ES (1965)

Text für eine Publikation des Reclam Verlages

BRD 1965, s/w, 86 min. – R und B: Ulrich Schamoni. – P: Horst Manfred Adloff. – K:  Gerard Vandenberg. – Sch: Heidi Genée. – M:  Hans Posegga. – D: Sabine Sinjen (Hilke Pohlschmidt), Bruno Dietrich (Manfred Palm), Horst Manfred Adloff (Manfreds Chef), Ulrike Ullrich (Claudia), Bernhard Minetti (Kunde), Werner Schwier (Angler), Tilla Durieux (Tante des Chefs), Rolf Zacher (Festredner)

Er ist 28 Jahre alt, die rechte Hand eines Grundstücksmaklers in Westberlin, heißt Manfred Palm und möchte beruflich Karriere machen. Sie ist 22, technische Zeichnerin in einem Architekturbüro, heißt Hilke Pohlschmidt, lebt mit Manfred zusammen und findet eine Heirat verfrüht. Sie weiß doch noch gar nicht, ob er „der Richtige“ ist. Dann passiert eine Unachtsamkeit, und Hilke hat ein Problem: Es, das in ihr entsteht. Sie informiert nur ihre Freundin Claudia über die beginnende Schwangerschaft. Erste dilettantische Versuche, das Problem zu beseitigen, misslingen. Bei einem Klassentreffen werden einschlägige Arztadressen ausgetauscht. Während Manfred nichtsahnend Kunden betreut und Geschäfte ins Laufen bringt, macht sich Hilke auf einen langen Weg durch Wartezimmer und Praxisräume, wo sie mit hundert Argumenten für den Schutz des werdenden Lebens konfrontiert wird. Sie lässt sich nicht beirren: „Alles, was ich brauche, ist ein Arzt, der es macht.“ Am Ende findet sie einen, und während Manfred von Claudia über das Problem informiert wird, ist die Abtreibung passiert. Im letzten Bild liegt Hilke eher verzweifelt als befreit auf dem Bett, Manfred sitzt ratlos am Tisch. Die beiden haben ein Beziehungsproblem, die Zukunft bleibt offen.

In der Bundesrepublik der mittleren 1960er Jahre dominieren noch christliche Ethik und bürgerliche Konvention. Unverheiratetes Zusammenleben wird geduldet, ein Schwangerschaftsabbruch ist gesetzlich streng verboten (§ 218) und gesellschaftlich tabuisiert. In seinem zweiten Teil konzentriert sich Schamonis Film auf dieses Thema. Im ersten Teil entfaltet er ein Westberlin-Panorama aus der Perspektive des jungen Mittelstands. Manfred ist der alerte, erfolgsorientierte Maklerassistent, der seinen westdeutschen Kunden interessante Bauprojekte schmackhaft macht. Das Berlinhilfegesetz bietet Steuervorteile. Vier Jahre nach dem Bau der Mauer gibt es verlockende Angebote. Ruinen, Leerstand, freie Gründstücke. Innensenator Kurt Neubauer wirbt derweil in einem Radiointerview für die neuen Ehestandsdarlehen. Wer heiratswillig ist und Kinder in die Welt setzt, braucht kaum noch etwas zurückzuzahlen. Auch das gilt als spezielle Berlinhilfe. Aber Manfred und Hilke wollen sich noch nicht binden, bei ihnen steht die berufliche Karriere im Vordergrund.

Eine Schlüsselszene: Manfred trifft auf der Straße eine frühere Freundin, die inzwischen verheiratet ist und zwei Kinder hat. Abends erzählt er Hilke von der Begegnung: „Das Mädchen kann einem schon leid tun. Da macht sie eine jahrelange Ausbildung, hat während der ganzen Zeit kaum was zum Leben, und als sie es geschafft hat, auf eigenen Füßen zu stehen, kriegt sie ihr erstes Kind, und dann kommt auch gleich das zweite, sie muss ihren Beruf an den Nagel hängen, jetzt geht sie mit den Kindern im Volkspark spazieren. Und warum das Ganze? Bloß weil ein kleiner Trottel von Siemens nicht aufgepasst hat.“ Hilke: „Vielleicht ist sie aber ganz glücklich?“ Manfred: „Welcher halbwegs normale, im Leben stehende Mensch kann denn dabei glücklich sein?“ Hilke: „Wenn sie gerne Kinder hat?“ Manfred: „Ich finde so etwas ja auch ganz putzig und schnuckelig, aber dafür seine eigene Existenz aufgeben, sich in Abhängigkeit bringen?“ Später fragt ihre Freundin Claudia: „Warum redest Du nicht einfach mal mit Manfred?“ Hilke: „Das hat doch keinen Sinn. Ich muss alleine damit fertig werden. Wahrscheinlich würde er mich sogar heiraten.“ „Dann heirate doch!“ „Wegen dieses Zufalls eine Zwangsehe? Ich weiß doch gar nicht, ob’s gut geht.“ Auf Nachfrage sagt Claudia, verheiratet, zwei Kinder, sie sei „nicht glücklich, aber ganz zufrieden“.

