Texte & Reden
04. Februar 2008

Gespräch mit Thomas Schadt

»Bilder müssen atmen«

Thomas Schadt im Gespräch mit Hans Helmut Prinzler

HHP: Was haben Bilder – Fotografien, Zeichnungen, Gemälde – in Deiner Kindheit und Jugend für Dich bedeutet?

–  TS: Ich erinnere mich sehr konkret an Bilder. Meine Mutter hat in einem Möbelladen gearbeitet, wo es vor allem „Klassiker“ gab, also Avantgardemöbel, und dem entsprechend waren auch die Bilder. Also im weitesten Sinne moderne Kunst. Damit bin ich aufgewachsen. Und da gab es ein besonderes Bild, einen Druck von le Corbusier aus dem Jahr 1963, eine offene Hand. Das Bild hat sich mir so eingeprägt durch meine Kindheit hindurch, dass ich es mir später mal von meiner Frau zu Weihnachten gewünscht habe, und dieses Bild hängt jetzt in Ludwigsburg in meinem Schlafzimmer. Es wird mich sicherlich bis an mein Lebensende begleiten. Was mich daran fasziniert, kann ich Dir gar nicht genau sagen, aber es ist ein Bild, das ich immer wieder völlig neu betrachten kann.

HHP: Gab es bei Euch zu Hause Fotografien an den Wänden, auf der Kommode oder auf dem Schreibtisch?

–  TS: Das mit den Fotografien hat sich bei mir anders entwickelt. Mein Vater hat mir, als ich 15 oder 16 Jahre alt war, einen ersten Fotoapparat geschenkt. Wir haben damals in Nürnberg gewohnt. Von meinem Fenster aus sah man direkt auf die mittelalterliche Burg, und so habe ich das Fotografieren natürlich mit Postkartentotalen begonnen, mit Sonnenaufgang und Sonnenuntergang bis zum Gehtnichtmehr. Das hat mich sehr fasziniert. Ich weiß noch, dass ich mein ganzes Taschengeld dafür aufgebraucht habe, um Abzüge machen zu lassen. Ich habe auch die Bilder in der Wohnung meiner Mutter fotografiert. Ich hatte schon damals den Impuls, einfach Dinge festzuhalten, zu dokumentieren, die man sich dann als Reproduktionen ansehen konnte. Daraus ist relativ früh der Wunsch entstanden, Fotograf zu werden. In der Schule war ich Mitglied in einem Fotoclub. Es gab in Nürnberg auch einen Buchladen, der Kunstbücher hatte und die ersten Fotobücher. Das war ja damals noch kein Markt im heutigen Sinne, denn Fotografie war als Kunst noch nicht etabliert, oder es begann gerade: die documenta 76 veranstaltete die erste umfassende Fotografieausstellung im Rahmen einer documenta. Und es gab die ersten Bücher. So bin ich dann konfrontiert worden mit Namen wie Robert Frank oder August Sander oder Lee Friedlander. Friedlander hatte gerade sein erstes Buch in Europa herausgebracht, „Selfportraits“. Da sind mir zum ersten Mal die Namen begegnet, die mich dann mein ganzes Leben lang begleitet haben.

HHP: War das der Umschwung von schönen Postkartenmotiven zu Menschen und Gesichtern?

–  TS: Der Weg war komplizierter. Ich weiß noch, dass ich die Bilder, die ich in den Büchern gesehen habe, am Anfang nicht wirklich begriffen habe. Die Art und Weise, wie die großen Fotografen die Dinge des Lebens betrachtet haben, habe ich noch nicht in ihrer Tiefe verstanden, zum Teil haben mir die Bilder anfangs auch nicht gefallen. Aber irgendwie war ich fasziniert, was dann die Frage in mir aufgeworfen hat: wie geht das? Die Bilder gefallen dir nicht, aber sie faszinieren dich, und du erinnerst dich noch Jahre später an sie. Dieses Phänomen fand ich spannend. Parallel dazu ist auch die Liebe zum Kino entstanden, über den Job als Vorführer im Programmkino „Meisengeige“ in Nürnberg. Vieles lief dann parallel – ich wollte Fotograf werden, ich habe Filme vorgeführt, ich musste Geld verdienen und bekam schließlich noch das Angebot, am Nürnberger Theater als Theaterfotograf zu arbeiten, was natürlich meinen so genannten künstlerischen Ambitionen sehr entgegenkam. Dadurch ist dann sehr viel Praxis entstanden, auch mit Schwarzweiß-Fotografie.

