Texte & Reden
30. Mai 2020

Das Herz des Neuen Deutschen Films

26 geordnete Gedanken zu Rainer Werner Fassbinder

Wer 1945 geboren wurde, kann 2020 seinen 75. Geburtstag feiern. Wenn er nicht mehr am Leben ist, muss man an ihn erinnern, wenn er etwas Bedeutendes geleistet hat. Rainer Werner Fassbinder war ein herausragender deutscher Filmemacher der 1970er Jahre. Er ist im Alter von 37 Jahren gestorben.

1. Sein Leben

„Am 31. Mai 1945 wurde ich als Sohn des praktischen Arztes Dr. Hel-muth Fassbinder und seiner Ehefrau Liselotte, geb. Pempeit, in Bad Wörishofen geboren.“ So beginnt ein handschriftlich überlieferter Lebenslauf aus dem Jahr 1967. Als sich die Eltern 1951 scheiden lassen, lebt er weitgehend in München und Augsburg bei seiner Mutter, die als Übersetzerin tätig ist. Sie lässt ihren Sohn oft ins Kino gehen, um in Ruhe arbeiten zu können. Schulabgang 1964 ohne Abitur. Schauspiel-ausbildung. Erste Rollen und Inszenierungen am „Action Theater“. Erste Kurzfilme 1965/66. Eine Bewerbung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin 1966 ist erfolglos. Gründung des „antiteaters“ in München 1968 u.a. zusammen mit Kurt Raab, Peer Raben und Hanna Schygulla. 1969 beginnt eine Karriere als Filmemacher, die zunächst parallel zur Theaterarbeit verläuft und dann ungeahnte Dimensionen annimmt. RWF stirbt am 10. Juni 1982.

2. Sein Werk

In 16 Jahren hat er 44 Filme gedreht, vier Hörspiele verfasst, 18 Theaterstücke geschrieben und 23 inszeniert. Er war als Autor, Regisseur, Darsteller, Kameramann, Cutter, Produzent, Komponist und Ausstatter tätig. Seine Kreativität hatte keine erkennbaren Grenzen.

3. Seine Kinofilme

Es waren 25, beginnend mit Liebe ist kälter als der Tod. Zehn ausge-wählte Höhepunkte: Mit Katzelmacher gelang ihm der Durchbruch. Warnung vor einer heiligen Nutte reflektiert Arbeit und Spannungen am Filmset. Händler der vier Jahreszeiten blickt zurück in die Adenauerzeit. Angst essen Seele auf ist eine Hommage an Douglas Sirk. Fontane Effi Briest erweist sich als kongeniale Literaturverfil-mung. Satansbraten ist das Resultat einer persönlichen Krise. Die Ehe der Maria Braun wird zu seinem erfolgreichsten Film. Lola soll an den Blauen Engel erinnern. Die Sehnsucht der Veronika Voss reminisziert die Ufa. Querelle erlebt erst drei Monate nach seinem Tod die Urauf-führung. Meine drei persönlichen Lieblingsfilme sind Effi Briest, Maria Braun und Lola.

4. Seine Fernseharbeiten

Neun hat er für den WDR realisiert, drei für das ZDF, zwei für den Saarländischen Rundfunk, eine für den NDR. Die Formen waren vielfältig: eine Fernsehshow mit Brigitte Mira (Wie ein Vogel auf dem Draht), ein Dokumentarfilm (Theater in Trance), drei Aufzeichnungen von Theateraufführungen, zwei zweiteilige Fernsehfilme (Welt am Draht und Bolwieser), sechs Fernsehfilme, eine achtteilige Serie (Acht Stunden sind kein Tag), eine 14teilige Serie (Berlin Alexanderplatz). Zu seiner Zeit gab es in der Bundesrepublik nur das öffentlich-recht-liche Fernsehen. Und das war damals noch sehr experimentierfreudig.

