Texte & Reden
25. März 2008

Helmut Käutner zum 100. Geburtstag

Rede im Zeughauskino Berlin

Heute, an diesem 25. März 2008, feiern wir den 100. Geburtstag von Helmut Käutner. Er war Regisseur, Autor, Kabarettist und Schauspieler, geboren in Düsseldorf, gestorben am 20. April 1980 in Castellina in Chianti, einem malerischen Ort in der Toscana, begraben auf dem Waldfriedhof in Berlin-Zehlendorf.

Käutner hat zwischen 1939 und 1970 35 Filme fürs Kino gedreht. Zehn davon, darunter fast alle wichtigen, waren oder sind noch in der Retrospektive des Zeughauskinos zu sehen. Da kann man sich schon ein Bild machen von den Qualitäten dieses Regisseurs, der zu den Großen des deutschen Films gehört. Unumstritten war er nie. Seine kreativste Phase hatte er wohl in den vierziger Jahren, genauer: in der Zeit des Nationalsozialismus, von dem er sich nicht vereinnahmen ließ. ROMANZE IN MOLL, GROSSE FREIHEIT NR. 7, UNTER DEN BRÜCKEN, gedreht 1942, 43, 44, waren beispielhafte Fluchten aus der realen Unterdrückung: mit Geschichten, in denen es um Liebe, Sehnsucht und eine Vision vom Frieden ging. In den späten Vierzigern und den frühen Fünfzigern hatte er eklatante Misserfolge, in den frühen Sechzigern – mit dem Aufkommen des neuen westdeutschen Autorenfilms – endete eigentlich seine Kinopräsenz, er wanderte zum Fernsehen ab.

Um Käutners Filme in ihrem Zusammenhang und in ihrer Disparität zu verstehen, sollte man wissen, dass dieser Regisseur in den späten zwanziger Jahren – noch während seines Studiums der Theaterwissenschaft – als Schauspieler und Kabarettist erfolgreich war. Was als Studentenkabarett in München begann, wurde in den frühen Dreißigern unter dem Namen „Die vier Nachrichter“ zu einem professionellen Ensemble, das mit Gastspielreisen kreuz und quer durch Deutschland große Resonanz hatte. Käutner schrieb und spielte – oft inspiriert durch englische Autoren – Sketche und Szenen, in denen es um menschliche Schwächen, um Stereotypen und Standardsituationen ging. Aber auch die betonte Distanz zur Politik nützte nichts: die „Vier Nachrichter“ wurden 1935 als destruktiv und zersetzend eingestuft und daraufhin von den Nazis verboten. Spuren seiner Kabarett-Vergangenheit finden wir später in vielen Käutner-Filmen. Und auch ein Credo aus jener Zeit begleitete ihn durch die Jahrzehnte: Er zitierte gern die Inschrift des Potsdamer Theaters: „Dem Vergnügen der Einwohner“. Er fühlte sich vor allem dem Publikum verpflichtet.

Käutners erster Film entstand im Frühjahr 1939 und kam im August in die deutschen Kinos: KITTY UND DIE WELTKONFERENZ. Er wurde Ende 1939 im Hinblick auf die eingetretene Kriegslage verboten, weil die Engländer, personifiziert durch einen Minister, zu positiv ins Bild gesetzt waren. Was noch heute an dem Film erstaunt, ist seine Leichtigkeit und Eleganz. Und man sieht die wunderbare, damals gerade 17jährige  Hannelore Schroth in ihrer ersten Hauptrolle.

Der Titel von Helmut Käutners drittem Film ist so etwas wie ein Schlüssel zu einem Grundthema seines Werks: KLEIDER MACHEN LEUTE. Immer wieder spielen in seinen Filmen Uniformen, Verkleidungen, Verwandlungen eine Rolle, die folgenreiche Konflikte auslösen. Komische und tragische. Oder tragikomische wie im HAUPTMANN VON KÖPENICK. Käutners Problem, wenn es um Kostüm und Identitätsverlust geht, ist dann häufig die Stilisierung. Er neigte zum Spiel um seiner selbst willen, er verlor leicht die Realitäten aus den Augen, er verliebte sich schnell – wie in KLEIDER MACHEN LEUTE – in die Idylle oder in den Spaß an situativer Komik.

Wenn man das Gelingen und das Misslingen von Helmut Käutners Filmen – die sein Bild und seinen Nachruhm bis heute begleiten – auf einen Punkt bringen will, schafft man das vielleicht mit der Gegenüberstellung der letzten drei Filme vor 1945 und der ersten drei danach. Die Bedeutung von ROMANZE IN MOLL, GROSSE FREIHEIT NR. 7 und UNTER DEN BRÜCKEN scheint mir unbestritten. Es sind Filme, die so etwas wie eine innere Emigration am Ende der Zeit des Nationalsozialismus dokumentieren und doch Ausdruck eines hohen künstlerischen Anspruchs sind. Sie orientierten sich an französischen Vorbildern und brachten ihrem Regisseur den Ruf eines poetischen Realisten ein.