Ich habe schließlich eine Lehre gemacht bei einem Fotografen, der mein Talent fördern wollte – das war eine gute Schule. Eigentlich wollte ich tatsächlich Fotograf werden, bis ich dann 1980 einen Studienplatz an der Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin bekommen habe. Bis dahin gab es kein anderes Berufsziel als Fotograf, und wenn es irgendwie ginge, dann ein so genannter Straßenfotograf im künstlerischen Sinne oder ein Fotojournalist im professionell-beruflichen Sinne.

HHP: Du hast zunächst Abitur gemacht und dann kam die Fotografenlehre. Deine Klassenkameradinnen und -kameraden werden sicherlich auf die Uni gegangen sein. Für Dich war das klar, Du wolltest Fotograf und Künstler werden…

– TS: Ich bin halt in so einem Umfeld aufgewachsen, die Freunde und Bekannten meiner Mutter gehörten im weitesten Sinne zur Nürnberger Kunstszene, das waren vorwiegend Musiker, Maler und Bildhauer. Und dadurch war ich sehr stark beeinflusst von Kunst, von Design, von Möbeln, von Formen, von Musik. Unsere Wohnung war wie eine Ausstellung. Es hieß immer, es könnten ja Kunden kommen, die sich das anschauen wollen, da musste immer alles picobello ordentlich sein. Und das hatte dann früh auch über die Gespräch mit väterlichen Freunden zur Folge, dass man mir gesagt hat, geh doch auf eine Kunstakademie. Oder manche haben gesagt, werde Schauspieler, andere wollten, dass ich aufs Konservatorium gehe. Also der Bub hatte es mit der Kunst im weitesten Sinne. Ich wollte aber Fotograf werden, was dann darin mündete, dass ich an die Filmakademie gegangen bin.

HHP: Da warst du 23 Jahre alt.

–  TS: Als ich an die DFFB kam, war ich 23 und der festen Überzeugung, ich könnte als Fotograf und – was ich sehr schnell wusste – als Dokumentarfilmer parallel mein Arbeitsleben bestreiten. Das war eigentlich mein fester Vorsatz.

HHP: Als Dokumentarfilmer war man doch eher ein Außenseiter?

–  TS: Außenseiter oder nicht war mir eigentlich total egal. Dadurch, dass ich schon in Nürnberg viel mit Leuten zu tun hatte, die quasi als Außenseiter gelebt haben, war es sogar eher ein Etikett, das ich damals vielleicht gesucht habe, das mir ein bestimmtes Selbstbewusstsein gegeben hat, weil man ja nicht zur Mitte oder zum Establishment gehören wollte.

HHP: An der DFFB war die Kameraführung Teil der Ausbildung.

–  TS: Da hatte ich Vorteile, denn ich war eine Zeitlang Kamerahelfer im Studio des Bayerischen Rundfunks in Nürnberg. Meine Berührung mit dem Fernsehen begann schon vor der Filmakademie. Damals kamen diese schicken neuen 16mm SR 2 Kameras in Lederköfferchen auf den Markt, und ich hatte das große Glück, diese Technik schon vor der Akademie als Kameraassistent kennen zu lernen, so dass mir das alles relativ vertraut war. Ich musste mich nicht mehr so sehr mit Optik und Technik beschäftigen. Es ging dann schon mehr um die Inhalte, und was für Filme man macht.

HHP: Wie lange warst Du an der DFFB?