Es zeigt episodische Momentaufnahmen aus Westberlin in der Mitte der 1960er Jahre. Am Anfang landet ein Kunde aus Westdeutschland in Tempelhof, seine Ehefrau hat er wider Erwarten zu Hause gelassen: „Frauen stören ja nur bei Geschäften. Die Erfahrung haben Sie auch gemacht?“ Manfred: „Ja, ja.“ Kunde: „Geschäfte sind Männersache. Kurze, harte Entschlüsse. Frauen wollen immer erst abwägen und überlegen, und bis sie mit sich selbst einig sind, ist es schon zu spät.“ Für diesen Dialog ist der Schauspieler Bernhard Minetti eine ideale Besetzung: Er verleiht ihm Bedeutung und gibt Raum für eine ironische Wirkung. Ein Klischee mit Subtext. Der Komiker Werner Schwier räsoniert als Angler über den Fortpflanzungstrieb der Menschen: „Eigentlich sind es nur die Menschen und die Heuschrecken, die gar nicht mehr wissen, wie viele sie sind.“ Tilla Durieux als alte Tante aus dem Osten hält auf dem Friedhof Zwiesprache mit den inzwischen verstorbenen Freundinnen und Freunden. Manfred überlegt derweil, wie raumsparend es wäre, wenn man Grabstätten als Hochhäuser konstruierte. Fläche ist für ihn Geld. Seinen Kunden muss er natürlich auch Unterhaltung bieten, die entsprechenden Angebote haben vor allem Zeitkolorit.

Zum Besonderen an Es gehört die Bildsprache. Kamera: Gerard Vandenberg, ein Holländer, der es versteht, Fassaden und Brandmauern, überwachsene Grundstücke und verkehrsreiche Straßen in Bewegung zu versetzen. In den festen Einstellungen gibt es andererseits eine große Nähe zu den Personen. Damit bekommen die Darsteller auch der kleinsten Rollen Präsenz und Profil. Der Film hat einen schnellen Rhythmus, der durch die Musik von Hans Posegga noch betont wird. Dabei verselbstständigen sich manche Bildpirouetten, sodass man sich freut, wenn wieder etwas Ruhe entsteht.

Die Schamonis gelten als Filmfamilie. Der Vater Victor war Theoretiker und Experimentalfilmer, die Mutter Maria Vormann Drehbuchautorin. Der älteste Sohn, Peter, dreht 1965 seinen ersten Spielfilm, Schonzeit für Füchse. Der mittlere, Thomas, macht einen Umweg über Fernsehdokumentationen, bevor er 1970 den Spielfilm Ein großer, graublauer Vogel realisiert. Der jüngste, Ulrich, geboren 1939, hat mit 19 einen Roman geschrieben, „Dein Sohn lässt grüßen“, der auf der Liste der jugendgefährdenden Schriften landet, und findet für das Filmprojekt Es den Kunststoff-Fabrikanten Horst Manfred Adloff als Produzenten. Gedreht wird ohne Förderungsmittel, der Film kostet rund 470 000 DM, Ulrich ist bei Drehbeginn 26 Jahre alt. Sein Vorteil: Er ist unter den jungen westdeutschen Regisseuren der schnellste. Aber er gerät bald in den Schatten seines Bruders Peter und der anderen Mitstreiter: Volker Schlöndorff (Der junge Törless), Alexander Kluge (Abschied von gestern), Johannes Schaaf (Tätowierung) und Edgar Reitz (Mahlzeiten). Ulrich Schamoni hat es denn auch nur auf sechs Spielfilme gebracht, darunter Alle Jahre wieder (1967, nach einem Drehbuch von Michael Lentz) und Wir – Zwei (1969, mit Sabine Sinjen). 1980 verabschiedete er sich vom Kino, wurde Medienmanager und starb 1998. Die Nachrufe waren freundliche Sympathiebezeugungen. Es ist dort viel von Verspieltheit, Unkompliziertheit, Heiterkeit die Rede. An Es wurde mit Respekt erinnert.

