Texte & Reden
14. November 2009

Michael Verhoeven

Laudatio zum Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin

 

Sehr verehrter Herr Bundespräsident, sehr geehrter Herr Professor Blumenthal, verehrte Ehrengäste und Preisträger, Exzellenzen, meine Damen und Herren, lieber Michael,

wenn Kunst zu Verständigung und Toleranz beiträgt, erfüllt sie eine ihrer vornehmsten und nachhaltigsten Aufgaben. Mit den Auszeichnungen für den Schriftsteller Imre Kertész und den Dirigenten Daniel Barenboim ist dies in den letzten Jahren auch vom Jüdischen Museum Berlin gewürdigt worden. Heute wird mit Michael Verhoeven erstmals ein Filmregisseur mit dem Preis bedacht. Er hat ihn verdient. Und das möchte ich begründen.

Michael Verhoeven, geboren 1938 in Berlin, Schauspieler, Autor, Regisseur und Produzent, ist als Künstler und Filmemacher ein Humanist. Sein Werk – und man darf bei mehr als fünfzig Spielfilmen, Dokumentarfilmen, Fernsehfilmen und Serien durchaus von einem Lebenswerk sprechen – sein Werk ist vielfältig, zum Teil sehr unter-haltsam und in seinem Kern politisch. Damit meine ich, dass er die Geschichten, die er erzählt, und die Figuren in diesen Geschichten gesellschaftlich definiert. Das macht sie interessant, beispielhaft und modern.

In den Filmen von Michael Verhoeven gibt es viele Themen. Eines, mit großer Kontinuität, ist die deutsche Vergangenheit. Er holt diese Vergangenheit in die Gegenwart, indem er sich – immer wieder und immer wieder neu – auf eine Spurensuche begibt. Es interessieren ihn die Schicksale von Menschen, von Tätern und Opfern, in der Zeit des Nationalsozialismus, ihre Erfahrungen, ihr Denken, ihre Haltungen. Dies kann in Spielfilmen und in Dokumentarfilmen geschehen.

1982 drehte Michael Verhoeven den Film Die weiße Rose
mit Lena Stolze als Sophie Scholl. Viele hatten ihm damals von diesem Stoff abgeraten; das wolle doch niemand sehen; aber Michael ist stur, er hat einen Dickkopf, und DIE WEISSE ROSE wurde ein großer Erfolg. Der Film hat bis heute nichts von seiner Intensität verloren, weil er ohne falsche Effekte auskommt, weil sich die Schauspieler mit der Geschichte identifizieren konnten, weil der Regisseur ihnen die Brücken baute.

Es gab ein juristisches Nachspiel: mit dem provokanten Nachspann, dass der Bundesgerichtshof die Urteile gegen die Weiße Rose nie für Unrecht erklärt habe, setzte Verhoeven Mühlen in Bewegung, die so lange mahlten, bis die Urteile des damaligen Volksgerichtshofes offiziell aufgehoben wurden. Ein später Erfolg seiner Beharrlichkeit.

In dem Film Das schreckliche Mädchen von 1989 – ebenfalls mit Lena Stolze – stellt sich ein junges Mädchen gegen eine Stadt, als man ihr verwehren will, Geschichtsforschung zur nationalsozia-listischen Vergangenheit einiger Honoratioren zu betreiben. Der Film war ein Lehrstück in Zivilcourage, geschrieben nach authentischen Vorgängen in Passau, inszeniert als Groteske, die aufs Exemplarische zielte.

Auch Mutters Courage aus dem Jahr 1994 – nach einer Erzählung von George Tabori – nahm eine reale Geschichte zum Ausgangspunkt: wie Taboris Mutter in Ungarn ihrer Deportation nach Auschwitz entging. Verhoeven erzählte das als Tragikomödie und nahm damit dem Schrecken die falschen, nur emotionalen Ausrufezeichen. Im Spielfilm ist ja mehr erlaubt, als mancher Regisseur sich zutraut. Für Michael Verhoeven war in diesem Fall George Tabori der Mutmacher, und Gratwanderungen mit Schauspielern hat Michael immer wieder unternommen.

Es fällt auf, dass dieser Autor und Regisseur oft Frauen zu starken Protagonistinnen macht. Ihnen konzediert er Mut, List und eine aufrechte Haltung auch in extremen, existentiellen Augenblicken. Das ist bei ihm kein Tribut an populäre Erwartungen des Kinos. Es hat wohl eher mit eigenen Lebenserfahrungen und mit seiner Weltsicht zu tun. Denn ein Künstler darf auch Visionen haben. Es muss ihm nur gelingen, sie glaubwürdig zu gestalten.

