Texte & Reden
07. September 2013

Drei Theaterleben

Text für DVD-Booklet

Künstlerporträts sind eine spezielle Herausforderung im Genre des Dokumentarfilms. Lassen sich die Protagonisten, wenn sie noch am Leben sind, auf Gespräche ein? Können sie die Kamera vergessen? Geben sie ohne falsche Eitelkeit Auskunft über sich und ihr Tätigkeit? Gibt es Wegbegleiter, die den Erfahrungshorizont erweitern? Sind bei inzwischen verstorbenen Künstlern Hinterbliebene bereit, sich zu äußern? Wie ist die historische Materiallage (Fotos, Filme, Dokumente)? Wie lang darf der Film sein? Der Auftraggeber macht da oft Vorgaben. Kann der Film die Zeit, die Profession, die Persönlichkeit angemessen abbilden? Wie nahe kommen wir den Künstlern wirklich?

Andreas Lewin leitet seit 2006 das Festival DOKU.ARTS, das sich auf Filme über Kunst und Künstler spezialisiert hat. Er weiß wie kaum jemand sonst, welche qualitativen Unterschiede es im internationalen Spektrum dieser Filmsparte gibt und hat selbst mit beispielhaften Porträts Maßstäbe gesetzt. Ich möchte an drei Filme von ihm über Künstler aus dem deutschsprachigen Theater erinnern.

2003 entstand der Film Er spielte seinen Schatten mit. Der Schauspieler Klaus Kammer, 1929-1964. Kammer war eine der großen Persönlichkeiten des Theaters der 1950er und frühen 60er Jahre. Der Film dauert 75 Minuten, verzichtet auf einen Off-Kommentar und öffnet sich dem Zuschauer durch eine klug strukturierende Montage (Sybille Windt). Durch den ganzen Film ziehen sich Ausschnitte aus Kammers legendärem Auftritt als Menschenaffe in der Kafka-Adaption „Ein Bericht für eine Akademie“ (1962). Sie sind ein besonderes Dokument schauspielerischer Körpersprache. Für die biografische Informationsebene sorgt Kammers Witwe Hilde, die genau und sensibel seine Lebensstationen erzählt, gelegentlich ergänzt von den Töchtern Friederike und Christine. Fünf Kolleginnen und Kollegen (Charlotte Fuchs, Bruno Ganz, Thomas Holtzmann, Heidemarie Theobald, Stefan Wigger) berichten mit Respekt und Zuneigung von ihrer Wahrnehmung der Karriere von Klaus Kammer. Bühnenauftritte in der berühmten Fritz Kortner-Inszenierung von Max Frischs „Andorra“ (1962), sein Fernsehauftritt in der Kafka-Adaption „In der Strafkolonie“ (1963) mit Ernst Deutsch und verschiedene Filmausschnitte dokumentieren seine beispiellose Präsenz im Theater und in den zeitgenössischen Medien. Kammers Stimme prägt sich ein, seine Augen (Fotos), seine Bewegungen. Auch in der heiklen Frage, ob Kammers Tod im Mai 1964 in der Garage seines Wohnhauses selbst gewollt war, bleibt der Film diskret und frei von falschem Aufklärungsdrang. Die beiden Regisseure Imo Moszkowicz und Hansjörg Utzerath erzählen mit großer Zuneigung von der Zusammenarbeit mit Kammer. Und besonders berührend ist schließlich die Rede Fritz Kortners bei der Trauerfeier im Schillertheater. Natürlich ist es ein Resultat der Mediengeschichte, dass spätestens seit den 1960er Jahren viele öffentliche Ereignisse dank der Präsenz des Fernsehens dokumentiert sind. Auch davon profitieren Künstlerporträts. Der Wechsel von Schwarzweiß und Farbe macht die Zeitbrüche deutlich. Am Ende des Kammer-Porträts haben wir nicht nur einen Film über diesen speziellen Schauspieler gesehen, sondern konnten an der existentiellen Spannung teilhaben, denen die großen Darsteller des Theaters und des Films ausgesetzt sind.