–  TS: Ich war eigentlich schon nach zwei Jahren fertig. Damals hat man ja nur drei Jahre studiert, aber ich habe dann im zweiten Jahr meinen Abschlussfilmetat mit meinem Zweitjahresfilm-Etat zusammengelegt und hatte quasi meinen Abschlussfilm fertig, als ich gerade ins dritte Jahr kam. Das war damals ein Novum. Ich war sehr darum bemüht, auf fotografischer Ebene Sponsoren zu finden für ein Deutschlandprojekt, woraus auch zwei Filme entstanden sind. Und ich wollte dann sehr schnell Geld verdienen, um diese Reisen machen zu können. Von 1983 bis 85 habe ich an dieser Fotoserie gearbeitet. Und danach sind die Filme entstanden. „Deutschland“ und „Heimat“ waren damals wichtige Themen für mich, die ich unbedingt bearbeiten wollte. Und deswegen kam mir es sehr entgegen, dass meine Ausbildung an der Schule nicht so lange gedauert hat.

HHP: Gab es an der DFFB Dozenten, die Dir vorbildhaft waren?

–  TS: Ich vertrete ja die These, dass so ein Studium dadurch prägend und nachhaltig wird, dass man die Möglichkeit hat, Persönlichkeiten zu begegnen, die mit ihrem Eigenwillen und ihrem Stil und ihrer Haltung in der Lage sind, Dinge zu machen, die sie machen wollen. Für mich war das damals Klaus Wildenhahn natürlich, den ich kennen gelernt habe an der Filmakademie, und Johann van der Keuken, bei dem ich ein sehr nachhaltig wirkendes Seminar hatte. Auch Michael Ballhaus, den ich im Büro bei Helene Schwarz erlebt habe. Bei dem ich kein Seminar hatte, aber wo ich praktisch vor Ehrfurcht vom Stuhl geflogen bin, nur weil der vor mir stand.

HHP: Gab es in Deinem Jahrgang Studentinnen und Studenten, die wichtig für Dich waren?

–  TS: Wir waren natürlich eine Klicke, und es gab Studenten und auch Studentinnen, mit denen man sehr eng befreundet war, zum Beispiel Ernst August Zurborn, Peter Schmidt, Heidi Spekognia. Reiner Hofmann, Verena Rudolf, Reinhard Münster. Wolfgang Becker war auch bei mir in der Klasse. Wir hatten dieses Verhältnis wie es Studenten heute auch haben: auf der einen Seite solidarisch, befreundet, wild über Filme redend. Auf der anderen Seite sich beäugend und fragend, was wird wohl aus dem, was wird aus mir? Diese Mischung aus Freundschaft und Konkurrenz. Eine wirkliche Freundschaft gab es mit Ernst August Zurborn, mit Peter Schmidt und mit Martin Theo Krieger. Wir hatten noch eine Firma zusammen, „Odyssee Film“, bevor wir dann gesagt haben, Freundschaft geht vor Geld, und dann hat jeder seine eigene Firma gegründet. Aber befreundet bin ich noch mit allen. Überhaupt habe ich auch später beim Film immer mit Leuten zusammen gearbeitet, mit denen ich auch befreundet war. Das ist eigentlich bis heute so.

HHP: Dein erster langer, großer Dokumentarfilm war unterwegs nach immer und überall, also die Deutschlandreise.

