Texte & Reden
11. November 2012

DER KLEINE GODARD (1978)

Text für eine Publikation des Reclam Verlages

DER KLEINE GODARD AN DAS KURATORIUM JUNGER DEUTSCHER FILM. BRD 1978, Farbe, 81 min. – R, P, B: Hellmuth Costard. – K: Bernd Upnmoor, Hanno Hart, Hans-Otto Walter, Hellmuth Costard. – Sch: Susanne Paschen. – D: Hellmuth Costard (Antragsteller), Marie-Luise Scherer (Freundin), Hark Bohm (1. Regisseur), Rainer Werner Fassbinder (2. Regisseur), Jean-Luc Godard (Godard)

Zwei Mädchen spielen am Wasser. Sie fühlen sich unbeobachtet. Urlaubsstimmung auf Super-8. Vielleicht auch ein Homemovie von der Alster. Enten schwimmen durchs Bild, Passanten gehen vorbei, die Musik ist einschmeichelnd. Ein zweiminütiges Präludium.

Es folgt der Prolog, ein Text auf Papier. Während der Text vorgelesen wird, verbrennt das Papier: „1974. Unsere Hamburger Filmmacher Cooperative ist endgültig zusammengebrochen. Der junge deutsche Film erzielt mit viel Überredungskunst und beträchtlichem finanziellen Aufwand seine ersten, großen Erfolge. Da entschließe ich mich, ausgerüstet mit einem kleinen Fernsehauftrag, ein eigenes Kamerasystem herzustellen. Irgendetwas zwingt uns immer wieder, unser eigenes Unglück zu buchstabieren. Mein Ziel ist es, Spielfilme vollkommen phantasielos zu drehen, den ungestörten Ablauf der Ereignisse als perfekte Inszenierung auszunutzen. Drei Jahre später, im Mai 1977, muss ich den Versuch, mein Regiekonzept aus eigener Kraft zu verwirklichen, als gescheitert ansehen. Ich setze mich hin, um für das Kuratorium junger deutscher Film einen Antrag auf Filmförderung auszuarbeiten. So hoffe ich, mit kostspieligerem professionellem Gerät meine Vorstellungen doch noch verwirklichen zu können.“

Was heißt das: „Spielfilme vollkommen phantasielos drehen“? Was sollen uns da für Geschichten erzählt werden? Ist die Phantasie beim Filmemachen nicht Teil der Kreativität und des künstlerischen Anspruchs? Für das Kino bedeutete Phantasielosigkeit mehr als eine Dekonstruktion. Es wäre radikale Regelverletzung oder provokante Absurdität.

In seiner Wohnung im Hochhausbunker am Heiliggeistfeld hat der Hamburger Filmemacher Hellmuth Costard eine Versuchsanordnung installiert. Drei Super-8-Kameras beobachten ihn als Antragsteller für eine Produktionsförderung durch das Kuratorium junger deutscher Film. Costard ist Legastheniker, er schreibt höchst ungern. Er will Bilder machen und bastelt an technischen Erfindungen. Sein Antrag ans Kuratorium ist eigentlich ein Widerstandsakt. Handschriftlich formuliert er seine Vorbehalte gegen das Drehbuch als Grundlage für die Bewertung eines Filmprojekts. Er denkt nach, wir hören und sehen ihm zu. Das mühevolle Formulieren wird aus verschiedenen Perspektiven beobachtet. Eine Laborsituation. Gegen Ende des Films, der Antrag ans Kuratorium ist abgeschickt, kommt die Resonanz aus Wiesbaden:

„Sehr geehrter Herr Costard, leider muß ich Ihnen die Unterlagen zu Ihrem Filmvorhaben wieder zurücksenden. Der Verwaltungsrat des Kuratoriums junger deutscher Film hat im Hinblick auf das bekanntlich außerordentlich schmale Förderungsvolumen des Kuratoriums und die ungewöhnlich große Anzahl vorliegender Drehbücher beschlossen, zum diesjährigen Auswahlverfahren nur vollständig ausgearbeitete Dreh­bücher, nicht bloße Treatments, Exposés oder Drehbuchentwürfe zuzulassen. Ich möchte Ihnen empfehlen, das vorliegende Material zu einem vollständigen Drehbuch auszuarbeiten und Anfang 1978 einen erneuten Förderungsantrag zu stellen. Die vorgelegten Unterlagen gehen Ihnen mit separater Post wieder zu. Mit freundlichen Grüßen Dr. Dr. Dörffeldt, geschäftsf. Vorstandsmitglied.“ Dieser Text wird uns von einem „Kuratoriumsvertreter“ vorgelesen und anschließend von einem blinden Sekretär in die Schreibmaschine übertragen. Es handelt sich um die Inszenierung eines bürokratischen Aktes. Das Paradigmatische des Textes wird durch die beiden Darsteller zum Absurden. Costards Formulierung des Förderungsantrags und seine Ablehnung sind die Klammer und die erzählerische Basis dieses Films, seine erste Ebene.

Eine zweite handelt von einem Stipendium, das die Kulturbehörde der Hansestadt Hamburg dem französischen Regisseur Jean-Luc Godard anbieten will. Hellmuth Costard hat bei Godard angefragt, ob er ein solches Angebot annehmen würde. Dreimal wird der „große Godard“ in diesem Film zum Protagonisten. Zunächst in der Form eines Briefes. Costard lässt ihn sich von seiner Freundin Marie-Luise Scherer mündlich übersetzen. Ihr mäßiges Schulfranzösisch reicht, um den Kern des Textes in acht Filmminuten auf zum Teil absurden Umwegen zu entschlüsseln: Godard würde nur nach Hamburg kommen, wenn er hier einen Film realisieren könnte. Und er stellt die ketzerische Frage: „Ist es möglich, heute in Deutschland Filme zu machen?“ Sie wird, aus der Sicht des Franzosen, am Ende negativ beantwortet.

In einer zweiten Szene ist Godard vor allem als Mythos präsent. Sieben Juroren (darunter Ivan Nagel und Uwe M. Schneede) machen sich in einer prototypischen Sitzung alle nur denkbaren Gedanken darüber, wie man den großen Regisseur nach Hamburg locken könnte, ohne dass die Kulturbehörde und das Stipendienprogramm damit überfordert werden. Nach acht Filmminuten ist klar: Das Fernsehen muss helfen. Und schließlich trifft Jean-Luc tatsächlich in Hamburg ein. Beim NDR findet ein Gespräch mit Dieter Meichsner, dem Leiter des Fernsehspiels, statt, der immerhin zugesteht: „Ich habe von Ihrem Namen gehört“, aber nicht in der Lage ist, ihm einen Auftrag ohne ein ausformuliertes Drehbuch zu erteilen. Das Risiko für eine Sendeanstalt wäre zu groß. So reist der große Godard etwas verunsichert aus Hamburg ab, und der kleine Godard verabschiedet ihn am Flughafen.

Eine dritte Ebene des Films demonstriert, wie es in den späten 1970er Jahren in Deutschland möglich ist, Filme zu machen. Costard beobachtet die Dreharbeiten zu Moritz, lieber Moritz von Hark Bohm und Despair von Rainer Werner Fassbinder. Was er sieht, ist: hoher technischer Aufwand, rigide Trennung der Filmhandlung von der sie umgebenden Realität, Hierarchie der Professionen (Regie, Kamera, Darsteller, Ton, Maske, Regieassistenz), Orientierung am Skript, Verzicht auf jede Spontaneität. Also all das, was Costard am Filmemachen stört.

Daraus folgt logisch eine vierte Ebene: die Darstellung einer Filmtechnik mit geringem technischen Aufwand, die sich in der Realität als beweglich erweist, Spontaneität möglich macht und wenig kostet. Das war in den 1970er Jahren der Traum von Super-8. Amateure haben das Format meist stumm genutzt, um ihre Urlaubsreisen zu dokumentieren oder das Heranwachsen ihrer Kinder. Costard will auf professionelle Weise Bild und Ton synchronisieren. In einer Acht-Minuten-Demonstration erfahren wir viel über Quarzsteuerung, Monozellen, Schallschutz, Funkfernauslösung, Pausenstative, Synchrontester, Batteriekontrolle und hören am Ende, dass Costards mühselige Erfindungen zeitgleich von einem viel besser funktionierenden kommerziellen System überholt wurden. Aber er überlebt in den Niederlagen. Und wir schauen ihm dabei zu.

