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08. April 2017

Kinobesuche einer Stenotypistin

2016.ProtokolleCharlotte Gerth aus Leipzig, geboren 1918, hat – zunächst als Schülerin, später als Steno-typistin einer Uhrenfabrik – in einer Art Tagebuch ihre Kino-besuche notiert und die Filme zum Teil mit kurzen Bemer-kungen bewertet. Das liest sich zum Beispiel so: „’F.P.1 ant-wortet nicht’ mit Hans Albers, Sybille Schmitz u.a. Ein Film einer künstlichen Insel im Meer. Wunderbar. Ges. 29.1.33.“ Oder: „’Menschen im Hotel’ mit Greta Garbo, John Barrymoore u.a. Das Treiben des Hotels, sehr schön. Ges. 9.4.33.“ Oder: „’Die Finanzen des Großherzogs’ mit Viktor de Kowa, Hilde Weissner u.a. Hatte sehr wenig Sinn. Ges. 18.1.34.“ Oder: „’Das Privatleben des Don Juan’ mit Douglas Fairbanks u.a.m. Große Aufmachung, nichts dahinter. Ges. 18.5.35.“ Das Notizbuch landete 1999, nach dem Tod von Charlotte Gerth, auf dem Flohmarkt, wurde dort von einem Typografie-Dozenten erworben, der es Jahre später seinen Studie-renden zeigte – und zwei von ihnen haben daraus ein Buchprojekt gemacht. Das interessante Resultat ist jetzt im Institut für Buchkunst in Leipzig erschienen. Band 1 enthält die transkribierten handschrift-lichen Eintragungen, die in ihrer Lakonie und Empathie berührend sind. Band 2 enthält ein Drehbuch der beiden Herausgeberinnen Katrin Erthel und Tabea Nixdorf, das die Protagonistin in Leipzig bei ihrer Arbeit und vor allem bei ihren Kinobesuchen zeigt, verbunden mit Ausschnitten aus Filmen, zu denen sie sich geäußert hat. In 21 Szenen wird so die Zeit zwischen 1931 und 1946 rekonstruiert. Natürlich werden auch die politischen Hintergründe deutlich gemacht. Die Lektüre dieses originellen Drehbuchs ist sehr spannend. Außerdem enthält der 2. Band neun Texte von Siegfried Kracauer aus seiner Serie „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“ (1927). Ich bin sehr beeindruckt von der Publikation (und dies nicht nur, weil ich selbst in meiner Jugend Kinolisten geführt habe. Die Filme wurden da mit Schulnoten bewertet…). Mehr zum Buch: series/8#103