Texte & Reden
11. November 2012

LIEBE MUTTER, MIR GEHT ES GUT (1972)

Text für eine Publikation des Reclam Verlages

BRD 1972,  Farbe,  87 Min. R: Christian Ziewer. – P: Basis-Film. – B: Klaus Wiese, Christian Ziewer. – K: Jörg Michael Baldenius. – Sch: Stefanie Wilke. – D: Claus Eberth (Alfred Schefczyk, Transportarbeiter), Nikolaus Dutsch (Bruno Behringer, Arbeiter), Heinz Herrmann (Meister der Galvanik), Ernest Lenart (Direktor), Kurt Michler (Betriebsratsvorsitzender), Horst Pinnow (Galvaniseur). Sprecher: Joachim Nottke.

Die Schallplatte, die sich am Anfang bildfüllend dreht, liegt einer Broschüre für westdeutsche Arbeiter bei. Sie beginnt mit der etwas abgenutzt klingenden Hymne „Das ist die Berliner Luft“ und leitet zu einer Ansprache des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt über: „Ich möchte Ihnen auf diesem Wege sagen, dass wir uns über jeden unserer westdeutschen Freunde freuen, der zu uns kommt und unser Leben und unsere Arbeit für und in Berlin mit uns teilen will. Lassen Sie mich deshalb gerade Ihnen zurufen: auch Deine Chance ist Berlin.“ Wir schreiben das Jahr 1967. Der Arbeiter Alfred Schefczyk ist dem Ruf von Willy Brandt gefolgt, nachdem er in einer kleinen Stadt in Baden-Württemberg seinen Job als Hilfsschlosser verloren hatte. Er ist jetzt als Trans­portarbeiter in einem großen Betrieb der Metallindustrie beschäftigt, lebt in einem städtischen Wohnheim für westdeutsche Arbeitnehmer und muss früh aufstehen. Seine Schicht dauert von 6 bis 14.45 Uhr.

Alfred, genannt „Schef“, ist nicht gerade der Held, aber die Hauptfigur des Films. Er gerät in mehrere Konflikte, die er – je nach Situation und persönlicher Stimmung – zuspitzt, schlichtet oder aussitzt. Seinen ersten Streit hat er mit einem Vorarbeiter, weil er Transportkisten zu voll gepackt hat. Das Problem: es gibt zu wenige Kisten. Der zweite Streit folgt sogleich in der Galvanik. Der Akkordarbeiter steht dort unter Leistungsdruck. Er kann sich nicht um zusätzliche Kisten kümmern. Also klaut Alfred welche, die irgendwo rumstehen, und versucht parallel, einem Kollegen bei einem Privatproblem zu helfen Inzwischen stapeln sich die vollen Kisten auf dem Gang, Alfred gerät in die Kritik des Meisters. Der appelliert an den Einsatz und die Solidarität der Arbeiter. Aber – Botschaft! – die Solidarität ist offenbar nicht sehr hoch entwickelt.

Der nächste Konflikt folgt am Feierabend im Wohnheim. Die Mieten sollen erhöht werden. Die Erregung der Betroffenen ist unterschiedlich groß. Mietstreik? Unterschriftensammlung? Öffentlichkeit? Die Mehrheit ist pessimistisch. Auch ein flammender Appell von Alfred hilft wenig. Um sich zu beruhigen, geht er mit einem Kollegen in die Kneipe. Sie wird zum Schauplatz einer Schlägerei, als die beiden dort als Westdeutsche identifiziert werden und mit Urberlinern in Streit geraten. Vor dem Mauerbau haben sich hier die Ossis als Arbeitskonkurrenten unbeliebt gemacht, inzwischen sind es die Wessis aus der BRD, die angeblich privilegiert werden. Alfred schlägt, nicht mehr ganz nüchtern, zu.

In einer Aufsichtsratssitzung wird die Stilllegung einer Abteilung beschlossen, die Produktion soll kostengünstig nach Westdeutschland verlagert werden. Der Betriebsrat kann sich mit seinem Minderheitsvotum nicht durchsetzen. 115 Arbeiter und 23 Angestellte werden entlassen. Bei einem Bier hört Alfred zwei Abschiedsmonologe: von einem Kollegen, der zehn Jahre dabei war („Ich muss wieder von unten anfangen.“), und von einem, der inzwischen über fünfzig ist („Ich hab doch keine Chance mehr.“). Eine Solidarität der verbleibenden Arbeiter gibt es nicht. Alfred betrinkt sich mit den entlassenen Kumpels. Er sehnt sich nach einer Luftveränderung.

