10. August 2018
Enno Patalas (1929-2018)
Nachruf
Aus der Öffentlichkeit hatte er sich schon vor mehr als zehn Jahren zurückgezogen, auch das Münchner Filmmuseum am St.-Jakobsplatz besuchte er nicht mehr. Über fünfzig Jahre seines Lebens hat Enno Patalas mit großer Intensität in die Filmgeschichte investiert: als Autor, als Programmmacher, als Restaurator deutscher Stummfilme. Am Dienstag ist er im Alter von 88 Jahren in München gestorben.
Schon während seines Publizistik-Studiums in Münster veröffentlichte Patalas seine ersten Texte: Kritiken im Düsseldorfer „Mittag“ und in der Zeitschrift „Filmforum“, die Broschüre „Filmgeschichte in Stich-worten“ (1951) unter dem Pseudonym Benjamin S. Eichsfelder. Die Leitung eines Filmclubs gehörte damals zu seinem Alltagsleben. Dann gründete er die Vierteljahreszeitschrift „Film 56“, die es auf drei Hefte brachte, und 1957 die „Filmkritik“, die er mit kompetenten Mitarbei-tern (darunter Wilfried Berghahn, Ulrich Gregor, Peter W. Jansen, Theodor Kotulla, Dietrich Kuhlbrodt, Uwe Nettelbeck) bis 1970 als Chefredakteur zum Zentralorgan der kritischen Auseinandersetzung mit dem Film in der Bundesrepublik machte. Sein Feind war der Feuilletonismus, selbst den großen Kritiker Gunter Groll hat er bekämpft.
Zusammen mit Ulrich Gregor hat Enno Patalas 1962 eine „Geschichte des Films“ publiziert, wie es sie vorher nicht gab: ideologiekritisch, mit dem Blick auf internationale Zusammenhänge, weitgehend fokussiert auf die Filmkunst. Das Buch war Basislektüre für Kinobesucher, die sich ernsthaft mit dem Film beschäftigen wollten. Es folgte im Jahr danach die „Sozialgeschichte der Stars“, eine Beschreibung mythischer Filmidole aus Hollywood, Babelsberg und Cinecittà. Patalas initiierte als Herausgeber die Reihe „Cinemathek – Ausgewählte Filmtexte“, die 23 Bände erreichte. Und er schrieb in den 60er Jahren Kritiken für den „Spiegel“, „Die Zeit“, „Konkret“ und die „Süddeutsche Zeitung“. Ihm zur Seite stand immer Frieda Grafe, mit der er oft Texte gemeinsam verfasste. Sie war eine herausragende Autorin, die leider schon 2002 gestorben ist. Patalas hat ihr Werk danach in zwölf Bänden herausgegeben.
Patalas und Grafe waren – was man nicht vergessen sollte – auch als Übersetzer aus dem Englischen und Französischen tätig. Sie haben Truffauts Interview „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“, Godards „Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos“ und Eric Rohmers Dissertation über Murnaus Faustfilm ins Deutsche übertragen.
1973 wurde Enno Patalas Leiter des Filmmuseums im Münchner Stadt-museum, dessen Kopiensammlung er in den Folgejahren gigantisch vergrößerte. Seine Filmreihen sind legendär geworden. Im schwarzen Saal im Untergeschoss des Filmmuseums konnte man wie sonst nirgendwo vollständige Retrospektiven großer Regisseure sehen (Dreyer, Hawks, Hitchcock, Lang, Lubitsch, Murnau, Ophüls, Sirk, Sternberg), Länderreihen aus Frankreich (Nouvelle Vague), Italien (Neorealismus), Japan (Kurosawa, Mizoguchi, Ozu), der Sowjetunion (Eisenstein, Pudowkin, Wertow) und deutsche Klassiker der zehner und zwanziger Jahre. Wichtig war für Patalas die Qualität der Kopien. So hat er relativ schnell Verbindungen zum sowjetischen Archiv Gosfilmofond in Moskau hergestellt und konnte vom dortigen Bestand an deutschen Stumm- und Tonfilmen profitieren, die im eigenen Land oft nur in verstümmelten Fassungen archiviert waren.
Das hat ihm bei der Rekonstruktion der berühmten Filmklassiker „Nosferatu“, „Nibelungen“, „Metropolis“, „M“ sehr geholfen. Geradezu besessen forschte er nach „Metropolis“-Material und schrieb darüber ein Buch: „Metropolis in/aus Trümmern“, das 2001 erschienen ist. Auch der Film „Tabu“ von Friedrich Wilhelm Murnau hat ihn intensiv beschäftigt, das entsprechende Buch trug den Titel „Südseebilder“ (2005).
Ich kannte Enno Patalas seit den späten 1960er Jahren. Bei einem Buch über Fritz Lang haben wir eng zusammengearbeitet. Als die Kinemathek zur Berlinale 1984 eine Ernst Lubitsch-Retrospektive organisierte, haben wir gemeinsam die Publikation herausgegeben, es war das erste Buch über diesen Regisseur in deutscher Sprache. Sein Text hieß „Eine Lektion in Kino“, Frieda Grafes Text „Was Lubitsch berührt“. An beiden Beiträgen war redaktionell nichts zu verändern. Ihre Nähe zu den Filmen war in jedem Satz zu spüren.
Bis 1994 hat Enno Patalas sein Münchner Filmmuseum im Deutschen Kinematheksverbund vertreten. Er neigte zu Monologen und hatte wenig Verständnis für Kompromisse, die zum Beispiel mit dem Blick auf einen ausgeglichenen Haushalt zu machen sind. Diplomatie war ihm eher fremd. Das hatte auch Konsequenzen für sein eigenes Haus, dem ein zweites Kino immer wieder verweigert wurde. 1993 wurde er mit dem Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises für herausragende Verdiente um den deutschen Film ausgezeichnet. Die schöne Laudatio hielt damals Ulrich Gregor.
Als Historiker hat Enno Patalas nicht nur Bücher geschrieben, Retro-spektiven konzipiert und Filme rekonstruiert, er hat auch Filme fürs Fernsehen gedreht, zum Beispiel über Murnau, Lubitsch, Renoir und Sternberg. Wer ihn als Schauspieler erleben will, muss ins Jahr 1974 zurückgehen. Da spielte er den Pastor Fuhrmann in Werner Herzogs Film „Jeder für sich und Gott gegen alle“.
Nachruf in: Der Tagesspiegel v. 10.8.2018.