5. Seine Themen

Die Darstellung deutscher Geschichte war für ihn ein zentrales Thema. Beispielhaft ist die BRD-Trilogie: Die Ehe der Maria Braun, Die Sehn-sucht der Veronika Voss und Lola. Dreimal steht eine starke Frau im Mittelpunkt einer historischen Situation: in der Kriegs- und Nach-kriegszeit bis 1954 (Maria Braun), Mitte der 50er Jahre (Veronika Voss), Ende der 50er Jahre (Lola). Politik und Ökonomie gewinnen an Bedeutung gegenüber dem individuellen Glück. Der Plan, die BRD-Geschichte bis in die 60er und 70er Jahre weiterzuerzählen, blieb unerfüllt. Lili Marleen ist eine Hommage an die Sängerin Lale Ander-sen in den 40er Jahren. Despair – eine Reise ins Licht spielt in Berlin zu Beginn der 30er Jahre. Berlin Alexanderplatz führt uns zurück in die 20er Jahre. Und die Literaturverfilmung Fontane Effi Briest ver-mittelt ein authentisches Zeitbild vom Ende des 19. Jahrhunderts. – Vor allem in den frühen Filmen (Liebe ist kälter als der Tod, Götter der Pest, Der amerikanische Soldat) werden Verbrechen thematisiert: Mord, Totschlag, Raub, Bandenkriminalität. Amerikanische und französische Gangsterfilme waren die Vorbilder. Homosexualität (Faustrecht der Freiheit), Geschlechtsumwandlung (In einem Jahr mit 13 Monden), Besitzanspruch (Martha), Partnertausch (Chinesisches Roulette) dominieren thematisch die mittlere Phase. Zu allen Zeiten geht es um die individuelle Suche nach der eigenen Identität und oft um die nackte Angst.

6. Schauplätze / Personal

Handlungsort vieler seiner Filme ist die Münchner Vorstadt: schlicht eingerichtete Wohnungen, Hinterhöfe, Straßen, Gaststätten. Die Pro-tagonisten verhalten sich wortkarg, obwohl Konflikte spürbar sind. Wenn sich vier oder fünf Personen versammeln, kann es schnell dazu kommen, dass eine zum Außenseiter wird und die anderen zum verba-len oder tätlichen Angriff übergehen. Die Sprache ist ein stilisiertes Bayerisch. Beispielhaft: Katzelmacher, Händler der vier Jahres­zeiten. Andere Schauplätze: ein kleiner Ort im Westen der USA (Whity), ein Hotel am Meer in Spanien (Warnung vor einer heiligen Nutte), eine Wohnung in Bremen (Die bitteren Tränen der Petra von Kant), Köln (Acht Stunden sind kein Tag), ein Schloss in Franken (Chinesisches Roulette), ein Dorf in Oberbayern (Bolwieser), Frankfurt am Main (In einem Jahr mit 13 Monden), Westberlin (Die Dritte Generation), Berlin in den 1920er Jahren (Berlin Alexanderplatz), Coburg (Lola), die Hafenstadt Brest am Atlantischen Ozean (Querelle). Es dominieren selbstbewusste Frauen. Die Männer scheitern oft auf der Suche nach sich selbst.

7. Seine Darstellerinnen und Darsteller

Das Ensemble des „Action Theaters“ und danach des „antiteaters“ bildete den Besetzungskern für seine frühen Filme: Harry Baer, Rudolf Waldemar Brem, Ingrid Caven, Irm Hermann, Hans Hirschmüller, Doris Mattes, Peter Moland, Kurt Raab, Peer Raben, Hanna Schygulla, Ursula Strätz, Lilith Ungerer und RWF selbst. Der Kreis erweiterte sich schnell, es kamen u.a. Margit Carstensen, Günther Kaufmann, Ulli Lommel, Eva Mattes, Walter Sedlmayr, Volker Spengler, Margarethe von Trotta hinzu. Lilo Pempeit/Liselotte Eder, die Mutter, spielte oft Nebenrollen. In den 1970er Jahren hat er deutsche Stars der 50er Jahre wiederentdeckt, die vom Neuen Deutschen Film eher gemieden wurden: Annemarie Düringer und Claus Holm (je drei Filme), Karl-heinz Böhm und Ivan Desny (je vier Filme), Rudolf Lenz (fünf Filme), Barbara Valentin, Adrian Hoven und Klaus Löwitsch (je acht Filme). Ihre Rollen waren profiliert, seine Schauspielerführung anerkannt souverän. Auch ausländische Stars wurden engagiert: Eddie Constan-tine (drei Filme), Dirk Bogarde, Mel Ferrer, Franco Nero, Anna Karina, Jeanne Moreau. Damit wurde die internationale Wahrnehmung erweitert.