Die fünfte Ebene des Films sind Impressionen, Bilder, Töne, Zitate. Costard schläft, frühstückt, liest die Süddeutsche Zeitung, besucht die befreundete Familie Nettelbeck, lässt sich von Fellini- und Godard-Zitaten inspirieren, bekommt von seiner Frau das Buch „Die linkshändige Frau“ geschenkt, telefoniert mit seinem Vater, bekämpft eine Grippe, fährt mit dem Fahrrad durch die Stadt, sitzt an einer Stanzmaschine und am Schneidetisch, zitiert Alfred Andersch („Für mich sind Bücherschreiben und Filmemachen ein und dieselbe Sache“). Am Ende rasen dunkle Wolken im Zeitraffer über die Stadt. Wir können ahnen, dass Godards Hamburg-Film ein kurzfristiger Traum blieb.

Man kann dem Kleinen Godard eine kurzfristige, eine mittelfristige und eine langfristige Pointe hinzufügen. Costard protokollierte seinen Film, den er mit Hilfe des „Kleinen Fernsehspiels“ des ZDF realisieren konnte, machte daraus ein formgerechtes Drehbuch und reichte es beim Kuratorium junger deutscher Film zur Förderung ein. Die Antwort: Fertige Filme könne man leider nicht fördern, er müsse sich mit einer Vertriebsprämie zufrieden geben. Zweite Pointe: Für sein Projekt „Kippenbergers Kommentar“ erhielt Costard Förderungszusagen vom Bundesinnenministerium, der Filmförderungsanstalt, dem Kuratorium junger deutscher Film, dem Land Berlin und Produktionsmittel des WDR in erstaunlicher Höhe. So gut ausgestattet war er noch nie, aber das Projekt wurde nicht realisiert. Dritte Pointe: Godard drehte 1991 in Deutschland den Film Allemagne 90 neuf zéro/Deutschland Neu(n) Null, produziert für den französischen Fernsehsender Antenne 2. Er schickte Eddie Constantine als Lemmie Caution auf die Suche nach Bildern und Tönen im wiedervereinten Nachbarland. Der Film spielt in Berlin, Buchenwald und Bitterfeld, er zitiert Marx, Murnau und Marlene, er assoziiert, dokumentiert und fragmentiert. Alles ohne Drehbuch. Ein Projekt für den NDR wäre das nicht gewesen.