Entsprechend groß waren die Erwartungen in Helmut Käutner nach dem Ende des Krieges. Er stellte sich der Herausforderung und drehte einen damals so genannten „Zeitfilm“ mit dem Titel IN JENEN TAGEN. Erzählt wird die Geschichte eines Autos und seiner wechselnden Besitzer zwischen 1933 und 1945: vom Reichstagsbrand bis zum Ende des Krieges. Sieben Episoden schildern Menschen in existentiellen Situationen, es geht immer wieder um Leben und Tod, und das Auto ist das verbindende Transportmittel. Der Film versuchte, dem Publikum von 1947 Einsichten in einige Gründe für die gerade überwundene Katastrophe zu vermitteln. Er tat dies vorsichtig, mit Zwischentönen, auch mit viel Verständnis für menschliches und politisches Versagen. Aber es gab ein Problem: das Publikum interessierte sich nicht für die Darstellung seiner eigenen Geschichte. Es war noch nicht offen für die gelebte Realität oder gar für Selbstkritik. Es wollte in der noch herrschenden Angst und Not lieber unterhaltend abgelenkt werden.

Käutner reagierte darauf mit einer fast arroganten Kehrtwendung: er machte sich in seinem nächsten Film, DER APFEL IST AB – der Kabarettist lässt grüßen – , lustig über Gott und die Welt. Und er erlebte damit seine nächste Niederlage. Der Film wurde ein desaströser Misserfolg. Käutners Produktionsfirma „Camera-Film“ ging in die Insolvenz. Er musste sich nun als Auftragsregisseur verdingen. Es folgte ein Film, den heute kaum noch jemand kennt, er hieß KÖNIGSKINDER, war eine Trümmerkomödie mit Jenny Jugo und Peter van Eyck und damit schloss Käutner die vierziger Jahre fast am Tiefpunkt seiner Karriere ab. (Sein Generationsgenosse Wolfgang Staudte hatte zu dieser Zeit noch die DEFA als Auftraggeber und bereitete seinen Erfolgsfilm DER UNTERTAN vor – auch eine Satire, aber von großer Bedeutung).

Misserfolge begleiteten Käutner bis 1953. Dann entstand einer seiner großen Filme, DIE LETZTE BRÜCKE. Eine deutsche Ärztin gerät zwischen die Fronten und wird Opfer des Krieges zwischen deutschen Soldaten und jugoslawischen Partisanen. Der Film hält eine erstaunliche Balance zwischen Idee, Realität und Darstellung. Es war eine österreichisch-jugoslawische Koproduktion, die Maria Schell den Darstellerpreis in Cannes einbrachte und Käutner in die erste Reihe der westdeutschen Filmregisseure zurückholte. Zwei Jahre später drehte er einen Gegenwartsfilm, in dem zum ersten Mal die deutsch-deutsche Grenze ernsthaft thematisiert wurde. HIMMEL OHNE STERNE war ein Melodram, eine Liebesgeschichte zwischen Ost und West, mit einem genauen Blick für die Realitäten 1955. Wenn man den Film heute sieht, spürt man den unbedingten Willen, den Menschen auf beiden Seiten der Grenze gerecht zu werden. In der Bundesrepublik wurde der Film respektiert, aber nicht geliebt, in der DDR wurde er wohlwollend kritisiert, aber nicht gezeigt. So geriet Käutner immer wieder zwischen die Fronten. Auch zwischen die Fronten Kritik und Publikum, die sich in den fünfziger Jahren ziemlich unversöhnlich gegenüberstanden. Die Kritik wollte von Käutner eher die ernsten, realistischen Filme, aber die waren erfolglos. Das Publikum wollte die Komödien, aber für die wurde der Regisseur von der Kritik gescholten.

So ist das Werk Helmut Käutners von Diskontinuität geprägt. Er wechselte die Genres wie manche ihre Kleider wechseln, und er konnte es natürlich nie allen recht machen. So gibt es denn von Helmut Käutner am Ende elf Melodramen, zehn Komödien, sechs Zeitfilme, fünf Literaturverfilmungen, zwei Satiren und ein Biopic (LUDWIG II.). Aber gibt es einen Stil, der diese Genres verbindet? Das ist unter Filmhistorikern strittig. Georg Seeßlen fokussiert in seinem kritischen Essay für „CineGraph“ Käutners Kunst der Inszenierung auf vier positive Elemente: 1. Schauspielerführung. 2. Liebe zum Detail. 3. Kabarettismus, Ironie und Distanz. 4. Drehbuchintelligenz. Diesen Stärken stellt er vier Schwächen gegenüber: 1. Die Montage. 2. Die Sentimentalität. 3. Das Primat des Wortes. 4. Überfrachtung und Überinszenierung. Das vertiefe ich hier nicht, weil es nachzulesen ist. Ich greife noch zwei oder drei Elemente heraus.

