Texte & Reden
28. Mai 2015

Rainer Werner Fassbinder

Text für den Film-Dienst

Über die Haltung des Regisseurs zur dargestellten Zeit

Auch Genies sind oft schwer zu erkennen. „RWF“ scheiterte in jungen Jahren an der Aufnahmeprüfung zur Filmhochschule. Seine Liebe zum Kino und sein ganz eigener Blick auf deutsche Geschichte setzten sich dennoch durch. Hommage auf einen einmaligen Künstler.

  1. Bewerbung

Im Mai 1966 bewarb sich Rainer Werner Fassbinder um einen Studienplatz an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Es gab insgesamt 245 Bewerbungen. Die Prüfungskommission – sie bestand aus den Direktoren Erwin Leiser und Heinz Rathsack und den Dozenten Ulrich Gregor und Peter Lilienthal – lud 74 Kandidaten zur Prüfung nach Berlin ein. Lilienthal notierte sich bei Fassbinder: „20jähriger Schauspieler, der für sein Alter eine bemerkenswert gute Drehbuchvorlage geschickt hat.“ Vier Tage dauerte die Prüfung. Die Bewerberinnen und Bewerber mussten einen Fragebogen mit 26 Fragen aus den Gebieten Literatur, Film, Theater, Kunst, Politik und Naturwissenschaft beantworten, aus einer Kurzgeschichte ein Filmexposé entwickeln, eine Filmkritik schreiben, eine Sequenz des Films „Ein zum Tode Verurteilter ist entflohen“ von Robert Bresson analysieren, einen Text für die Kommission formulieren und einen 15-Minuten-Film im 8mm-Format drehen.

Bei der Beantwortung des Fragebogens fallen Fassbinders Belesenheit, seine Filmbildung, seine Theaterkenntnisse auf, bei den politischen Themen ist er zurückhaltend, konkretisiert aber die Bedeutung des jüngsten Parteitags der KPdSU. Er äußert sich über die Unterschiede zwischen Roman und Film, über das Werk von Jean Vigo und Sergej Eisenstein, über Samuel Beckett und Marcel Proust, Günter Eich und Walt Whitman, über die Laiendarsteller in Ermanno Olmis IL POSTO, formuliert eine Kurzkritik zu Godard EINE VERHEIRATETE FRAU und antwortet auf die Frage „Welche Funktionen kann die Farbe im Film übernehmen?“: „Man kann möglicherweise den Bewußtseinsstand der Figuren oder den Gefühlszustand im Film mit Farbe verdeutlichen. Ich kenne nur ein Beispiel, wo das annähernd gelungen ist, Antonionis ‚Die rote Wüste’“.

Seine Filmkritik schreibt Fassbinder über Godards VIVRE SA VIE: klug, konkret, die Bedeutung des Films interpretierend. In einem späteren Interview hat er den Film als den wichtigsten seines Lebens bezeichnet; er habe ihn 27mal gesehen. Bei der Analyse der Sequenz aus Bressons Film hält er sich nicht bei formalen Beschreibungen auf, er dringt schnell ins Zentrum des Films vor. Der Text an die Kommission ist als Brief an einen Produzenten formuliert, bittet um die Unterstützung eines konkreten Projekts und enthält den rührenden Satz: „Ich sähe auch während der Dreharbeiten gerne jeden Tag einen Film, außerdem wäre ich für einen kleinen Vorschuß auf die Gage dankbar, ich habe oft arg Hunger.“

Fassbinders 15-Minuten-Film, den er während der Aufnahmeprüfung drehen musste, ist leider nicht erhalten. 32 Bewerber und drei Bewerberinnen haben im Mai 1966 die Aufnahmeprüfung an der DFFB bestanden. Rainer Werner Fassbinder war nicht dabei. Im Jahr darauf hat er sich noch einmal beworben, wurde aber nicht zur Prüfung eingeladen. Ich halte es für falsch, Fassbinders Scheitern den Kommissionen anzulasten. Auch Genies sind oft schwer zu erkennen.