Einer der größten Schauspieler und Regisseure des 20. Jahrhunderts war Fritz Kortner (1892-1970). Sein Leben und künstlerisches Wirken – er war jüdischer Herkunft – muss in enger zeitgeschichtlicher Verbindung gesehen werden. 2004 hat Andreas Lewin einen Film über ihn realisiert: Kortner. Leidenschaft und Eigensinn. 60 Minuten lang, ohne Kommentar, intensiv in der Darstellung eines Künstlerlebens. Das private Leben, die Ehe mit der Schauspielerin Johanna Hofer, bleibt dabei weitgehend ausgespart. Andererseits liefert die Tochter Marianne Brün so etwas wie den biografischen roten Faden. Im Prinzip war Kortners Leben dreigeteilt: Weimarer Republik, Exil, Nachkriegszeit/Bundesrepublik ab 1947; er gehörte zu den frühen Rückkehrern. Die Weimarer Zeit wird vor allem durch Filmausschnitte vermittelt. Es sind berühmte Titel darunter: Weltbrand (1920), Landstraße und Großstadt (1921), Schatten (1923), Atlantik (1929), Die Frau, nach der man sich sehnt (1929, mit Marlene Dietrich), Dreyfus (1930), Danton (1931), Der Mörder Dimitri Karamasoff (1931). Die Auswahl der Ausschnitte ist prototypisch, die Leidenschaft und Empathie des Darstellers stehen dabei im Mittelpunkt. Das Exil in England und den USA als zweite Phase wird von seiner Tätigkeit als Autor und Schauspieler dominiert. Auch dies belegen vor allem gut gewählte Filmausschnitte. Und dann die dritte Phase: der eigensinnige Theaterregisseur in der BRD, vor allem in München und Berlin. Fünf Schauspielerinnen und Schauspieler erinnern sich an die Zusammenarbeit: Rolf Boysen, Klaus-Maria Brandauer, Thomas Holtzmann, Doris Schade, Gisela Stein. Kortner selbst ist in Fernsehinterviews präsent, und seine prononcierte Stimme ist die akustische Basis des ganzen Films. Sie lässt den Zuschauer nicht los. Peter Stein (einst sein Regieassistent), Ivan Nagel (sein Dramaturg), Otto Schenk (sein Regiekollege) vertiefen die Erkenntnisse. Immer wieder geht es um den Umgang mit den Schauspielern, um die Akzentuierung von Ausdruck, Betonung, Sprache. Und Peter Stein baut in einem Statement die Brücke zum Expressionismus, die Kortners Pathos verständlich macht. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Film die Bilder aus Dokumentarfilmen und Wochenschauen, in denen sich die 20er/30er/40er Jahre in Erinnerung rufen. Ihre Auswahl und Montage (Sabine Brose) strukturieren den Films, geben ihm seine historische Glaubwürdigkeit.

Im dritten Film steht ein Nebendarsteller der ersten beiden im Mittelpunkt: der Schauspieler Thomas Holtzmann (1927-2013). Auch er war ein grandioser Darsteller. Lewin porträtiert ihn in einem 45-Minuten-Film: Holtzmanns Erzählungen (2007). Es ist ein Panorama der großen Rollen, viel Shakespeare (Hamlet, King Lear, Malvolio, Prospero) auch Goethe (Thoas in „Iphigenie auf Tauris“, Montecatino in „Torquato Tasso“), Don Carlos und der Großinquisitor in Schillers „Don Carlos“, Tschechow und – das zieht sich durch den Film – der Wladimir in „Warten auf Godot“ (Beckett). Lewin hat sich „mit dem Münchner Schauspieler auf Welt- und Theaterreise“ (UT) begeben. Das heißt: wir sehen, vor allem in Tahiti (2004) auch den Neugierigen, der viele Gegenden der Erde zusammen mit seiner Frau Gustl Halenke erkundet hat. Im Gespräch sagt Holtzmann viel Grundsätzliches zum Beruf des Schauspielers („Immer an der Grenze zur Verrücktheit“), aber auch ganz Praktisches zur Arbeit, zum Proben, zum Alltag. Ein schöner Ausflug gilt dem Film Wer sind Sie, Dr. Sorge? (1964), der ihn vor allem in der Sowjetunion bekannt gemacht hat. Wieder ist es die Montage von Beobachtungen, Gesprächen, Fotos und Filmausschnitten, die uns den Protagonisten nahe bringt (Schnitt: Sabine Brose). Kameramann in allen drei Filmen war Wojciech Szepel. Er hat keine Scheu vor Großaufnahmen, entscheidet sich oft für Variationen. Im Holtzmann-Film gibt es auch einen Kommentar (gesprochen von Jürgen Thormann), der aber nicht weiter stört. Eigene Akzente setzt in allen drei Filmen die Musik, mit Zitaten, die den Bildern einen eigenen Raum geben.

Es ist das Zusammenwirken aller Elemente, das am Ende entscheidet, ob Künstler (in unseren Fällen: drei Theatermenschen) dem Zuschauer nahe kommen. Ob alles Zeigen und Reden dazu führt, dass wir wirklich etwas über sie erfahren. Mehr als in Lexikoneinträgen, mehr als in den Informationen auf Wikipedia. Ich habe Kortner-Inszenierungen gesehen, ich habe Klaus Kammer und Thomas Holtzmann auf der Bühne erlebt. Andreas Lewins Filme holen Erinnerungen in die Gegenwart.

Booklet zur DVD LONTANO – DIE SCHAUBÜHNE VON PETER STEIN, 2013