Einige Beispiele für die Phantasie des Filmemachers Hellmuth Costard: In dem Drei-Minuten-Film Warum hast Du mich wachgeküsst? (1967) sehen wir zunächst einen bombastischen Hollywoodfilm-Vorspann, dann ein nacktes Mädchen im Spiegel, das eine laufende Kamera in eine Schublade legt, und von der dunklen Leinwand hören wir ein Dowshenko-Zitat, das den Tod eines Bräutigams und die Trauer einer Braut beschreibt. In dem Kurzfilm Besonders wertvoll (1968) rezitiert eine leinwandfüllende Penisöffnung mit der Stimme des Bundestagsabgeordneten Hans Toussiant die Sittenklausel des Filmförderungsgesetzes. Das Skandalon brachte die Oberhausener Kurzfilmtage aus dem Gleichgewicht. Die Unterdrückung der Frau ist am besten am Verhalten der Frauen zu erkennen (1969) macht die Monotonie der Hausarbeit durch einen Geschlechtertausch sinnfällig: Ein verkleideter Mann putzt, kocht, wäscht ab und macht mit sichtbarer Begeisterung auch noch die Betten. Alle Tätigkeiten bekommen damit eine andere Bedeutung. In dem Film Fußball wie noch nie (1971) beobachten sechs Kameras einen einzigen Spieler: den Linksaußen von Manchester United, George Best, in einem nicht weiter bedeutenden Spiel gegen Coventry City. 105 Minuten lang gibt es nur einen Hauptdarsteller im Bild. Für Fußballfans eine sehr begrenzte Perspektive, in der das Spiel selbst zum Nebenschauplatz wird. In Teilweise von mir – Ein Volksstück (1972) ist die Rezitation eines Textes auf 606 Personen aufgeteilt. Da bleibt, in 53 Minuten, nicht viel Zeit für den einzelnen Sprecher. Witzleben (1981, zusammen mit Jürgen Ebert) dokumentiert einen Monat im Leben einer Tankstellenbesitzerfamilie in dem norddeutschen Provinzdorf Wrist. Wie die Zeit vergeht. Echtzeit (1983, wieder zusammen mit Jürgen Ebert) verwebt in raffinierter Form, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, handelt von Realität und Illusion, von Architektur und Computertechnik, spielt mit einer Liebesgeschichte und ihrer Simulation, ist Dokument, Fiction und Science-fiction. In Aufstand der Dinge (gedreht von 1987 bis 1992) mischen sich Außerirdische in den Bau eines Sonnenkraftwerks ein und sorgen für Verunsicherung. Bestimmend für Costards Filme sind Überraschungen, Verwandlungen, Veränderungen, Irritationen, extreme Fokussierungen, Zeitsprünge, Perspektivdrehungen. Es kann einem beim Zusehen manchmal schwindelig werden, und dann wieder hat man alle Zeit der Welt, um einem alltäglichen Vorgang zuzuschauen, der in diesen Filmen ganz anders aussieht als gewohnt.

Bei Hellmuth Costard kollidierten die ihm verhassten Schreibkonventionen immer mit seiner Liebe zu Bildern und Tönen. Eine Weile wurde er dem so genannten Experimentalfilm zugerechnet. Sein Querdenken und das Umfeld der Hansestadt brachten ihn in die Hamburger Filmmacher Cooperative, die sich dezidiert zum „Anderen Kino“ bekannte. In den 1970er Jahren profitierte er von der Offenheit der Dritten Fernsehprogramme für alternative Filmideen. In den 1980er Jahren lebte und arbeitete er in Berlin, dann zog es ihn ins Ruhrgebiet. Er investierte zuletzt all seine Zeit und Kraft in eine „Sun-Machine“, einen Hohlspiegel für die mobile Energiegewinnung aus dem Sonnenlicht. Er starb, 59jährig, Pfingsten 2000 in Oberhausen. In den Nachrufen war viel von einem „kleinen Godard“ die Rede.

Literatur: Hans C. Blumenberg: Kino der dritten Art. In: Die Zeit v. 30.6.1978. – Dietrich Kuhlbrodt: Costards Dreh am Rad der Filmgeschichte. In: Frankfurter Rundschau v. 1.7.1978. – Jochen Brunow: Über das Bildermachen. In: tip (Berlin) 21/1978. – Frieda Grafe: Aus Bildern Bildung. In: Süddeutsche Zeitung v. 11./12.11.1978. – Wolfram Schütte: Lemmy Caution in Alpha 78. In: Frankfurter Rundschau v. 27.1.1979. – Manfred Delling: Hellmuths Rache. In: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt v. 25.2.1979. – Jan Dawson (Hrsg.): The Films of Hellmuth Costard. New York 1979. – Russell A. Berman: Hellmuth Costard: The Undisturbed Course of Events. In Klaus Phillips (Hrsg.): New German Filmmakers. New York 1984. – Ann Harris: Taking Time Seriously: Technology, Politics and Filmmaking Practice in the Films of Hellmuth Costard. PhD Dissertation New York University 1993. – Christian Bau: Die kritische Masse. Film v. 1998 über Costard und die Hamburger Filmmacher Cooperative. – Helmut Herbst: Ein Meister des Chaos. In: Frankfurter Rundschau v. 15.6.2000. – Werner Nekes: Alle Macht der Kamera. In: Der Tagesspiegel v. 15.6.2000.

Norbert Grob/Hans Helmut Prinzler/Eric Rentschler (Hg.): Neuer Deutscher Film. Reclam 2012