–  TS: Ich hatte Leica und Agfa als Sponsoren gewinnen können und bin dann, meinen Vorbildern nacheifernd, mit der Leica durch Deutschland gefahren. Ich war damals schon von Fotografen wie Lee Friedlander, Robert Frank und William Egglestone, also den amerikanischen Straßenfotografen, aber auch von Bernd und Hilla Becher beeinflusst. Ich kannte mich immer in der Fotografiegeschichte besser aus als in der Filmgeschichte. Das ist, wenn ich mal ganz ehrlich bin, bis heute so geblieben. Ich machte mich dann nach der Akademie auf den Weg, um diese Fotoserie zu machen, und war sehr ambitioniert für die erste große Arbeit. 70 bis 100 Fotos sollte diese Serie umfassen, und sie hatte dann auch eine gute Resonanz. Es gab Veröffentlichungen in Fotozeitschriften und auch Ausstellungen. Dann ist die Idee entstanden, den fotografischen Ansatz in einen filmischen zu übersetzten. Ich hatte vorher schon für mich entschieden, dass ich nur Filme machen kann, wenn ich eine Kamera in der Hand habe, weil ich eben auch sehr schüchtern war und erst mit einem Gerät in der Lage war, überhaupt Leute anzusprechen und über eine bestimmte Hemmschwelle zu gehen. Ich kannte einen Redakteur beim NDR, Lutz Mahlerwein, der eigentlich bei einer Feature-Redaktion gearbeitet hat und für den ich meine ersten kleineren Filme gemacht habe. Es gab damals im Sommer-Sonderprogramm freie Sendeplätze mit einem normalen Budget. 120.000 Mark waren das, und dann habe ich für dieses Geld meinen ersten langen Dokumentarfilm gemacht, an dem wir fünf Monate gedreht und ich weiß nicht wie lange geschnitten haben. Alles auf 16mm. Wir sind praktisch zu den gleichen Orten gefahren wie für die Fotoserie. Es gab kein Exposé. Es gab auch keinen festen Drehplan. Es gab eigentlich nur das, was der Text am Anfang des Films zum Ausdruck bringt, dass es darum ging herauszufinden, ob es deutsche Bilder sind. Wir haben dann Motive gefilmt, die es auch in der Fotoserie gab. Aber es stellte sich das Problem, dass sich bewegte Bilder anders verhalten als eingefrorene Bilder. Und es stellte sich die Frage, wie kann man solche Bilder füllen über eine Strecke, dass es für den Zuschauer auch spannend ist. Ich war damals schon sehr mit der Frage beschäftigt, wie lange kann eine Einstellung dauern, wie entsteht eine Dramaturgie in einer Einstellung ohne Schnitt, also als Plansequenz gedreht, ohne dass ich eigentlich wusste, was das ist.

HHP: Diese Ausstellungsfotos waren schwarz-weiß, und der Film war dann der Übergang zur Farbe?

–  TS: Natürlich wollten wir den Film schwarz-weiß drehen, das hat aber die Redaktion damals nicht erlaubt. Das heißt, wir mussten den Film in Farbe drehen. Und deswegen habe ich dann noch den zweiten Film hinterher gedreht, Das Magazin der Bilder, für „Das kleine Fernsehspiel“. Da waren auch wieder die Fotos die Grundlage für das Exposé. Also ich habe eigentlich den Film zweimal gemacht. Mit dem großen Unterschied, dass 1989 der Fall der Mauer kam und bei dem zweiten Film die Karten völlig neu gemischt wurden. Während der Arbeit letztendlich. Aber wir konnten in Schwarz-weiß drehen, was dann wieder stark mit dem fotografischen Ausgangspunkt zu tun hatte.

HHP: Ist Dir Schwarz-weiß lieber als Farbe? Wenn du alle Marktfragen ausklammern dürftest?

–  TS: Ich glaube einfach, dass ich mich in Schwarz-weiß besser ausdrücken kann. Es geht gar nicht so sehr darum, was man lieber hat. Ich habe in der Fotografie gelernt, dass Farbfotografie, wenn man die Farben wirklich ernst nimmt, und wenn man sagt, jede Farbe steht auch für eine Aussage, vielleicht für unbewusste, unterbewusste oder für eine Emotion, die Psychologie der Wahrnehmung beeinflusst. Das weiß man ja auch alles. Und ich habe auch Fotografen dafür bewundert, wie sie mit Farbe umgehen. Also jemanden wie William Egglestone. Da war mir klar, das kann ich nicht. Das ist einfach eine eigene Professionalität. Und da fühlte ich mich tatsächlich in Schwarz-weiß sicherer. Da war es mir möglich, mich facettenreicher und detaillierter auszudrücken als in Farbe.

HHP: Wenn man Fotografie und Film gegenüber stellt, kommt beim Film erschwerend der Ton hinzu. Was bedeutet für Dich die Mixtur aus Sprache, Geräusch und Musik, also die Komplexität der Tonebene. Wie bist du bei Unterwegs nach immer und überall damit umgegangen?

