr über das Buch:  a&pagenum=1&page=buchaz

Auch wenn Fassbinder vor allem ein Filmemacher war: er hatte über viele Jahre und in verschiedenen Funktionen eine große Affinität zum Theater, als Mitglied des Münchner „action-theaters“, als Gründer, Autor, Darsteller, Regisseur des „antiteaters“, als Gastregisseur in Bremen, Bochum, Frankfurt und Hamburg, als Co-Intendant des Frankfurter TATs. Die „Inszenierungsliste“ von 1967 bis 1976 umfasst 36 Titel. Der englische Theaterhistoriker David Barnett hat 2005 bei Cambridge University Press das Buch „Rainer Werner Fassbinder and the German Theatre“ publiziert. Aktualisiert und erweitert ist das Buch jetzt im Henschel Verlag erschienen. Es ist gründlich recherchiert und gut übersetzt, darf also als Standardwerk angesehen werden. Mehr über das Buch: Sw7rLPSHZyhpW/1.6.7.8.3.1

Thomas Elsaesser hat sein hervorragendes Buch „Rainer Werner Fassbinder“ (englisch zuerst 1996, deutsch erstmals 2001) noch einmal überarbeitet und ein neues Kapitel über WELT AM DRAHT geschrieben. Die Neuauflage ist soeben – mit technisch verbesserten DVD-Screenshots – bei Bertz + Fischer erschienen. Sie löst auch beim erneuten Lesen ihren hohen Anspruch ein. Mehr über das Buch: http://www.bertz-fischer.de/rainerwernerfassbinder.html

Das Interviewbuch „Das ganz normale Chaos. Gespräche über Rainer Werner Fassbinder“, 1995 herausgegeben von Juliane Lorenz, ist – erweitert um Gespräche mit Fassbinders Vater aus dem Jahr 2006 und dem Mitbegründer des Verlags der Autoren, Karlheinz Braun – in einer Neuauflage bei Henschel erschienen. Die Auswahl der ursprünglich 41 Gesprächspartner war klug und breit gefächert, die Lektüre bleibt ergiebig. Mehr über das Buch: PSHZyhpW/4.8.7.8.0.19

Und für August ist ein neues Buch angekündigt, herausgegeben von Nicole Colin, Franziska Schößler und Nike Thurn im transcript Verlag: Prekäre Obsession. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder. Mehr über das Buch: www.transcript-verlag.de/ts1623/ts1623.php.