8. Seine Kameramänner

Drei Kameramänner prägten die Bildsprache seiner Filme: Dietrich Lohmann (1943-1997), Michael Ballhaus (1935-2017), Xaver Schwar-zenberger (*1946). Lohmann war von 1969 bis 1974 für zwölf Filme und die Serie Acht Stunden sind kein Tag zuständig. Ballhaus kam ein Jahr nach Lohmann, 1970 (Whity), arbeitete zeitweise parallel mit ihm und ging 1978 (Die Ehe der Maria Braun) nach Amerika. Unvergesslich ist sein erster 3600-Schwenk in Martha, wenn sich Margit Carstensen und Karlheinz Böhm zum ersten Mal auf einem Platz in Rom begegnen. Schwarzenberger war für das Spätwerk verantwortlich, beginnend mit Berlin Alexanderplatz. Bei zwei Filmen (In einem Jahr mit 13 Monden und Die dritte Generation) stand RWF selbst hinter der Kamera.

9. Seine Editorinnen

Die Montage seiner Filme war ihm sehr wichtig. Unter dem Pseudo-nym Franz Walsch hat er einen Schnitt-Credit bei 13 Filmen. Franz war der Vorname der literarischen Figur Biberkopf in Döblins „Berlin Ale-xanderplatz“. Walsch war die Eindeutschung des Nachnamens des von ihm sehr verehrten Regisseurs Raoul Walsh. Mit zwei Editorinnen hat er viel Zeit am Schneidetisch verbracht, das war zuerst Thea Eymèsz (15 Filme) und dann Juliane Lorenz (zwölf Filme). Mit ihnen konnte er auf Augenhöhe arbeiten.

10. Seine Widmungen

Im Vorspann vieler Filme werden Künstlerinnen und Künstler ge-nannt, denen der Film gewidmet ist. Elf Beispiele. Dem Film Liebe ist kälter als der Tod ist die Widmung „Für Claude Chabrol, Eric Rohmer, Jean-Marie Straub, Linio und Cunco“ vorangestellt. (Linio und Cuncho waren die Hauptfiguren in dem Film Töte Amigo von Damian Dami-ani. Eigentlich hießen sie allerdings Niño und Chuncho). Der Film Katzelmacher ist der Autorin Marie Luise Fleißer gewidmet. Whity trägt die Widmung „Für Peter Berling“. Der Film Die bitteren Tränen der Petra von Kant ist „Gewidmet dem, der hier Marlene wurde“. Faustrecht der Freiheit verneigt sich vor „Armin und allen anderen“. Despair – Eine Reise ins Licht ist „Dedicated to Antonin Artaud, Vincent van Gogh, Unica Zürn“. „Für Peter Zadeck“ heißt es im Vorspann zu Die Ehe der Maria Braun, „Für Alexander Kluge“ im Vorspann zu Lola, „Für Gerhard Zwerenz“ zu Beginn von Die Sehnsucht der Veronika Voss. Der Dokumentarfilm Theater in Trance „ist dem Initiator von Theater der Welt 1981 Ivan Nagel gewidmet“. In seinem letzten Film, Querelle, liest man: „This film is dedicated to my friendship with El Hedi ben Salem m’Barek Mohammed Mustafa“. Er war der Hauptdarsteller des Films Angst essen Seele auf.