–  TS. Es war damals ein Vorteil, dass Ton und Bild im Prinzip sehr viel getrennter waren, als es heute der Fall ist. Vom Fotografischen her war ich ja ein typischer Sammler und Jäger. Und das haben wir eigentlich auf den Ton übertragen. Wir haben natürlich auch O-Ton gemacht, am Anfang noch fast amateurhafter als das, was wir sonst mit dem Ton veranstaltet haben. Ich konnte ja keine Interviews führen. Das kam alles erst sehr viel später. Aber wir haben damals schon gesagt, wir gehen heute nicht Bilder, sondern Töne sammeln. Wir sind dann einfach losgefahren und haben Geräusche aufgenommen, von denen wir noch gar nicht wussten, wie wir sie hinterher verwenden. Es gibt zum Beispiel in dem Film Unterwegs nach immer und überall eine Einstellung, wo ich aus dem Auto heraus auf der Autobahn eine Schneedecke filme. Und der Ton dazu stammt von einer Seilbahn am Wetterstein, die wir irgendwann mal gedreht hatten. Wir haben unglaublich viele Ton-Atmos gesammelt und die später auch benutzt, wie wir wollten. Völlig abstrakt. Und wir haben damit gespielt, dass die Töne eher anfangen als der Bildschnitt und dass sich die Dinge auflösen. Das mochte ich schon immer gern bei Musik. Man hat gesagt, nimm eine Musik wie eine Filmmusik, aber dann ist es auf einmal wieder O-Ton und umgekehrt. Der Schneidetisch hat ja auch viel mehr dazu eingeladen, mit den Dingen zu spielen, sie zu verschieben und mit Asynchronitäten zu arbeiten, als das vielleicht heute der Fall ist, wo man das erst speziell herstellen muss. Das hat einfach auch großen Spaß gemacht.

HHP: Deine Kamera ist einerseits sehr beweglich. Das heißt, dass Du Dich innerhalb von Menschenkonstellationen mobil verhältst. Andererseits bist Du natürlich auch ganz ruhig in der Beobachtung. Es gibt eine wunderbare Szene in der Deutschlandreise: eine Frau sammelt auf dem Marienplatz Zigarettenkippen. Sie tut das auf eine manische Art, ohne jede Wahrnehmung der Menschen um sie herum. Du gehst ihr nach und beobachtest sie. In aller Ruhe und sehr beweglich. In dem Zusammenhang noch die Frage: wenn Du Passanten aufnimmst oder gar mit ihnen sprichst. Gibt es bei Dir die Spielregel, diese Passanten um ihre Einwilligung zu bitten?

–  TS: Das sind jetzt mehrere Fragen. Erstmal zu diesen unterschiedlichen Stilmitteln. Es ist richtig, dass es bei mir zwei prägnante Ansätze gibt. Der eine ist dieses fotografische Guckkastensystem. Das spielt ja in allen meinen Filmen eine Rolle. Ich baue ein Bild, ganz fotografisch. Eine Kadrage. Und warte dann eben so lange, bis sich in dieser Kadrage etwas verdichtet, was für eine so und so lange Strecke hält. Das finde ich immer noch sehr spannend, dass man quasi das Bild ins Bild kommen lässt. Und dass man dadurch auch an den Rändern relativ genau kadrieren kann. Das ist dann fast fiktional, wie beim Spielfilm, wo der Kameramann exakt sein Bild festlegen kann. Aber als Dokumentarfilmer greife ich eben nicht ein, sondern warte. Natürlich hat man eine Nase und ein Gespür, und dann riecht man auch was. Manchmal sieht man auch was. Wenn man weiß, der Moment dauert länger, dann kann man auch ein Bild drum rum bauen. Aber es ist immer wieder dieses Guckkastensystem. Kein Zoom. Eine feste Brennweite. Keine Schwenks. Ich habe, glaube ich, in meiner ganzen Zeit als Filmemacher drei Schwenks gemacht, wenn es hoch kommt. Das kommt bei mir ja gar nicht vor. Das ist die eine Seite. Und die andere ist die Kamera, wenn sie sich bewegt. Was natürlich damit zu tun hat, dass sich Menschen bewegen, dass ich dann die Nähe suche, auch für den Ton. Ich habe die Leute immer hinter der Kamera stehend gefragt, und sie mussten mich ja auch verstehen. Das heißt, ich musste immer sehr nah an die Leute ran. Und wenn sie sich dann irgendwie bewegten oder losliefen, dann musste ich hinterher. Daraus ist diese Handkameratechnik entstanden, die Thomas Keller und ich perfektioniert haben. Weil er ja immer neben dran war mit dem Ton. Er hat auch die Schärfe gezogen, wenn ich dazu nicht in der Lage war, weil ich mich zum Beispiel auf die Fragen konzentrieren musste. Wir haben das so hingekriegt, dass wirklich jeder alles machen konnte. Deswegen ist es auch wichtig, dass die Leute, die mit mir gearbeitet haben – das waren immer einer oder maximal zwei – wirklich alles können. Die mussten auch einen Autorenkopf haben und eigenständige Entscheidungen treffen. Es musste alles möglich sein, ohne dass man sich hierarchisch verzettelt. Sonst hätte diese Filmarbeit nicht funktioniert.