Helmut Käutner hat in seinen 35 Filmen mit fast allen großen Schauspielerinnen und Schauspielern seiner Zeit zusammengearbeitet. Er gab ihnen einen weiten Spielraum für die Gestaltung der Rollen, aber es durfte nie improvisiert werden. Das Drehbuch war eine feste Größe im Produktionsprozess. Manche sagen, Käutner sei ein „Männerregisseur“ gewesen: Heinz Rühmann, Hans Albers, Carl Raddatz und Gustav Knuth, Curd Jürgens, O. W. Fischer, Klaus Kinski, Hardy Krüger, Horst Buchholz, Bernhard Wicki, Gustaf Gründgens standen für Käutner vor der Kamera, und sie waren bei ihm oft besonders intensiv, ohne dass er sie wie ein Dompteur zu Höchstleistungen anspornen musste.

Andererseits die Frauen: Marianne Hoppe, Hilde Krahl, Ilse Werner, Hannelore Schroth, Maria Schell, Ruth Leuwerik, Marianne Koch, Liselotte Pulver, Romy Schneider, Ingmar Zeisberg, Sonja Ziemann. In einigen Filmen hat er mit ihnen ein Frauenbild kreiert, das seiner Zeit voraus war. Aber mehrheitlich waren sie den Männern untertan. Das war ihren Rollen geschuldet: selbstlos, dienend, sich opfernd. Käutner war kein Revolutionär. Er hat die Zeit abgebildet, in der er lebte. Nur gelegentlich war er schon ein paar Schritte weiter. Seine Ehefrau, Erika Balque, mit der er seit 1934 verheiratet war, arbeitete mit ihm als Regie­assistentin zusammen und machte schließlich auch eigene Filme.

Käutner war selbstbewusst und selbstkritisch, anspruchsvoll und bescheiden, ernsthaft und ironisch, er war beharrlich in all seinen Widersprüchen. Käutner begegnet uns in vielen Filmen auch als Selbstdarsteller: in kleinen Rollen, als Kommentator und Erzählerstimme. Die Allwissenheit dieser Stimme wurde manchen Filmen zum Problem. In IN JENEN TAGEN hat sie als Stimme des Autos eine Funktion. In DIE LETZTE BRÜCKE ist sie akzeptabel. In HIMMEL OHNE STERNE ist sie als Vermittlungsorgan grenzwertig. In MONPTI, 1957, kann man sie nur noch schwer ertragen.

Käutners Rezeption ist uns in ihrer kritischen Dimension so präsent, weil sie auch den Übergang von den konservativen Fünfzigern zu den progressiven Sechzigern markiert. In seinem Pamphlet „Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“ schreibt Joe Hembus 1962: „Der künstlerische Selbstmord dieses Mannes wirkt umso unverständlicher, als er die Periode seines zunehmenden Verfalls in die letzten 15 Jahre legte, in denen er in einem freien Land frei arbeiten konnte und dank seiner sicher gespielten Rolle als ‚größter Filmregisseur Deutschlands’ auch meist über die Mittel zur Realisierung seiner Pläne verfügen konnte – während er seine fruchtbarsten Schaffensjahre in der Zeit vorher hatte, in einem unfreien Land und unter oft unerquicklichen Umständen.“ 1962: das war das Jahr des Oberhausener Manifests, der Proklamation eines neuen westdeutschen Kinos, das keine Väter haben wollte, weil es einen radikalen Neubeginn einforderte. Da taugten weder Helmut Käutner noch Wolfgang Staudte als Orientierung, auch wenn dies ungerecht und arrogant erscheinen mag. Käutner zwischen den Fronten. Das hatte eine Tradition. Und so passte der einzige Satz, den Ulrich Gregor und Enno Patalas in ihrer radikalen „Geschichte des Films“ 1962 zu Käutner verloren, ins Bild der Zeit: „Helmut Käutner benutzte politische Realität nur als Folie für sentimentale Romanzen oder kabarettistische Arabesken.“ Ideologiekritik konnte gnadenlos sein.

Es hat mich zunächst überrascht, als ich hörte, dass heute Abend, an seinem 100. Geburtstag, der Film DIE ROTE aufgeführt wird. Das ist ein später Käutner aus dem Jahr 1962, den viele damals regelrecht verachtet haben. Aber die Wahl hat auch eine Logik. Käutner hat den Film geliebt und er hat genau gewusst, was er damals falsch gemacht hat. Es gibt ein sehr ehrliches Gespräch, in dem er sich zu diesem Film äußert und aus dem ich Ihnen zwei Zitate vermitteln möchte.

