Texte & Reden
08. Januar 2017

Friedrich Wilhelm Murnau

Text für das Programmheft des Münchner Filmmuseums

Murnau – das war sein Künstlername. Eigentlich hieß er Friedrich Wilhelm Plumpe, kam 1888 in Bielefeld zur Welt, machte in Kassel sein Abitur, studierte in Berlin und Heidelberg Kunstgeschichte und Literatur und engagierte sich früh im Studententheater. Ab 1913 gehörte er zum Ensemble der Reinhardt-Bühnen in Berlin. Da nannte er sich bereits Murnau – nach dem Künstlerort in Oberbayern, der ihm bei einem Besuch offenbar gut gefallen hatte. Den Ersten Weltkrieg überlebte er als Kriegsfreiwilliger, am Ende im Range eines Leutnants, interniert in der Schweiz. Er kehrte nach Berlin zurück und drehte 1919 seinen ersten Film – DER KNABE IN BLAU – dem in schneller Folge fünf weitere folgten. Leider sind diese ersten Filme von Murnau nicht erhalten, wir können uns nur aus der zeitgenössischen Kritik ein Bild von ihnen machen. Zu Murnaus Darstellern gehörten damals schon Conrad Veidt, Fritz Kortner und Eugen Klöpfer.

Im Gegensatz zu seinen Regie-Kollegen Fritz Lang und Ernst Lubitsch lebte Murnau eher zurückgezogen; er verbarg sein Privatleben wohl auch, weil er homosexuell war. Er galt als distanziert, sein Wirkungsfeld waren die Filmstudios. An gesellschaftlichen Ereignissen nahm er selten teil. Als Fotograf hat er in Berlin, später auch in Amerika und in der Südsee gern Aktaufnahmen junger Männer gemacht. In dem Band „Friedrich Wilhelm Murnau. Die privaten Fotografien 1926-1931“ ist eine Auswahl 2013 bei Schirmer/Mosel publiziert worden.

DER GANG IN DIE NACHT, das Melodram eines Augenarztes, einer Tänzerin und eines blinden Malers, ist der älteste erhaltene Murnau-Film, er wurde im Januar 1921 in Berlin uraufgeführt. Wie so oft bei diesem Regisseur, standen große Darsteller im Mittelpunkt; hier waren es Olaf Fönss, Erna Morena und Conrad Veidt. Willy Haas, der als Filmkritiker früh die Bedeutung Murnaus erkannte, schrieb im „Film-Kurier“: „Es ist das Wunderbarste, dessen unser Herz überhaupt fähig ist: eine neue Musik schlägt leise in uns die Augen auf.“

Mit NOSFERATU. EINE SYMPHONIE DES GRAUENS schuf Murnau sein erstes klassisch gewordenes Werk, das Urbild aller Vampir-Filme, gedreht nach Bram Stokers Roman. Es hat Tom Tykwer bis in seine Träume verfolgt: „Das war heimliches Fernsehengucken. Ich weiß, dass der Film schon angefangen hatte und dass ich ’ne halbe Stunden geschafft habe. Ich hab’ mich derartig gegruselt, dass ich irgendwann abgeschaltet habe, was ein Riesenfehler war, weil ich noch nicht einmal die Konklusion mitbekommen habe, dass der Vampir wenigstens stirbt. Ich habe jahrlang den Film nicht sehen können, weil ich mich wirklich so gefürchtet habe davor. (…) Dass man den Film nicht vergessen kann, liegt an dieser Entschlossenheit der Bildgestaltung, an der stillen ikonografischen Geste, die der Film hat und an der Masse an eindrucksvollen Gemälden, die irgendwo im Unterbewusstsein mitschwimmen und die gesamte Filmgeschichte mitgeprägt haben.“ (in: AUGE IN AUGE, 2008).