Es hat zwei Hauptdarsteller. Bruno Dietrich muss dabei die undankbarere Rolle verkörpern: den erfolgsorientierten Makler-Assistenten Manfred, der in seiner Egomanie gar nicht merkt, welche Probleme seine Partnerin Hilke zu bewältigen hat. Er ist forsch und ehrgeizig, hat vor allem Zahlen im Kopf, wirkt unsensibel und rechthaberisch. Am Ende spürt er, dass er irgendetwas falsch gemacht hat. Dietrich spielt das mit Tempo und Charme, auch wenn er nicht mit den Sympathien der Zuschauer rechnen darf. Sabine Sinjen als Hilke vollbringt die weitaus größere darstellerische Leistung. Sie war in den späten 1950ern mit Josef von Bakys Filmen Die Frühreifen und Stefanie populär geworden, hatte sich in den 1960er Jahren zunächst auf die Theaterarbeit konzentriert und überrascht in Es mit einer sehr differenzierten psychologischen Studie, in der sich Selbstverantwortung, Trotz und Einsamkeit verbinden. Ihr Gang durch die Arztpraxen ist ein Zehn-Minuten-Solo mit kurzen Gegenschnitten in die Welt von Manfred, und die Großaufnahmen von ihr lassen keinen Zweifel aufkommen, dass sie weiß, was sie will. Spätestens hier spielt sich Sinjen ins Zentrum des Films.

Es ist nicht ohne Reiz, Sabine Sinjen und ihre Figur Hilke in einen kurzen Vergleich mit Alexandra Kluge und ihrer Figur Anita G. in Abschied von gestern (Alexander Kluge, 1966) zu setzen. Anita, fünf Jahre älter als Hilke, ist die unbehauste, streunende, nicht in der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft ankommende Einzelgängerin, die am Ende ihr ungewolltes Kind im Gefängnis zur Welt bringt. Hilke ist die angepasste, eher brave Bürgertochter, ihre Eltern haben sie liberal erzogen, sie drängen nicht auf Heirat. Sie wirkt zunächst nur verunsichert durch die ungeplante Schwangerschaft, die existentielle Herausforderung stellt sich erst am Ende und setzt sich fort, wenn der Film aus ist. Kluges Protagonistin läuft eher im Zickzack, Schamonis geht ziemlich geradeaus.

Wenn Großstadt-Filme, also Schauplatz-Filme – New York, Paris, Rom – so etwas wie ein Genre sind, dann trifft das natürlich auch auf Berlin-Filme zu. Sie leben vom Milieu, von der Atmosphäre, von der Typisierung der Protagonisten: Berlin. Die Sinfonie der Großstadt und Menschen am Sonntag als genuine Filmexperimente, Berlin Alexanderplatz und Emil und die Detektive als Literaturverfilmungen, Die Halbstarken (West) und Berlin – Ecke Schönhauser (Ost) auf der Suche nach Realität, Die Legende von Paul und Paula (Ost) und Der Himmel über Berlin (West) auf der Suche nach Poesie, Lola rennt als genuines Filmexperiment. In diesem Kontext ist Es – vergleichbar mit Zwei unter Millionen – ein Generationsporträt. Im Mittelpunkt stehen hier Twens, die ihren festen Platz in der Gesellschaft suchen. Sie wollen mitspielen, Erfolg haben, keine Außenseiter sein. Schamoni hat ein Gespür für die Hoffnungen, Wünsche und Attitüden seiner Generation, er ist Berliner mit westfälischer und Münchner Färbung, er gibt der Realität der Stadt auch gern eine komische Dimension, verbal und visuell.