11. Seine Motti

Neben Widmungen stehen im Vorspann einiger Filme auch Motti. Zum Beispiel „Es ist besser, neue Fehler zu machen als die alten bis zur allgemeinen Bewußtlosigkeit zu konstituieren.“ (Yaak Karsunke) – Katzelmacher. „Hochmut kommt vor dem Fall“, verbunden mit dem Zitat von Thomas Mann „Ich sage Ihnen, daß ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben“ – Warnung vor einer heiligen Nutte. „Das Glück ist nicht immer lustig“ – Angst essen Seele auf. Und der Untertitel zu Fontane Effi Briest heißt „Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen und dennoch das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen“. Eine Widmung oder ein Motto zu Beginn eines Films sind Hinweise für das Kinopublikum, sich nicht gedankenlos auf das Geschehen einzulassen.

12. Seine internationale Reputation

Die Filmfestspiele in Cannes und Venedig waren nicht sein Terrain. In Cannes dominierten Volker Schlöndorff und Wim Wenders, in Venedig Alexander Kluge und Edgar Reitz. Zwei Filme von ihm (Angst essen Seele auf und Despair – Eine Reise ins Licht) liefen im Wettbewerb in Cannes, zwei (Warnung vor einer heiligen Nutte und Querelle) in Venedig. In Venedig wurde auch der 14-teilige Berlin Alexanderplatz voraufgeführt. Preise der Internationalen Jurys gab es nicht. Dennoch wuchs in den 70er Jahren sein weltweites Ansehen.

13. Sein Festival, die Berlinale

Sein erster Spielfilm, Liebe ist kälter als der Tod, lief 1969 im Wettbe-werb der Berlinale und wurde sehr reserviert aufgenommen. Sein vor-letzter, Die Sehnsucht der Veronika Voss, gewann 1982 den Goldenen Bären. Insgesamt neun Filme von ihm wurden während der Berlinale uraufgeführt. Für Die Ehe der Maria Braun hatte er 1979 fest mit dem Goldenen Bären gerechnet, aber es wurden nur Hanna Schygulla als beste Darstellerin und das gesamte Team des Films mit zwei Silbernen Bären ausgezeichnet. 1977 gehörte er der Berlinale-Jury an. Den Hauptpreis gewann damals das sowjetische Partisanendrama Die Erhöhung von Larissa Schepitko. Sein Favorit war Robert Bressons Der Teufel möglicherweise, der den Sonderpreis der Jury bekam. Er hat drei Berlinale-Direktoren erlebt: Alfred Bauer, Wolf Donner und Moritz de Hadeln.

14. Der Darsteller RWF

Er war ausgebildeter Schauspieler und hat gern auf der Bühne oder vor der Kamera agiert, das erste Mal 1965 in seinem Kurzfilm Der Stadt-streicher als Mann im Pissoir. Fünf Hauptrollen, 32 Nebenrollen und Cameo-Auftritte verzeichnet seine Filmografie. Drei Hauptrollen spielte er unter der Regie von befreundeten Kollegen. In Volker Schlön-dorffs Brecht-Verfilmung war er 1970 Baal, der junge Dichter, der viel trinkt, die Frauen wechselt und mit einem Freund durch die Lande zieht, den er am Ende ersticht. Vorführungen des Fernsehfilms wurden nach der Ausstrahlung in der ARD auf Grund eines Einspruchs der Brecht-Erben untersagt. In Daniel Schmids Schatten der Engel (1976), der Verfilmung des Theaterstücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“, übernahm er die Rolle des Zuhälters Raoul, der mit der Prostituierten Lily in die Kreise von Immobilien­spekulanten gerät und am Ende unter Mordverdacht steht. In Wolf Gremms Science-Fiction-Thriller Kamikaze 1989 (1982) spielte er den Polizeileutnant Jansen, einen Exzentriker im Leopardenanzug, der einen Mord im 31. Stock auf-klären muss. Die Uraufführung des Films hat er nicht mehr erlebt.