Für Murnaus folgende Filme, DER BRENNENDE ACKER, PHANTOM, DIE AUSTREIBUNG und DIE FINANZEN DES GROSSHERZOGS (1921-24), schrieb Thea von Harbou die Drehbücher, die damals mit Fritz Lang liiert war. Zeitgleich entstanden dessen Filme DR. MABUSE, DER SPIELER und DIE NIBELUNGEN. Für Verbindungen zwischen Lang und Murnau sorgte der Produzent Erich Pommer. Und: es waren die Inflationsjahre – die deutsche Filmkunst florierte mehr als die Wirtschaft.

Emil Jannings war der Hauptdarsteller in drei Murnau-Filmen Mitte der zwanziger Jahre: DER LETZTE MANN, TARTÜFF und FAUST. Die Tragikomödie um einen alternden Hotelportier, der zum Toilettenmann degradiert wird, gilt als Murnaus Meisterwerk. Willy Haas schrieb nach der Premiere enthusiasmiert und Goethe variierend: „Kinder, von hier und heute beginnt eine neue Epoche in der Geschichte der Kinematographie.“ Der Film war auch in Amerika erfolgreich. Die Molière-Komödie vom Erbschleicher Tartüff erweiterte Murnaus Drehbuchautor Carl Mayer um eine Rahmenhandlung aus dem Filmmilieu, die Haupthandlung verlegte er ins Preußen des Alten Fritz. „Eine deutsche Volkssage“ war der Untertitel zum FAUST-Film mit Gösta Ekman als Titelfigur, Jannings als Mephisto und Camilla Horn als Gretchen. Ein Lichtspiel und ein Schattenspiel. Eric Rohmer hat darüber seine Dissertation geschrieben.

Als FAUST im August 1926 in Berlin uraufgeführt wurde, war Murnau schon in Amerika. Dorthin hatte ihn William Fox, der Chef des großen Fox-Studios, mit einem Vier-Jahres-Vertrag gelockt. Nur seinen ersten Film, SUNRISE, nach der Erzählung „Die Reise nach Tilsit“ von Hermann Sudermann, konnte Murnau ohne Eingriffe des Studios drehen, dann wurden ihm die kommerziellen Erwartungen der Produzenten und der rasche Wechsel vom Stummfilm zum Tonfilm zum Verhängnis. Man nahm ihm bei THE FOUR DEVILS (der Film ist leider nicht erhalten) und bei CITY GIRL (Drehbuch: Berthold Viertel) die Fertigstellung aus der Hand. Es wirkt wie eine Flucht aus der Realität, dass Murnau dann ein Projekt auf einer Südseeinsel realisierte: TABU, begonnen mit dem Dokumentaristen Robert Flaherty, nach einem Streit mit dem Co-Regisseur allein zu Ende geführt. Diese Liebeserklärung an eine ferne Kultur war für Frieda Grafe „eine Kosmogenie des Kinos: die Entstehung seiner Formen aus gleißenden, glitzernden Wasseroberflächen.“ (Süddeutsche Zeitung, Juli 1975). Die Premiere von TABU hat Murnau nicht mehr erlebt.

Am 11. März 1931 starb er nach einem Autounfall in Santa Barbara, Kalifornien. Er war 42 Jahre alt, hatte 21 Filme gedreht und galt als Regisseur mit Weltgeltung. An jenem Märztag war Charlie Chaplin gerade in Berlin zu Besuch. Am Abend hörte er während einer Varieté-Vorstellung von Murnaus Tod. Überliefert ist sein Kommentar: „Er war einer der besten Männer, die Deutschland nach Hollywood entsandt hat. Ich kann das Schreckliche noch gar nicht fassen.“