Doch zunächst eskalieren die Konflikte in der Fabrik dramatisch. Mit einigen Änderungen im Produktionsablauf werden neue Zeitvorgaben für den Akkord verbunden. Es drohen größere Lohneinbußen. Die Stimmung in einzelnen Abteilungen kippt in spontane Streikbereitschaft. Weder der Betriebsrat noch die zuständigen Meister können zunächst schlichten. Die verschiedenen Gewerke schicken ihre Delegationen zur Geschäftsführung. Die Vertreter fallen dann auf den Trick herein, getrennte Gespräche zu akzeptieren. Als sie zu ihrer Basis zurückkehren, wirft man ihnen vor, verschaukelt worden zu sein. Nur einer war kompromisslos, dafür wird er fristlos entlassen und erhält Hausverbot. Alfred versucht, seine Kollegen zu einer Unterschriftensammlung zu überreden. Aber es gibt nur wenig Solidarität.

Am Ende schreibt Alfred einen Brief: „Berlin, 12. Oktober 1967. Liebe Mutter! Mir geht es gut. Du brauchst Dir nicht solche Sogen zu machen, wie Du sie in Deinem Brief geschrieben hast. Die Arbeit am Drehautomat ist nicht besonders anstrengend und ich komme auf mehr Geld als vorher. Wahrscheinlich werde ich bald aus dem Wohnheim ausziehen. Viele Grüße Euer Alfred“. Das klingt wie ein Happyend, aber der Film zielt in eine andere Richtung. Er will den Zuschauern deutlich machen, welche Interessen die sozialen Auseinan­dersetzungen bestimmen und welche Notwendigkeit zu solidarischem Handeln besteht. Fast lehrbuchhaft reiht er Konflikt an Konflikt und führt die offen­sichtlichen Fehler der Arbeiter vor: sie reagieren zu emotional, zu kleinmütig, zu egoistisch, zu halbherzig.

Christian Ziewer und sein Drehbuchautor Klaus Wiese haben intensiv recherchiert. Sie dürfen für sich in Anspruch nehmen, die Realität der Jahre 1966/67, also der Zeit der ersten großen Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik, konkret erforscht zu haben. Auch den Darstellern der Hauptrollen ist anzumerken, dass ihnen die Arbeitswelt nicht fremd war. Viele Nebendarsteller und Komparsen waren schauspielerische Laien mit Betriebserfahrung. Man spürt eine große Genauigkeit bei der Beschreibung von Alltag und Arbeit. Die Dialoge klingen bis in die Klischees nach Realität.

Dramaturgisch und strukturell verzichtet der Film auf Linearität. Es gibt abrupte Unterbrechungen, Zwischentitel, Kommentare aus dem Off, immer wieder sind Statements („Was ein Direktor zu sagen hat“, „Was ein Betriebsrat zu sagen hat“, „Was ein Arbeiter zu sagen hat“) von der Kamera frontal aufgenommen. Einmal verfolgen wir die Kette nach oben, personifiziert und typisiert: Meister – Betriebsleiter – Direktor – Kapitalseigner (Mehrheitsaktionär, Minderheitsaktionär, Kleinaktionär). Sie endet mit der Gewinnverteilung. Je höher die Betriebshierarchie, desto formaler und ritualisierter wirken Kleidung, Sprachgestus und Körperverhalten. Wer mit denen ganz oben verhandelt, muss sich fast zwanghaft verdrehen. Der Betriebsrat spielt in diesem Zusammenhang natürlich die undankbarste Rolle. Aber auch der Misserfolg der Delegationen ist vorprogrammiert. Ziewer und Wiese wollen zeigen, dass im realen Kapitalismus der BRD die Basisstrukturen nicht stimmen. „Die Politik der Vertreter der Arbeiterschaft muss neu überdacht werden.“ (Ziewer) Das setzt eine Stärkung der Gewerkschaftsmacht voraus und einen Bewusstseinsprozess bei Arbeitern und Angestellten.

Einerseits wurde Ziewers Liebe Mutter als „Zielgruppenfilm“ eingestuft. Er sollte in speziellen Veranstaltungen gezeigt und diskutiert werden, vor allem im Bereich der Gewerkschaften. Andererseits war er in enger Zusammenarbeit mit dem Fernsehen (WDR, Redaktion: Joachim von Mengershausen) hergestellt worden. Über die Dritten Programme schaffte er mit kleineren Schwierigkeiten auch den Weg ins Erste, nachdem er 1972 den Grimme-Preis gewonnen hatte.

Frauen sind in diesem Film nur am Rande zu sehen, meist schweigsam an ihren Arbeitsplätzen. Oder sie kommen verbal als Sexobjekte der Männerkommunikation ins Spiel. Einer im Wohnheim beklagt sich, „dass man seine Stoßdamen durchs Fenster holen muss statt durch die Eingangstür“. Ein Arbeiter bedauert ironisch den Meister: „Wenn der nachher noch auf Muttern raufkrabbeln will, geht dem garantiert die Puste aus.“ Ein Scherz: „Warum haben die Arbeiter die meisten Kinder? Weil sie einen Ausgleichssport brauchen.“ Alfred, auf sein finanziell günstiges Single-Dasein angesprochen: „Glaubst Du, meine Weiber kosten nichts?“ Für eine Genderdiskussion taugt der Film allerdings nur als Zeitdokument der frühen siebziger Jahre.