15. Seine Intendanz

Mit Beginn der Saison 1974/75 übernahm er die Leitung des „Theaters am Turm“ in Frankfurt am Main, im Juni 1975 schied er nach acht Monaten wieder aus. In die Schlagzeilen geriet er mit seinem Theater-stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, das wegen angeblicher anti-semitischer Tendenzen von konservativen Kritikern verurteilt und dessen Veröffentlichung dann vom Suhrkamp Verlag zurückgezogen wurde. Seine kurze Frankfurter Lebensphase gilt als zwiespältig.

16. Selbstdarstellung

An dem Gruppenfilm Deutschland im Herbst (1978) beteiligte er sich mit einer 26-Minuten-Episode, die uns einen Blick in sein Inneres ermöglicht. RWF in seiner dunklen Wohnung, er streitet sich mit seinem Freund Armin Meier, telefoniert, nimmt Rauschgift, spielt mit seinem Penis und führt ein Gespräch mit seiner Mutter, die mit der aktuellen politischen Situation nicht klar kommt, sondern lieber einen autoritären Herrscher haben möchte, allerdings „einen, der ganz gut ist“. Die Bilder und Dialoge wirken unvorstellbar authentisch.

17. Seine Texte

Er war ein gefragter Autor. Es gibt einen Sammelband mit 16 Essays und Arbeitsnotizen, den Michael Töteberg 1984 herausgegeben hat: „Filme befreien den Kopf“. Drei Texte haben eine besondere Bedeu-tung. Der wichtigste ist eine Hommage an den deutsch-amerikanischen Regisseur Douglas Sirk, den er sehr verehrt hat. „Sirk hat gesagt, Film, das ist Blut, das sind Tränen, Gewalt, Haß, der Tod und die Liebe. Und Sirk hat Filme gemacht, Filme mit Blut, mit Tränen, mit Gewalt, Haß, Filme mit Tod und Filme mit Liebe. Sirk hat gesagt, man kann nicht Filme über etwas machen, man kann nur Filme mit etwas machen, mit Men–schen, mit Licht, mit Blumen, mit Spiegeln, mit Blut, eben mit all diesen wahn–sinnigen Sachen, für die es sich lohnt. Sirk hat außerdem gesagt, das Licht und die Einstellung, das ist die Philosophie des Regisseurs. Und Douglas Sirk hat die zärtlichsten gemacht, die ich kenne.“ (1971). – Der interessanteste Text ist eine Auseinandersetzung mit dem französischen Regisseur Claude Chabrol, den er respektiert, aber auch kritisiert hat: „… Schatten freilich und kein Mitleid. Ein paar ungeordnete Gedanken“. Zitat: „Chabrols Blick ist nicht der des Insektenforschers, wie oft behauptet wurde, sondern der eines Kindes, das eine Anzahl von Insekten in einem Glaskäfig hält und abwechselnd staunend, erschrocken oder lustvoll die merkwürdigen Verhaltens-weisen seiner Tierchen betrachtet.“ Der schönste Text erzählt die Geschichte der Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Hanna Schygulla, die in 17 Filmen von ihm eine Hauptrolle gespielt hat. Sie haben sich auf der Schauspielschule kennengelernt, zusammen am Action-Theater gearbeitet und das antiteater gegründet. Dann begann die Filmarbeit. „Wenn es mir mal, aus welchen Gründen auch immer, wichtiger war, die Schygulla in einer kleineren Rolle zu besetzen, dann musste ich eben betteln gehen, zumeist widerfuhr mir zärtliche Gnade, und die Schygulla tat es eben, spielte auch schon mal eine kleinere Rolle, aber sie ließ es mich jeden Augenblick spüren, daß sie lediglich meinem dringenden Wunsch nachgegeben hatte. Noch größere Probleme hatte sie mit den sogenannten zweiten Frauenrollen, besonders dann, wenn Margit Carstensen die erste Frauenrolle im gleichen Film spielte. Aber wer wollte so kleinlich sein, solch normale mensch­liche Regungen anzugreifen?“.