Im Film gibt es dafür die Alternativen des Spielfilms und des Dokumentarfilms. Michael Verhoeven hat auf beiden Feldern Beispielhaftes geleistet. Ich möchte das noch an einem Film konkretisieren: Der unbekannte Soldat aus dem Jahr 2006. Er stellt Fragen nach der Rolle der deutschen Wehrmacht bei der Vernichtung der Juden im Zweiten Weltkrieg. Ausgangspunkt für die historische Spurensuche war die umstrittene Wehrmachtsausstellung, die zwischen 1995 und 2004 in vielen deutschen Städten gezeigt wurde.

Der Film geht über diese Ausstellung weit hinaus, weil er das historische Material in neue Zusammenhänge stellt: in eine Konfrontation mit unbelehrbaren Gegnern der Ausstellung, mit fanatischen NPD-Anhängern und mit persönlich Betroffenen, die sich vor der Kamera sehr emotional äußern. Aber vor allem stellt er das Material in den Kontext einer sachkundigen Analyse von Historikern, die uns die erschreckenden Dokumente erklären und beglaubigen. Und wir sehen Schauplätze der Geschichte in ihrer heutigen Präsenz, mit Menschen, die dort leben und sich als Betroffene an schlimme Erlebnisse erinnern. In der Ukraine, in Weißrussland. Das ist besonders berührend.

Der Kontrast zwischen den schwarzweißen Bilddokumenten und den farbigen Bildern der Gegenwart scheint die Entfernung zwischen damals und heute zunächst zu vergrößern. In Wahrheit – und das ist das Verdienst der Montage – rücken die Zeiten in diesem Film näher zusammen. Denn die Geschichte, unsere Geschichte, ist niemals abgeschlossen oder gar bewältigt. Man kann Erinnerungen nicht außer Kraft setzen. Man kann nur daran arbeiten, sie so real und so wahr wie möglich zu machen. Das ist für mich die Essenz dieses beeindrucken-den Films.

Eine ähnliche Analyse könnte man dem Film Menschliches Versagen aus dem Jahr 2008 widmen, der von der Enteignung der jüdischen Bevölkerung in den späten dreißiger Jahren handelt und vom Profit, den der Staat und die nichtjüdische Bevölkerung damit gemacht haben. Der Film ist ein erschreckendes Porträt der Oberfinanzdirektion Köln und der deutschen Bürokratie. Nüchtern in seiner Form, nach-haltig in der Wirkung.

Michael Verhoeven stammt aus einer Theaterfamilie, seine Mutter war Schauspielerin, sein Vater Paul ein erfolgreicher Theater- und Filmregisseur, auch seine ältere Schwester Liz wurde Schauspielerin. Es gibt den schönen Familienfilm Die Verhoevens von Felix Moeller, der die Bezüge deutlich macht. Aus dem Familienzusammenhang wollte Michael zunächst ausbrechen, und er wurde Arzt. Seine Dissertation behandelte die „Psychiatrische Maskierung von Gehirntumoren“. Er praktizierte, blieb aber als Schauspieler dem Film verbunden, und Ende der sechziger Jahre drängte es ihn dann doch zur Regie. Sein Vietnamfilm o.k. sprengte 1970 die Berlinale und ging damit in die Geschichte ein. Wer etwas über Michaels Leben wissen will, sollte seine Autobiografie „Paul, ich und wir. Die Zeit und die Verhoevens“ lesen, die sehr viel mehr ist als eine Selbstdarstellung.

Michael Verhoeven war und ist als Filmemacher kein Gruppenmensch. Er gehörte nicht zu den so genannten „Oberhausenern“, nicht zum Filmverlag der Autoren, er zählt auch nicht zur Absolventenclique einer Filmhochschule, denn er hat nie eine besucht. Er ist auf Individualität und Unabhängigkeit bedacht. Um diese zu sichern, gibt es die Produk-tionsfirma „Sentana Film“, die er 1965, also vor 44 Jahren, zusammen mit seiner Frau Senta Berger gegründet hat. Diese Firma hat nie ihre Bonität verloren, sie steht für die künstlerische und politische Haltung ihres Protagonisten Michael Verhoeven. Das hat Kooperationen mit anderen Produktionsfirmen und mit Fernsehanstalten niemals ausge-schlossen, aber das Profil von Sentana spielte immer eine prägende Rolle. Der Name hat einen hervorragenden Klang, nicht nur, weil wir damit den Namen Senta assoziieren.

Michael Verhoeven dreht keine gut gemeinten Filme über Verstän-digung und Toleranz. Er dreht Filme über unsere Geschichte. Er tut dies auf schmerzhafte, insistierende und das Gedächtnis der Deutschen attackierende Weise. Er leistet damit einen Beitrag zur historischen Wahrheitsfindung, die eine Voraussetzung ist für Verständigung und Toleranz in Gegenwart und Zukunft. Deshalb sage ich, dass er ein würdiger Preisträger ist. Und dazu möchte ich ihm gratulieren.

Jüdisches Museum, 14. November 2009