HHP: Und noch die Frage nach den Passanten und ihrem Einverständnis.

–  TS: Das lernt man auch in der Fotografie. Fotoapparate und Kameras, das sind ja Lizenzen. Thomas Höpker hat einmal gesagt, wenn er im Centralpark in New York ein Pärchen sieht, das sich küsst, und er ist ohne Kamera unterwegs, dann läuft er daran vorbei und guckt nicht hin, weil man das nicht tut. Hat er eine Kamera dabei, dann bleibt er stehen und fotografiert das Pärchen. Und fragt natürlich nicht vorher um Erlaubnis, denn dann ist der Moment vorbei. Die Frage des Einverständnisses ist ein weites Feld. Ich habe das immer so gehandhabt, dass man aus der Situation heraus entscheiden soll, wie man es macht. Man kann sich ein Einverständnis nonverbal beschaffen, man muss nicht immer mit den Leuten reden, es reicht auch zu sehen, wie sie einen anschauen, wie sie reagieren. Man kann auch vorher sehen, dass jemand nicht gefilmt werden will. Man kann es während der Einstellung irgendwie klar machen. Man kann es aber auch hinterher klären. Ich habe das immer intuitiv von der Situation abhängig gemacht. Im Prinzip darf man da nicht zu starr ran gehen. Und der ganze Wahnsinn, der jetzt betrieben wird, dass man von jedem eine schriftliche Einverständniserklärung braucht, damit wäre nicht einer meiner Filme entstanden. So funktioniert das nicht, da muss man sich auf sein Gefühl verlassen. Ich habe auch nie ein Problem damit gehabt. Nicht mit einem meiner Protagonisten.

HHP: Weil Du auch nicht im klassischen Sinne Enthüllungsjournalismus gemacht hast.

–  TS: Man muss die Leute ansehen. Augenkontakt ist wahnsinnig wichtig. Und du musst sie konzentriert ansehen, sonst verstehen sie ja gar nicht, was du von ihnen willst. Es gibt eine Kamera, und da stehen welche dahinter und welche davor. Und die, die hinter der Kamera stehen, wollen was von denen, die vor der Kamera stehen, nämlich ihnen ein bisschen Seele klauen. Deshalb hatten die Indianer auch Angst vor Kameras. Und nicht zu unrecht. Du willst ja immer mehr haben von deinen Leuten, die du fotografierst oder filmst, als das, was sie bereit sind zu geben. Und das ist auch das, was es spannend macht. Wenn ich das möchte, und der andere spürt das auch, intuitiv, dann musst du durch diesen Schutz durch, und das geht nur über Konzentration und über Genauigkeit und über Geduld und über Zeit, die man mitbringt, und über Überzeugungskraft. Das ist dann das ganze Paket, und damit muss man die Leute erreichen. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass man sie gut abholen kann, wenn man sich ihnen positiv und offen stellt mit der Gerätschaft, die man mitbringt.

HHP: Aber was ist, wenn man hinter der Kamera verschwindet, im Sucher sozusagen….

