30. November 2012
DIE FRAU, NACH DER MAN SICH SEHNT (1929)
Text für die Süddeutsche Zeitung und die DVD
Was wir sehen, ist eine melodramatische Dreiecksgeschichte mit tödlichem Ausgang. Henri Leblanc, Anteilseigner eines maroden Familienbetriebes, heiratet eine reiche Frau und rettet damit seine Firma. Aber das Eheglück ist kurzfristig. Bei der Abfahrt zur Hochzeitsreise gerät der junge Mann ins Blickfeld einer geheimnisvollen Frau (Marlene Dietrich), die um Hilfe fleht. Sie möchte sich von ihrem Begleiter (Fritz Kortner) befreien, mit dem sie ein Verbrechen verbindet. Henri verlässt in der Hochzeitsnacht seine Braut und gerät ins Netz einer ambivalenten Dreiecksbeziehung, deren Dramatik bei einer Silvesterparty und am Morgen danach ihre Höhepunkte erreicht. Marlene stirbt, Kortner wird verhaftet, und Henri (Uno Henning) will am Ende nur noch nach Hause.
Es sind vor allem die Blicke, die diesen Film prägen und seinen Sog ausmachen. Blicke, in denen sich Angst, Sehnsucht, Hoffnung und Verzweiflung ausdrücken. Die Kamera registriert die Blicke aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Montage dehnt oder forciert die Blicke. Und immer wieder öffnen oder schließen sich Türen, geraten die Figuren in die Nähe von Spiegeln, drehen sich und suchen nach Auswegen aus dem Labyrinth von Gewissensnot und Gefühlsstau.
Was wir hören, ist eine stimmungsvolle, facettenreiche Orchestermusik, komponiert von dem Luxemburger Pascal Schumacher. Sie akzentuiert ohne Aufdringlichkeit die dramatischen Momente des Films, sie hat minimalistische Phasen, und immer wieder erklingt das Vibraphon. Was wir lesen – 1929 geht die Stummfilmzeit zu Ende – sind sparsame Zwischentitel, meist Dialoge, schnell zu erfassen, in grafischer Klassik.
Zwei Schauplätze dominieren den Film: Eisenbahn und Hotel. Die Abteile des Schlafwagens und der enge Gang, der sie verbindet, geben den Körpern wenig Spielraum. Die Choreographie spielt gelegentlich mit klaustrophobischen Ängsten. Die Hektik eines Hotels in der Silvesternacht vermittelt sich als Überfüllung, die keine Fluchtmöglichkeiten bietet. Am Ende wird der Mörder durch die Hintertreppe abgeführt, während das Hotelpersonal die Silvesterspuren beseitigt.
Der Däne Uno Henning spielt den jungen Ehemann Henri, dem seine naive Liebesbereitschaft zum Verhängnis wird. Der große, bullige Fritz Kortner ist sein Gegenspieler, er drängt sich nicht in den Vordergrund. Und die damals 28jährige Marlene Dietrich hatte schon ein Verführungspotential, bevor sie von Josef von Sternberg zur Ikone ihrer selbst stilisiert wurde. Henning, Kortner und die Dietrich agieren stumm, aber wir verstehen ihr Handeln in all seinen Widersprüchen, weil es in den Bildern, in Mimik und Gestik beglaubigt wird.
Kurt (später Curtis) Bernhardt (1899-1981) war ein deutscher Regisseur jüdischer Herkunft, emigrierte 1933 zunächst nach Frankreich, später in die USA und ist als Melodramatiker in die Filmgeschichte eingegangen. Die Frau, nach der man sich sehnt, sein letzter Stummfilm, hat ihn für eine Karriere prädestiniert.
Süddeutsche Zeitung, 30. November 2012