Edmund Luft, der Interviewer, konstatiert: „Zu Beginn der sechziger Jahre hatten Sie es offensichtlich schwer mit der deutschen Filmindustrie.“ Käutner: „Ja.“ Luft: „DIE ROTE brachte doch auch einige Probleme.“ Käutner: „Die brachte sehr viele Probleme, und DIE ROTE war auch kein nennenswerter Erfolg, obwohl es einer von den Filmen ist, die mir am meisten am Herzen liegen.“ Luft: „Warum?“ Käutner: „Er ist vom Schauspielerischen, von der Machart und vom Sujet her besonders reizvoll und scheint mir auch gelungen. Ich habe nur ein paar riesige Fehler gemacht, die mir das große Publikum weggejagt haben. Einer der Fehler war, dass ich eine der besten deutschen Schauspielerinnen für diese Rolle genommen habe, die bereits so abgestempelt war, dass das Publikum sie in dieser Figur nicht sehen wollte. Ruth Leuwerik war von vornherein verloren für diesen Stoff. Obwohl sie – ich habe den Film wiederholt gesehen zwischendurch – eine ideale Interpretin war. Wenn man sie überhaupt nicht gekannt hätte, hätte damit eine Karriere begonnen. Aber sie, die die untadelige Dame der deutschen Gesellschaft für viele Jahre gewesen ist, die innig liebende Mutter, sie war hier eine moderne, gebrochene Figur, eine Sekretärin, die mit zwei Männern lebte und einem dritten anheim fiel in Venedig – das war etwas, was die Leute von ihr nicht wissen wollten. Ich wollte das nicht einsehen und bockig, wie ich oft in solchen Dingen gewesen bin, wollte ich mich den anderen nicht beugen. Ich habe mich durchgesetzt und damit den Film leider aufs Spiel gesetzt.“

Dann geht es in einer sehr langen Passage um die Zusammenarbeit mit dem Autor Alfred Andersch, die sehr kompliziert war und mit einem Eklat bei der Pressekonferenz im Rahmen der Premiere des Films bei der Berlinale 1962 endete. Ich erinnere mich an diese Pressekonferenz, Käutner und Andersch gerieten in einen Streit, Ruth Leuwerik brach in Tränen aus, und die Journalisten hatten viel Stoff für die Berichterstattung.

Käutner im Interview: „Andersch hat sich, was den Dialog betrifft, bei unserer Zusammenarbeit durchgesetzt. Deshalb ist der Film auch so redselig, wie ich es eigentlich nicht wollte. Bei der Pressekonferenz in Berlin hat er sich dann von dem Film distanziert. Er hat gesagt, das wäre so typisch für den deutschen Film älterer Bauart, dass das Originalbuch ganz verdorben sei, und er hätte mit dem Film nichts zu tun. Das war ein ungemein hässlicher Vorgang. Ich habe ihm relativ freundlich, aber entschieden geantwortet, dass ich das als einen Verrat an der gemeinsamen Arbeit ansehe, denn ich hatte ihm ja sehr viel mehr konzediert als ich wollte. Und von der Presse wurde mir schließlich eine Verstiegenheit des literarischen Dialogs vorgeworfen, die es in meinem Buchentwurf nicht gegeben hatte, die aber auf Wunsch des Originalautors wieder hineingekommen war. Ich habe mich vor der Presse nur unzureichend verteidigt, weil mir das unfair erschienen wäre. Und so habe ich am Ende alles auf meine Schultern genommen, weil sie stark genug waren, um das tragen zu können.“

Aber Helmut Käutners Schultern waren nicht ganz so stark wie er dachte. Er drehte nach der ROTEN noch drei Kinofilme, die nicht in die Geschichte eingegangen sind, dann war Schluss. Was ihm blieb, waren das Fernsehen und das Theater. Und dann gab es für den Schauspieler Helmut Käutner noch eine wirkliche Schlüsselrolle: er spielte 1974 für den Regisseur Hans-Jürgen Syberberg die Titelrolle in KARL MAY. So steht ein deutscher Mythos am Ende seiner Karriere, den er nicht selbst geschaffen, sondern nur reproduziert hat. Aber auch das war für ihn kein Problem.

Meine Damen und Herren, wir gratulieren heute Helmut Käutner, einem Großen des deutschen Films, zu seinem 100. Geburtstag, und Sie sehen jetzt seinen Film DIE ROTE – nach dem Roman von Alfred Andersch – aus dem Jahr 1962. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Geduld und wünsche Ihnen gute Unterhaltung.

Zeughauskino, 25. März 2008, unveröffentlicht