Christian Ziewer, geboren 1941, Absolvent der Deutschen Film- und Fernseh­akademie Berlin, Mitbegründer von Basis-Film, hat nach der Lieben Mutter nur noch vier Filme gedreht, den letzten – Der Tod des weißen Pferdes, über den Bauernkrieg – 1984/85. Als Dozent und Filmverleiher konnte er seither beobachten, dass sich Arbeits- und Kapitalverhältnisse in den letzten Jahrzehnten kaum in seinem Sinne verändert haben. Das mindert andererseits nicht die filmhistorische Bedeutung seines Erstlings, über den Wolfram Schütte 1972 schrieb: „Mit Liebe Mutter, mir geht es gut hat unser politischer Film endlich jene kommunikative Reife erlangt, von der er bisher nur wirr geträumt hatte.“

Ein Defizit des Ziewer-Films, sein Verzicht auf die Privatsphäre der Protago­nisten, hat zwei andere Absolventen der DFFB, Marianne Lüdcke (sie spielte eine Komparsenrolle bei Ziewer) und Ingo Kratisch (er war Assistent des Kameramanns Baldenius), zu ihrem Film Die Wollands (1972) inspiriert. Auch hier geht es um Konflikte in der Arbeitswelt, der Protagonist ist ein Schweißer, der sich weigert, seinem Abteilungsleiter die Namen der Anführer eines Streiks zu verraten und daraufhin nicht befördert wird. Die Erweiterung der Erzähl­perspektive, der Blick in Familienzusammenhänge, hatte Auswirkungen auf verschiedene Filme aus der Arbeitswelt in den siebziger Jahren. Sie wurden in der Mitte des Jahrzehnts bereits als „Berliner Schule des Arbeiterfilms“ bezeichnet. Winfried Günther hat dazu einen klugen Essay geschrieben, der das Reale und Authentische der Spielfilme gegen die Möglichkeiten des Dokumen­tarfilms abgrenzt. Programmatisch an der Berliner Schule ist: „Sich nicht mit der Faktizität des Bestehenden zu begnügen, sondern konkrete Möglichkeiten nachvollziehbar aufzuweisen, und zwar Möglichkeiten, die nicht so weit vom Alltag des Zuschauers entfernt sind, dass dieser ihre Verwirklichung von vornherein nicht mehr in Angriff nehmen kann (was auch die kritische Darstellung der Schwierigkeiten ein schließt, die dabei zu überwinden sind).“

In einem anderen Bereich, der Fernsehserie, setzte zeitgleich Rainer Werner Fassbinder seine Akzente: acht stunden sind kein tag (1972) – wie die „Berliner“ Filme vom WDR produziert – verbindet auf unterhaltsame Weise Arbeitswelt und Privatleben. Im Mittelpunkt steht ein Werkzeugmacher (Gottfried John), der sich im Betrieb engagiert und die Frau seines Lebens (Hanna Schygulla) kennen lernt. Stoff für fünf abendfüllende Folgen, die große Resonanz haben, aber nicht fortgesetzt werden. In den Achtzigern kommt die Arbeitswelt dem westdeutschen Film und Fernsehen wieder abhanden. So bleibt diese Berliner Schule leider folgenlos.

Literatur:

Theo(dor) Kotulla: Die Geschichte einer Revolte. Interview mit Klaus Wiese und Christian Ziewer. In: Filmreport 8/1972. – o.V.: Anatomie eines Arbeitskampfes. In: Der Spiegel v. 26.6.1972. – Lothar Lambert: Freudloses heute. In: Der Abend v. 27.6.1972. – Wolfram Schütte: Das Denken, das auf Veränderung drängt. In: Frankfurter Rundschau v. 28.6.1972. – Wilfried Wiegand: Filme aus der Arbeitswelt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 1.7.1972. – WB (Wilhelm Bettecken): Liebe Mutter, mir geht es gut. In: film-dienst v. 11.7.1972. – Klaus Eder: Tatsachen über den Arbeiter, seine Lage, sein Bewußtsein. In: Kirche und Film 8/1972. – Rupert Neudeck: Authentizität in der Fiktion. In: Funk-Korrespondenz v. 28.9.1972. – Gertrud Koch: Modell eines politischen Auf­klärungsfilms. In: Frankfurter Rundschau v. 26.10.1972. – Wolfgang Ruf: Die große Wut des Alfred Schefczyk. In: Süddeutsche Zeitung v. 3.11.1972. – Horst Knietzsch: Schneeglöckchen blühn im September. Zu Filmen von Christian Ziewer und Klaus Wiese. In: Film und Fernsehen (DDR) 5/1975. – Winfried Günther: Marginalien zur „Berliner Schule des Arbeiterfilms“. In: medien + erziehung 2/1977. – Freunde der Deutschen Kinemathek (Hrsg.): Berlin und das Kino. Filme, die Geschichte machten. Berlin 1987.

Norbert Grob/Hans Helmut Prinzler/Eric Rentschler (Hg.): Neuer Deutscher Film. Reclam 2012