18. Bücher über RWF

Es gibt, grob geschätzt, hundert Bücher über ihn. Das erste entstand 1974, publiziert in der „Reihe Film“ des Hanser Verlages. Die Kommen-tierte Filmografie stammte von Wilhelm Roth, sie ist noch immer lesenswert. Die 5., ergänzte und erweiterte Auflage des Buches erschien 1985. Unmittelbar nach seinem Tod haben Harry Baer („Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“, 1982) und Kurt Raab („Die Sehnsucht des Rainer Werner Fassbinder“, 1982) persönlich geprägte Bücher über ihn geschrieben. Noch immer lesenswert ist die Biografie „Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben“ von Jörg Trimborn (2012). Drei Publikationen haben aus heutiger Sicht die größte Bedeutung: die gedankenreiche Monografie von Thomas Elsaesser, erschienen 2012 bei Bertz + Fischer, die beiden materialreichen Kataloge zur Ausstellung und Retrospektive 1992, redaktionell verantwortet von Herbert Gehr und Marion Schmid im Argon Verlag, der bildreiche Band „RWF. Die Filme“, herausgegeben von Juliane Lorenz und Lothar Schirmer 2016 im Verlag Schirmer/Mosel. Es wird noch viele neue Bücher über ihn geben.

19. Sein Tod

Er starb in der Nacht vom 9. zum 10. Juni 1982 in seiner Wohnung in München an Herzstillstand. Die Bild-Zeitung titelte „Fassbinder starb den Romy-Tod“. Die Trauerfeier fand am 16. Juni statt. Eine Rede hielt Hanna Schygulla. Sie fragte: „Wer wird uns jetzt solche Geschichten erzählen? Wer sorgt jetzt für das Ärgernis?“ Der Sarg war leer, denn der Leichnam wurde noch obduziert. Die Urne wurde erst einige Monate später auf dem Bogenhausender Friedhof  beigesetzt. Am 20. Juli wollte RWF mit den Dreharbeiten zu dem Projekt „Ich bin das Glück dieser Erde“ beginnen. Für 1983 war „Das Leben der Rosa Luxemburg“ mit Jane Fonda geplant, produziert von Regina Ziegler. Was hätte er in den vergangenen 38 Jahren für Filme realisiert, wenn er, wie seine Kollegen Alexander Kluge, Edgar Reitz, Volker Schlön-dorff, Reinhard Hauff oder Wim Wenders, am Leben geblieben wäre?

20. Sein Haus

„Ich möchte ein Haus mit meinen Filmen bauen. Einige sind der Keller. Andere die Wände, und wieder andere sind die Fenster. Aber ich hoffe, daß es am Ende ein Haus wird.“ (1982)

21. Meine persönlichen Kontakte

Die Deutsche Kinemathek hat von 1974 bis 1992 in Zusammenarbeit mit Peter W. Jansen und Wolfram Schütte die „Reihe Film“ (genannt die „Blaue Reihe“) im Hanser Verlag herausgegeben. Den jeweiligen Autorinnen und Autoren wurden in einer internen Retrospektive die verfügbaren Filme der jeweiligen Regisseure gezeigt. RWF war Band 2 der Reihe gewidmet. In seiner Anwesenheit wurden im Februar 1974 an sechs Tagen im Kino der DFFB für Peter W. Jansen, Wolfram Schütte und Wilhelm Roth zwanzig Filme und die Serie Acht Stunden sind kein Tag vorgeführt. Ich war für die „Daten“ zuständig. In einem langen Gespräch konnte ich mit ihm seine Biografie und die Filmo-grafie seines Werkes durcharbeiten. Mit Drehzeiten, Etats, Auflösung von Pseudonymen. In der Frage seines Geburts­jahres täuschte er mich. Er sagte: 1946. Das war falsch, richtig ist: 1945. – Im Januar 1975 gab es in Frankfurt eine Claude Chabrol-Retrospektive in Anwesenheit von RWF. Er sollte den Essay schreiben. Bei den Vorführungen stritt er sich mit Wilfried Wiegand, der für die kommentierte Filmografie verant-wortlich war. Einen Abend verbrachten wir mit ihm und seiner Crew in einer Kneipe. Er war damals Intendant des Theaters am Turm. – Für die Berlinale-Retrospektive 1982, die dem Regisseur Curtis Bernhardt gewidmet war, wollte ich ihn als Autor eines Textes gewinnen. Aber er sagte mir am Telefon wegen Arbeitsüberlastung ab. Das war mein letzter persönlicher Kontakt mit ihm.