–  TS: Dann gibt es ja die Technik, dass das eine Auge durch den Sucher guckt und das andere Auge ist links neben dran. Wenn man so eine Technik macht, dann muss man natürlich in der Lage sein, sich auf unterschiedliche Dinge gleichzeitig zu konzentrieren. Das unterschätzen auch viele, die das versuchen, weil du ja mehrere Köpfe haben musst. Du bist der Regisseur, du bist der Fotograf oder der Kameramann. Das ist auch eine Übungssache. Ich habe am Anfang viele Fehler gemacht. Ich habe mich manchmal ganz auf die Leute konzentriert und die Bildgestaltung vernachlässigt oder umgekehrt. Aber das kann man alles üben. Vieles ist Handwerk. Und wenn man das irgendwann gelernt hat, dann gibt es parallele Wahrnehmungen, die funktionieren wie Autofahren. Das geht dann automatisch, man muss sich nur zu 100 % auf das fokussieren und darf sich durch nichts ablenken lassen, und man braucht jemanden neben sich, auf den man sich zu 100% verlassen kann, der weiß, deine Technik stimmt, der mal einen Passanten noch schnell davon abhält, durchs Bild zu rasen. Wenn man dann noch ein Gottvertrauen hat in den Freund, der mit einem unterwegs ist, dann kann man sich wirklich in diesen Fokus hineinfallen lassen, was ganz wichtig ist, denn sonst kommt man nicht durch bestimmte Wahrnehmungssperren hindurch, die man erstmal irgendwie durchstoßen muss, bevor sich etwas freilegt vor einem.

HHP: Dazu gehört natürlich auch die eigene Sicherheit im Umgang mit der Technik.

–  TS: Technik ist für mich das Muss, Technik muss aus dem ff beherrscht werden. Ich bin ein großer Anhänger vom Handwerk. Alle Leute, die mich faszinieren, sind Technikfreaks. Es ist ein technischer Beruf. Und wenn ich als Regisseur möchte, dass mein Kameramann oder meine Kamerafrau die Bilder macht, die ich will, dann muss ich wissen, wie so was funktioniert. Dann muss ich wissen, was macht eine Brennweite, was bewirkt eine kurze Brennweite, was eine lange. Und ich muss auch die inhaltlichen Übersetzungen verstehen. Ich hatte das große Glück, Lee Friedlander in New York kennen zu lernen. Ich war das erste Mal mit dieser Deutschlandserie in New York. Da habe ich Bob Schwalberg getroffen, der mich mit Friedlander zusammen gebracht hat in seinem Büro. Und der hat sich für mich zunächst überhaupt nicht interessiert. Weder für mich, noch für meine Bilder. Das war dem alles scheißegal. Der kam rein mit seiner Leica und hat sich dann mit Schwalberg zwei Stunden ununterbrochen über 35mm-Linsen unterhalten, weil Schwalberg bei Leica gearbeitet hat. Und mir war das erstmal unbegreiflich, wie fanatisch sich jemand mit unterschiedlichen 35mm-Linsen beschäftigen kann. Aber wenn man die Bilder von Friedlander kennt und weiß, wie wichtig es für seine Arbeit ist, dass die Bilder auch in den Ecken scharf sind und dass die Tiefenschärfen so sind, wie er das möchte, und dass nichts dem Zufall überlassen ist, auch wenn es so aussieht, als wäre es Zufall, dann versteht man seine Obsession für Technik. Das ist einfach so, sonst kommst du nicht zu einem optimalen und am Ende wieder spielerisch wirkenden Ergebnis. Robert Lebeck hat einmal gesagt, man darf am Ende in einem Bild nicht sehen, wie schwer es war, dass es entstanden ist. Es muss wie im Zirkus sein. Wo das schwerste Kunststück so aussieht, als könnte es jeder. Und das finde ich ein wunderbares Bild. Dahinter steckt unglaublich viel Arbeit.