Am 19. März fand eine kleine Trauerfeier in Hollywood statt. Dann wurde Murnaus Leichnam nach Deutschland überführt und am 11. April auf dem Stahnsdorfer Waldfriedhof zu Grabe getragen. Fritz Lang sprach damals Gedenkworte am Sarg: „Er trat – stets guter Laune und verbindlich lächelnd – mit weit ausgreifenden Schritten ins Atelier und verbreitete schon durch seine bloße Anwesenheit Arbeitslust und Elan. Wirkend wie ein gutsituierter Herr aus großem Hause, der sich aus bloßer Neugier mit der Materie ‚Film’ wie zur Zerstreuung befasst, war er im Gegenteil ein zäher und intensiver Arbeiter; denn hinter seinerm saloppen Charme stand verbissene Energie, die er aber nie merken ließ. Wenn einmal Jahrzehnte vergangen sein werden, dann wird man wissen, dass hier ein Pionier mitten aus dem Schaffen abtrat, dem der Film die eigentliche Basis verdankt, sowohl in künstlerischer wie in technischer Beziehung. Er erkannte, dass der Film weit mehr als die Bühne das Leben als Gleichnis darzustellen berufen ist – denn alle seine Werke waren eigentlich in Bildform vorgetragene Balladen. Mit dem Wunsch und der Mahnung, der Hingeschiedene möge als Beispiel für alle ernsthaft Schaffenden weiter fortwirken, mit dem Begrüßungs-wort der Südseeinsulaner ‚Alo ha’Oe Murnau’.“ (zitiert nach Robert Herlth und Lotte H. Eisner).

Im Murnau-Buch der Deutschen Kinemathek zur Retrospektive 2003 schrieb Thomas Koebner im Schlussabsatz seines Essays: „Im Kern war der ‚romantische Preuße’ Murnau ein Elegiker: ein Erzähler vom verlorenen Paradies, vom verlorenen Glück, dessen Wiederkehr oder schwache Spiegelung – wenn es überhaupt dazu kommen sollte – er selbst ironisch brach (DER LETZTE MANN) oder nur nach einer Beinahe-Katastrophe gewährte (SUNRISE). Außenseitern gehörte seine Sympathie und seine Einfühlung: den Verlierern und Angeprangerten, den Einfältigen und den Mutigen, auch den Schönen (gerade in seinem Spätwerk), die offensichtlich den Neid der Götter erregen. Wer sich auf seine Filme einläßt, erspürt alsbald eine unvergleichliche Stimmung von leiser, dennoch nachhaltiger Innigkeit und diskreter Trauer, von Lebhaftigkeit und Bedauern, von unaufdringlichem Mitleid für seine Figuren, versetzt mit kleinen Blitzen eines weichen Humors, einer milden gelassenen Heiterkeit.“ (Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Melancholiker des Films. Berlin 2003, S. 52)

Er war einer der Großen des deutschen Films, beeinflusst von Malerei, Literatur und Schauspiel. Sein Beitrag zur Entwicklung einer spezifischen Filmsprache ist früh erkannt worden. Er arbeitete mit den besten Kameraleuten seiner Zeit zusammen: Fritz Arno Wagner, Karl Freund, Carl Hoffmann, Charles Rosher, Ernest Palmer, Floyd Crosby. Die prominentesten Schauspieler drängte es in seine Filme. Und für viele Nachgeborene in Europa, zum Beispiel für François Truffaut, Eric Rohmer, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard, für Werner Herzog, Ulrike Ottinger und Wim Wenders, war er die Inkarnation deutscher Filmgeschichte.

Murnaus Filme sind beredet und voller Zwischentöne, auch wenn es in ihnen noch keine gesprochenen Dialoge, keine originalen Geräusche, keine synchronen Töne gibt. „Stummfilm“ – das klingt weit entfernt. Aber wenn wir uns in den Bildern, zwischen melancholischen Träumen und melodramatischen Gefühlen bewegen, dann kann es eine Nähe geben, die das Damals mit dem Heute verbindet. Murnau entdecken! In einer Ausstellung im Lenbachhaus, in einer Retrospektive des Münchner Filmmuseums.

München, Herbst 2016.