In der Zeitschrift Filmkritik, die den jungen westdeutschen Film solidarisch und reflektierend begleitete, wurde Es höchst unterschiedlich bewertet. Peter M. Ladiges war beeindruckt von der Dramaturgie und den Beobachtungen der Kamera: „in keinem Augenblick langweilig“, „in hohem Maße authentisch“, „der Film eines Regisseurs, auf dessen weitere Arbeiten man nur mit Ungeduld warten kann“. Seine Bewertung: „vorzüglich“. Enno Patalas hielt im folgenden Heft dagegen: Er vermisst dramaturgische Zusammenhänge, nachvollziehbare Motivationen, kritisiert effekthascherische Schnitte und mangelndes Bewusstsein. In der damals berühmten Tabelle der „Filmkritik“ variierten die Bewertungen zwischen zwei Punkten („bemerkenswert“: Peter W. Jansen, Martin Ripkens, Hans Stempel), einem Punkt („unterhaltsam“: Frieda Grafe, Ulrich Gregor, Theodor Kotulla) und einem Minus-Punkt („langweilig“: Herbert Linder, Uwe Nettelbeck, Enno Patalas). Kluges Abschied von gestern gaben sie alle drei oder vier Punkte.

Für den atlas-Filmverleih, der sich um den jungen westdeutschen Film sehr verdient machte, wurde Es zu einem ansehnlichen Erfolg. Verlässliche Besucherzahlen existieren nicht (die gibt es erst seit Bestehen des Filmförderungsgesetzes 1968). Man darf von einer Million Zuschauern ausgehen. Es erhielt sechs Bundesfilmpreise: Ulrich Schamoni für Drehbuch und Regie, Host Manfred Adloff für die Produktion, Gerard Vandenberg für die Kameraführung, Bruno Dietrich als Nachwuchsdarsteller, Sabine Sinjen als Darstellerin. Das ist der Durchbruch des jungen westdeutschen Films auf der Ebene des Bundesfilmpreises.

Eine späte Pointe, die erst mit dem Fall der Mauer und den Neubauten am Potsdamer Platz zünden konnte, enthält eine Szene in Es, die den Makler Manfred mit anlagegierigen Kunden auf dem Gelände an der Mauer zeigt. Manfred: „Was glauben Sie, warum die den Zirkus Karajani ausgerechnet in diese trostlose Gegend gesetzt haben? Ich wüsste schon, was man hier machen könnte. Das wär’ die Bombe. Ein, zwei, drei wunderschöne Hochhäuser. Aber selbst wenn Sie nicht bauen wollen. Einfach kaufen, abwarten und liegen lassen.“ Kunde: „Das hat doch keinen Sinn, ich muss bauen. Sonst schnappt mir die Steuer meine Gelder weg.“ Makler: „Naja, zwei Hochhäuser, jedes 16, 18 Stock.“ Kunde: „Wer will schon an der Mauer wohnen?“ Manfred: „Jeder. Bei der Aussicht. Ist doch spannend. Rüber in den Osten gucken. Karl-Marx-Straße, Friedrichstraße, Alex. Die ganze Gegend. Ich sage Ihnen, das wird die Attraktion.“ Als Sony und Daimler in den 1990er Jahren am Potsdamer Platz ihre Center errichteten, zahlten sie für das Gelände rund 50 Millionen DM.

Literatur:

Ernst Wendt: Es und die Menschen von morgen. In: Film (Velber), 02/66. – Klaus Hellwig: Die Zeit es Argwohns. In: Frankfurter Rundschau v. 3.3.1966. – Peter W. Jansen: Das Glück und der Störfaktor. In: Frankfurter Allgemeine v. 17.5.1966. – Urs Jenny: Twen-Glück und Twen-Leid. In: Süddeutsche Zeitung v. 18.3.1966. – Manfred Delling: Hoffnung für den neuen deutschen Film. In: Die Welt v. 19.3.66. – Uwe Nettelbeck: Jetzt machen wir mal Kunst. In: Die Zeit v. 25.3.1966. – Urs Jenny: Es. In: Film, 04/66 – Peter M. Ladiges: Es. In: Filmkritik (München), 04/1966. – Enno Patalas: Es. In: Filmkritik, 05/1966. – Robert Fischer/Joe Hembus: Der Neue Deutsche Film. München 1981, S. 25-27. – Krischan Koch. Die Bedeutung des ‚Oberhausener Manifestes‘ für die Filmentwicklung in der BRD. Frankfurt am Main 1985, S. 146-150. – Guntram Vogt: Die Stadt im Kino. 1900-2000. Marburg 2001, S. 540-548.

Norbert Grob/Hans Helmut Prinzler/Eric Rentschler (Hg.): Neuer Deutscher Film. Reclam 2012