Texte & Reden
15. Dezember 2008

Über den Filmredakteur Volker Baer

Nachwort zu dem Buch „Worte/Widerworte“

Der fränkische Preuße

Ein Denkmal zu Lebzeiten. Nicht in Stein gemeißelt, auch nicht in Blei gegossen, aber zwischen zwei Buchdeckeln verewigt. 115 Texte aus fünfzig Jahren. Das ist eine schöne Ehrung für einen Filmredakteur, der nicht nur Filme, sondern auch Filmbücher liebt.

Filmredakteure in deutschen Tageszeitungen hatten (haben) keinen leichten Stand. Sie konkurrieren im Feuilleton mit der Bildenden Kunst, der Musik, der Literatur, der Oper, dem Theater. Und sie sind dort immer noch dem Vorurteil ausgesetzt, es handele sich beim Film um eine zwar populäre, aber nicht so ganz seriöse Kunst (wenn überhaupt von einer Kunst zu sprechen ist). Entsprechend hart waren und sind die Verteilungskämpfe um Raum und Platzierung. Da muss man sich als Redakteur mit Autorität behaupten. Vor allem in einer Zeit, in der die Zeitungen noch dünner waren und der Platz geringer, der dem Feuille-ton zugemessen wurde.

Volker Baer war von 1960 bis 1992 Filmredakteur des Berliner Tages-spiegels. Seine Autorität ist im Laufe der Jahrzehnte gewachsen. Vielleicht, weil das Ansehen des deutschen Films in dieser Zeit gewachsen ist. Aber auch, weil Baer selbst die Reputation des Films vergrößert hat. Dafür wusste er zwei Möglichkeiten zu nutzen: erstens hat er sich nicht damit begnügt, die jeweils neuen Filme zu rezensieren (oder von seinen Mitarbeitern rezensieren zu lassen); er hat das Feld der Berichterstattung über Film in seiner Zeit spürbar und sichtbar vergrößert. Zweitens hatte er an jedem Sonntag eine ganze Seite, die nur ihm und seinem Gegenstand gehörte: die Filmseite, auf der keine Kritiken publiziert wurden, sondern Porträts, Festivalberichte, Kommentare, Filmbuchrezensionen, Aufsätze zu filmrelevanten Themen. Das Privileg der eigenen wöchentlichen Seite war ziemlich einzigartig in Deutschland. Volker Baer hat es als verantwortlicher Redakteur substantiell genutzt.

Thematisch waren die Situation des Films in West und Ost und die Folgen der deutschen Geschichte Schwerpunkte des Autors Baer. Das wird auch in der Textauswahl dieses Bandes betont. Der Horizont des Redakteurs war allerdings weiter gespannt: er reichte dank seiner kompetenten Korrespondenten und Mitarbeiter bis nach Latein-amerika, Asien und den USA, natürlich auch nach Osteuropa und Skandinavien. Es wurde über neue filmkünstlerische Entwicklungen informiert, über Ausbildung, staatliche Förderung, Archivierung, über internationale Festivals (als ihre Zahl noch überschaubar und ihre jeweilige Bedeutung nicht geringer war), über die Aktivitäten der Goethe-Institute und der Export-Union des (west)deutschen Films, über die Sündenfälle der FSK und die Zensurentscheidungen des „Interministeriellen Ausschusses“.

Wenn Personen porträtiert wurden, ging es Volker Baer nie um das Privatleben, um Affären oder persönliche Angelegenheiten, sondern immer um die Sache: den individuellen Beitrag zum Wachstum der Filmkunst oder das Wirken in der Filmgeschichte. Wenn dabei die deutsche Filmgeschichte im Spiel war, wurde nach der Haltung in der Zeit des Nationalsozialismus gefragt. Große Aufmerksamkeit galt den Filmkünstlern, die 1933 ins Exil gehen mussten.