2. Sichtweisen

Februar 1974. Im Kino der Film- und Fernsehakademie in der Pommernallee sehen die Herausgeber Peter W. Jansen und Wolfram Schütte mit zwei Autoren des Bandes der „Reihe Film“ (Wilfried Wiegand, Wilhelm Roth) in Anwesenheit von Rainer Werner Fassbinder dessen Filme. Ich nehme an der Sichtung teil, denn bei den ersten Bänden der später blauen, anfangs noch gelben Reihe bin ich für die Daten zuständig. In einem langen Gespräch arbeite ich mit Fassbinder seine Biografie und die Filmografie seines Werkes durch. Er datiert die Drehzeiten, beziffert die Höhe der Etats, löst Pseudonyme auf. Er ist entspannt und auskunftsfreudig. In der Frage seines Geburtsjahres täuscht er mich. Er sagt: 1946. Das ist falsch, richtig ist: 1945. Er wollte immer gern ein Jahr jünger sein. Sein Erinnerungsvermögen an Daten und Fakten erschien mir im Übrigen phänomenal.

Januar 1975. In Frankfurt am Main, bei der Degeto und bei Janus-Film, sehen die Autoren des Claude Chabrol-Bandes der „Reihe Film“ eine Retrospektive der Filme. Anwesend sind Rainer Werner Fassbinder, Peter M. Ladiges, Wilfried Wiegand, die Herausgeber Jansen und Schütte. Ich bin als Rechercheur der Daten wieder dabei. Fassbinder leitete damals gerade das „Theater am Turm“ (TAT) in Frankfurt, hatte dort den „Onkel Wanja“ von Tschechow inszeniert und war während der Vorführungen nicht in bester Stimmung. Er legte sich vor allem mit Wilfried Wiegand an. Sie stritten sich heftig, zum Teil während der Vorführung, über Filme oder einzelne Szenen, die Fassbinder kritischer sah. Sein Text „…Schatten freilich und kein Mitleid“ eröffnete den Band. Er liest sich wie eine Abrechnung. Nur Chabrols Filme LES BONNES FEMMES und LE BOUCHER hatten für Fassbinder künstlerische Qualitäten, DR. POPAUL und NADA erschienen ihm als „reiner Faschismus“. Sein größter Vorwurf: Chabrols Verachtung für sein Publikum. Die Herausgeber des Bandes waren von der Rigorosität ihres Autors überrascht.

3. Werkbeschreibungen

Als Rainer Werner Fassbinder am 10. Juni 1982 starb, war er 37 Jahre alt. Aber er hatte bereits ein gewaltiges Werk geschaffen: 25 Kinofilme, 14 Fernsehfilme, einige davon mehrteilig, 28 Theaterinszenierungen, acht eigene Theaterstücke, neun Bearbeitungen, vier Hörspiele, drei Kurzfilme, eine Fernsehshow. Er hatte sich als Autor und Regisseur, Darsteller, Produzent und Theaterleiter einen Namen gemacht und gelegentlich auch die Rolle des Komponisten, Cutters, Ausstatters oder Kameramanns übernommen. Er konnte vieles, fast alles. Er war zu seiner Zeit der kreativste Filmemacher in Europa. Rainer Werner Fassbinder ist auch 33 Jahre nach seinem Tod nicht in Vergessenheit geraten. Am 31. Mai wäre er siebzig Jahre alt geworden. Aber man konnte sich zu seinen Lebzeiten nicht wirklich vorstellen, dass er alt werden könnte. Andererseits war sein Tod ein Schock.

Was ist so ungewöhnlich und einzigartig an seinen Filmen? Was macht sie (auch international) zu Werken, die weit über ihre Entstehungszeit hinaus eine Bedeutung haben? Sie sind ein eigener Kosmos der Darstellung deutscher Geschichte. Man kann in ihnen die Zeit erkennen, in der sie entstanden sind, und die, von der sie erzählen. Aber sie erreichen offenbar auch jüngere Zuschauer. Sie haben – thematisch, stilistisch – enge Verbindungen zur Gegenwart. Es ist auffallend, wie viele Fassbinder-Filme in den letzten Jahren fürs Theater adaptiert wurden. Für ihn selbst gab es unmittelbare Verbindungen zwischen Bühne und Leinwand, obwohl zu seiner Zeit die Trennungen noch stärker betont wurden. Seine Stücke und seine Filme haben vergleichsweise einfache Plots. Sie spiegeln gesellschaftliche Realitäten. Sie bieten Schauspielerinnen und Schauspielern interessante Rollen. Sie lassen sich (das zeigt aktuell die Aufführung von „Warum läuft Herr R. Amok?“ in der Regie von Susanne Kennedy) multimedial inszenieren.