22. Sein Nachruhm

Die 1986 von seiner Mutter Liselotte Eder gegründete und seit 1992 von Juliane Lorenz geleitete „Rainer Werner Fassbinder Foundation“ hat dafür gesorgt, dass sein künstlerisches Werk erhalten blieb, dass seine Filme restauriert und digitalisiert wurden, dass die Rechte für öffentliche Vorführungen erworben werden konnten, dass DVDs und Blu-rays die Filme verfügbar machen, dass Retrospektiven in aller Welt stattfinden können. Eine eigenständige Fassbinder Foundation gibt es seit 1998 in New York, nachdem im Museum of Modern Art die erste komplette Retrospektive seiner Filme zu sehen war. „Fassbinder is the dazzling, talented, provocative, puzzling, profilic and exhilarating filmmaker of his generation.“ (New York Times).

23. Seine Ausstellung

Zehn Jahre nach seinem Tod, drei Jahre nach dem Fall der Mauer fand eine inzwischen legendäre Ausstellung unter dem Fernsehturm am Alexanderplatz in Berlin statt. Gezeigt wurden auf rund 2.000 Qua-dratmetern 600 Exponate: Plakate, Kostüme (von Barbara Baum), Fotos, Zeichnungen, Produktionsunterlagen. Die rekonstruierten Privat- und Arbeitsräume vermittelten den Eindruck, er sei gerade mal weggegangen und käme gleich wieder. – Im Kino Arsenal, im Babylon und im Filmmuseum Potsdam wurden fast alle Filme von ihm und viele andere Filme, die er sehr schätzte, vorgeführt. Der zweibändige Katalog zur Ausstellung und Filmreihe ist eine Fundgrube.

24. Sein Platz

2004 wurde in München ein Platz zwischen der Lilli-Palmer-Straße und der Erika-Mann-Straße nach ihm benannt. Er liegt in Neuhausen-Nymphenburg. Das Haus Nummer 1 beherbergt die „Freiheizhalle“, einen Veranstaltungsort. Vor der Halle hat der Künstler Wilhelm Koch 2007 ein Bodenrelief gestaltet, in das die Titel der Filme, Theaterstücke und Hörspiele von RWF eingeprägt sind.

25. Sein Center

Das Deutsche Filminstitut & Filmmuseum in Frankfurt am Main hat von Juliane Lorenz den schriftlichen Nachlass erworben und dies zum Anlass genommen, in der Eschersheimer Landstraße die bisher an mehreren Standorten gelagerten Schriftgutsammlungen unter einem Dach zu vereinen. Dort gibt es auch Arbeits­plätze, um in den Materia-lien von Hans Albers, Artur Brauner, Reinhard Hauff, Lilian Harvey, Volker Schlöndorff oder Rudolf Thome zu forschen. Der Ort trägt den Namen „Fassbinder-Center“.

26. Das Herz

Wolfram Schütte, ein Kritiker, den er sehr geschätzt hat, schrieb in einem Nach­ruf in der Frankfurter Rundschau „Wenn man sich den Neuen deutschen Film allegorisch als Mensch imaginierte, so wäre Kluge sein Kopf, Herzog sein Wille, Wenders sein Auge, Schlöndorff seine Hände und Füße et tutti quanti dies und das; aber Fassbinder wäre sein Herz gewesen, die lebende Mitte (nicht politisch oder als Punkt des Ausgleichs, sondern als Gravitationszentrum, in dem die jeweiligen künstlerischen Tendenzen sich schnitten).“

In: R.W. Fassbinder. Film Stills 1966-1982. Hrsg. von Juliane Lorenz und Lothar Schirmer. München 2020.