Geradezu süchtig war und ist Volker Baer auf neue Filmliteratur. Als Rezensenten interessiert ihn primär die Nützlichkeit. Ein Filmbuch muss für ihn nicht schön sein, sondern informativ. So beginnt seine Lektüre in der Regel am Ende eines Buches. Gibt es dort eine Filmo-grafie? Eine Bibliografie? Ein Register? In ihrer Summe sind Film-bücher für ihn Handwerkszeuge. Mit ihnen vermisst er die Phasen der Filmgeschichte, die Werke der großen und kleineren Künstler, die Länder und Genres. Ideal waren für ihn die Monografien der „Blauen Reihe“ des Hanser Verlages: sie erfüllten – einschließlich der ergänzten Neuauflagen – alle Kriterien eines nützlichen Filmbuches. Und die Herausgeber konnten sicher sein, dass jeder neue Band auch umgehend rezensiert wurde. Er war ein Fan der Bücher zu den Berlinale-Retro-spektiven, die er immer „Dokumentationen“ nannte, egal wie schön sie layoutet und wie raffiniert sie illustriert waren. Er hatte das Privileg, bereits die Druckfahnen auf den Schreibtisch zu bekommen, damit am ersten Berlinale-Sonntag seine Rezension im Blatt stand. Und er war einer der ersten, der unter dem Siegel der Verschwiegenheit, das er nie gebrochen hat, das Thema der nächsten Retrospektive erfuhr. Schön, dass er nach seinem Abschied vom Tagesspiegel seine Erfahrungen mit Filmliteratur für den film-dienst produktiv machen kann.

Volker Baers Interesse als Filmredakteur war auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Films gerichtet. Das machte er deutlich durch sein Engagement für Institutionen, denen er erst zum Leben verhalf. Nur Zeitgenossen wissen noch, wie schwierig die Gründungen der Deutschen Kinemathek und der Deutschen Film- und Fernseh-akademie in Berlin, wie wellenförmig die Entwicklungen der Berliner Filmfestspiele, der bundesdeutschen Filmförderung, der Vergabe des Deutschen Filmpreises verliefen. Die kritischen, in entscheidenden Momenten insistierenden Kommentare von Volker Baer waren oft hilfreicher und vernünftiger als die von Interessen gesteuerten State-ments in den Filmfachzeitschriften. In Berlin und in Bonn (wo das Innenministerium für den Film Verantwortung trug) hatte Baers Stimme Gewicht. Das Kuratorium junger deutscher Film – eine seiner Lieblingsinstitutionen – hat er über Jahrzehnte durch alle Stadien der Geburt, des Wachstums und der Krisen publizistisch begleitet, weil sie ihm für das Entstehen innovativer Filme unverzichtbar erschien.

Ich kenne niemanden in der Filmjournalistenbranche, der mit so viel Kompetenz und Interesse die jährlichen Berichte und Bilanzen der Filmförderungsanstalt und des Kuratoriums, die Broschüren der Film-bewertungsstelle Wiesbaden und die Statistischen Jahrbücher der SPIO studiert hat, um Folgerungen daraus zu ziehen oder unbequeme Fragen zu stellen. Manche Leser der Zeitung waren damit vielleicht überfordert, aber viele Filmpolitiker zeigten sich beeindruckt. Als verantwortlicher Redakteur darf man durchaus verschiedene Zielgruppen im Auge haben.

Er verfolgte mit der ihnen gebührenden Zuneigung die Arbeit der „Freunde der Deutschen Kinemathek“ und des Kinos Arsenal, die Entwicklung des Kinematheksverbundes, die Gründung der Filmmuseen in Frankfurt am Main, Düsseldorf und Potsdam und drängte in Berlin auf die Errichtung eines Filmhauses, dessen Planung und Realisierung 17 Jahre dauerte, die er neun Jahre als Filmredakteur des Tagesspiegels und acht Jahre als Mitarbeiter des film-dienstes in kritischer Solidarität begleitet hat. Heute gehört er zu den Stammgästen der Ausstellungseröffnungen und fühlt sich in seinen Erwartungen an das Museum hoffentlich bestätigt.

Was für Tugenden fallen mir ein, wenn ich an den Filmredakteur Volker Baer denke? Aufmerksamkeit, Genauigkeit, Hartnäckigkeit, Pünktlichkeit, Sachlichkeit, Unabhängigkeit, Zuverlässigkeit. Klingt ein bisschen sehr preußisch für einen, der in Franken geboren wurde. Aber wenn man nur lange genug in Berlin lebt und arbeitet, wird man vielleicht zu einem speziellen Preußen. Zum Beispiel zu einem mit Freundlichkeit, mit einer anderen Sprachmelodie, mit einem Gefühl für Distanz. Denn das sollte auch eine Tugend für Filmredakteure sein: bei aller Liebe zum Film und zu seinen Institutionen die kritische Distanz zu wahren, die für einen Redakteur alter Schule zum Selbstverständnis gehört. Mit dieser Haltung hat sich Volker Baer um den Film in Berlin und in Deutschland verdient gemacht.

In: Ralf Schenk (Hg.): Worte/Widerworte. Volker Baer: Texte zum Film 1958-2008. Marburg: Schüren 2008.