Fassbinder hat mit vielen inzwischen bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern zusammengearbeitet, als sie noch jung und unerfahren waren. Sie sind mit ihm, mit seinen Filmen berühmt geworden: Margit Carstensen, Ingrid Caven, Irm Hermann, Eva Mattes, Hanna Schygulla, Barbara Sukowa, Margarethe von Trotta (die später zur Regie wechselte), Harry Baer, Hans Hirschmüller, Gottfried John, Günther Kaufmann, Ulli Lommel, Kurt Raab, Volker Spengler. Oft waren ihnen die Rollen bereits auf den Leib geschrieben, denn in der Fassbinder Company herrschten enge Verbindungen.

Er hat mit vielen Schauspielerinnen und Schauspielern gearbeitet, die damals in Vergessenheit geraten waren, weil sie im neuen deutschen Filme nicht mehr besetzt wurden. Ich nenne nur: Annemarie Düringer, Ulla Jacobsen, Brigitte Mira, Eva Ingeborg Scholz, Luise Ullrich, Barbara Valentin, Karlheinz Böhm, Ivan Desny, Claus Holm, Adrian Hoven, Rudolf Lenz, Klaus Löwitsch. Und er hat sich internationale Stars vor die Kamera geholt, wenn es der Etat und das Projekt zuließen: Mario Adorf, Lou Castel, Eddie Constantine, Bulle Ogier, Dirk Bogarde, Andréa Ferréol, Mel Ferrer, Franco Nero, Jeanne Moreau. Meist wurde dann mehrsprachig, gelegentlich auch im Ausland gedreht, aber überwiegend realisierte RWF seine Filme in der Bundesrepublik.

Fassbinder hat vor allem mit drei Kameraleuten zusammen gearbeitet: zunächst mit Dietrich Lohmann, dann mit Michael Ballhaus und am Ende mit Xaver Schwarzenberger. Alle drei waren an Innovationen interessiert und haben eng mit ihrem Regisseur kooperiert. Zwischendurch (bei IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN und DIE DRITTE GENERATION) hat er selbst die Kameraführung verantwortet. Fassbinder war ein Bild-Regisseur, er kannte unendlich viele Filme, die ihn für die eigene Arbeit inspiriert haben. Zum Beispiel alles von Raoul Walsh, von Josef von Sternberg, von Douglas Sirk. Bei Walsh waren für ihn die Mutter-Sohn-Beziehungen Vorbild, bei Sternberg hat ihn der Umgang mit dem Licht fasziniert, bei Sirk die Verwendung der Farben. Fassbinders stärkster Farbfilm ist für mich LOLA.

Als der Film geplant wurde, ging es zunächst um eine Art Remake des BLAUEN ENGEL von Sternberg. Aber Fassbinder interessierte sich nicht für die wilhelminische Zeit, er wollte die Geschichte unbedingt in den fünfziger Jahren ansiedeln. Damit war ein Verzicht auf das Schulmilieu verbunden. Als Symbolfigur für den Wiederaufbau wurde nun ein Baudezernent in den Mittelpunkt gestellt. Von der Struktur des BLAUEN ENGEL ist dann nicht mehr viel übrig geblieben. Nur der Grundkonflikt ist noch da – die Leidenschaft eines seriösen Bürgers für eine unseriöse Frau – , und der Name dieser Frau: Lola.

Es gibt eine unvergessliche Schlüsselszene: Lola (Barbara Sukowa) und der Baudezernent von Bohm (Armin Mueller-Stahl) haben einen Ausflug gemacht, in einer Kapelle einen Kanon gesungen, sie sitzen am Abend in Lolas Auto. Sie warnt vor der Stadt: wo es ein Innen- und ein Außenleben gebe. Lola und von Bohm werden durch Kamerablicke und durch Farben getrennt, er in Blau getaucht, sie in Hellrot, und wenn sie in einem Bild zu sehen sind, stoßen die beiden Farben in der Mitte aufeinander. Als die Beiden das Auto verlassen, um sich zu trennen, und sie sich zum ersten Mal küssen, blendet sie der Scheinwerfer eines Busses – aber im gelben Licht sind sie endlich vereint, auch wenn sie weiter denn je von einander entfernt sind. So erzählen die Farben in LOLA immer auch eigene Geschichten.

In der ersten Hälfte des Films, wenn von Bohm noch moralisch integer erscheint, wird mit einem Farbspiel ein deutsches Synonym für Naivität plausibel gemacht: Blauäugigkeit, dargestellt mit einem Farbbalken im Gesicht, der gleichzeitig auch als Maske gedeutet werden kann. Später, wenn der Baudezernent in seine inneren und äußeren Konflikte verstrickt ist, fehlt dieses Signal. Immer wieder werden mit den Farben solche Hinweise gegeben oder Assoziationen ausgelöst. Ihre Entsprechung haben diese Farbspiele in den Musikzitaten, die aus Schlager- und Volksliedmotiven ironisch-distanzierende Muster bilden.

In den Farben von LOLA drückt sich eine Haltung des Regisseurs zur dargestellten Zeit aus. Sie ist nicht in verblichenen, verschatteten Farben wiedergegeben, sondern in aggressiven, aufdringlichen, fast geschmacklosen Tönen. Nicht sanft, sondern schrill, und grell. Nicht als etwas abgeschlossenes, zu dokumentierendes stellen sich die fünfziger Jahre für Fassbinder dar, sondern als offen in ihren Folgen bis in seine, ja, bis in unsere heutige Zeit.

Aber es ging Fassbinder in der Farbstilisierung, in seinem Bestehen auf extremer Künstlichkeit nicht nur um eine Haltung zu den fünfziger Jahren, sondern auch um seine Haltung zum Kino. Er hat sich immer gegen die Dogmen des engen Fernsehrealismus zur Wehr gesetzt, etwa mit seiner Serie ACHT STUNDEN SIND KEIN TAG gegen die so genannte „Berliner Schule“ von Ziewer und Lüdcke/Kratisch opponiert. Und LOLA ist ein Kinofilm. Die Irrealität seiner Farben weist ausdrücklich darauf hin, dass LOLA ein Artefakt ist, kein Abbild der dargestellten Zeit, keine einfache Rekonstruktion, die zeigt, wie es damals wohl tatsächlich war, sondern ein Produkt fürs Kino.

4. Rück- und Ausblick

Im Berliner Martin-Gropius-Bau ist seit Anfang Mai die Ausstellung „Fassbinder JETZT“ zu sehen, die vom Deutschen Filmmuseum in Frankfurt konzipiert und in Kooperation mit der Fassbinder Foundation realisiert wurde. Sie will uns zeigen, wie kreativ und universell er in den 1960er und 70er Jahren gearbeitet hat und wie stark er noch heute junge Künstlerinnen und Künstler inspiriert.

Die eine Seite der Ausstellung wirft Blicke zurück auf Fassbinders Werk, auf seine Arbeitsweise. Wir sehen Filmaufnahmen vom Set, beim Dreh, im Zusammenwirken mit seinem Team, wir sehen Notizen, Drehbücher, Zeichnungen, Kalkulationen, Drehpläne, Briefe, als Originale geschützt in Vitrinen. Dort sind auch Unterlagen zu seiner Bewerbung an der DFFB zu lesen. An Medienstationen können wir virtuell in Arbeiten blättern oder hören, wie er das Drehbuch zu „Berlin Alexanderplatz“ auf Band diktiert hat. Ein eigener Raum ist der Arbeit der Kostümbildnerin Barbara Baum gewidmet, die acht Produktionen von Fassbinder ausgestattet hat. Die Kostüme sind bis ins Detail wunderschön gearbeitet, ihrer Präsentation fehlt (für mich) allerdings eine spezifische Atmosphäre.

Die andere Seite der Ausstellung handelt vom JETZT, von den Einflüssen Fassbinders auf bildende Künstler der Gegenwart. Zu sehen sind Videoinstallationen von Runa Islam, Jeroen de Rijke/Willem de Rooij, Maryam Jafri, Ming Wong, Rirkrit Tiravanija, Olaf Metzel und Fotografien von Jeff Wall, die sich direkt oder etwas verschlüsselt auf Fassbinder beziehen. Für diesen Teil der Ausstellung sind Kenntnisse von Fassbinders Arbeit nützlich, und man sollte sich auch Zeit nehmen fürs genaue Hinschauen. Denn die Idee, zwischen dem Werk eines großen deutschen Filmkünstlers der jüngeren Vergangenheit und der Bildenden Kunst der Gegenwart eine Brücke zu bauen, ist faszinierend. So kann man einen 70. Geburtstag feiern, auch wenn der Gefeierte schon lange nicht mehr lebt.

Film-Dienst, 28. Mai 2015, Nr. 11