HHP: Kommen wir zu einem Film, der für mich ein Meisterwerk und ein klassischer Thomas Schadt-Film ist: Das Gefühl des Augenblicks. Ein Porträt des Fotografen Robert Frank und eine Bilderspurensuche. Du hast Gespräche mit ihm geführt, in denen er Dir etwas über bestimmte Fotos und die Situation erzählt hat, in der sie entstanden sind. Diese Fotos stammen aus den fünfziger Jahren. Du begibst dich dann an bestimmte Orte und versuchst herauszufinden, ob die Menschen, die Frank damals fotografiert hat, möglicherweise noch leben. Und zeigst, wie sich die Orte verändert haben. Ein wunderbarer Film, weil er etwas von den beiden Zeiten, den Fünfzigern und den Neunzigern, klar macht. Weil er etwas über die Fotografie, über das Wesen und die Seele der Fotografie erzählt. Das ist für mich ein fast klassischer Dokumentarfilm. Und ich behaupte, bei dem hast Du noch einmal sehr viel gelernt.

–  TS: Das Projekt ist entstanden, weil ich einmal einem der Künstler auf die Spur kommen wollte, die mich beeinflusst haben. Robert Frank hatte am Anfang keine Lust. Ich wusste auch gar nicht, wie ich an ihn ran kommen sollte. Da gab es so viele Anfragen von Leuten, die über seine „Americans“ einen Film machen wollten, über dieses Buch, das schon damals ein Kultbuch war und auch heute noch ästhetischer Wegbereiter für viele Filmemacher ist. Wir sind dann – ohne dass Frank von unserem Projekt wusste – vier Monate zu dritt durch die USA gereist, von New York über die Südstaaten nach Los Angeles, San Francisco und dann über Butte wieder zurück nach New York. Wir hatten 90 Rollen Schwarz-Weiß-Material, wir haben unterwegs keine Muster gesehen, was man sich überhaupt nicht vorstellen kann, wir hatten einfach kein Geld dazu, es war eine Beistellung vom WDR. Da habe ich auch gelernt zu drehen, ohne Muster anzusehen. Auch bei dem Butte-Film, auf 35mm, wo ich vorher noch nie auf 35mm gedreht habe, konnte ich keine Muster sehen. Also musste man sich auf das verlassen, was im Kopf entsteht. Man musste der Übersetzung von Realität auf Filmmaterial vertrauen. Und dass das technisch in Ordnung ist. Und dass die Schärfen stimmen. Wir haben aus der Not heraus letztlich gelernt, einfach darauf zu bauen, dass die Sachen so drauf sind, wie wir das wollten. Um mich abzureagieren, weil das natürlich eine Folter ist, wenn du nie ein Bild siehst von dem, was du da drehst, habe ich damals angefangen, Polaroid-Fotos zu machen, mit denen ich dann später auch wieder fotografisch einen Zyklus erarbeitet habe. So ist dann auch wieder aus der Filmarbeit ein fotografisches Stilelement entstanden, denn die Polaroid-Fotos hatten den Vorteil, dass man sofort ein Bild in der Hand hatte. Und damit hatte man ein kleines Erfolgserlebnis. Es sind damals hunderte von Polaroid-Fotos entstanden auf der Reise. Daran hat man dann irgendwie geglaubt und sich gesagt, dann wird’s auf dem Film auch drauf sein. Die ganze Geschichte war ja so angelegt, dass am Anfang der Reise dieses Buch mit den Fotos von Robert Frank stand, woran wir uns auch sehr geklammert haben. Denn wir kannten ja Amerika nicht. Und wenn man aus New York raus fährt, erlebt man ja erstmal einen Schock. Wir hatten damals noch einen Freund dabei, der schon 17 Jahre in New York gelebt hatte, der war aber auch noch nie außerhalb von New York gewesen. Wir waren drei naive junge Männer und eigentlich völlig überfordert: sprachlich, kulturell, in jeder Hinsicht.

Am Anfang habe ich gedacht, das überlebe ich alles nicht. Es war mir alles sehr, sehr fremd. Florida und die Südstaaten sind eh für den Europäer noch fremder als vielleicht die Westküste oder auch die Nordstaaten. Das wusste ich ja damals alles noch nicht. Und dann hat man sich am Anfang noch sehr an dieses Buch geklammert. Was mir an dem Film heute noch interessant erscheint ist, dass er diese Entwicklung beschreibt, wie nahe man am Anfang an dem Buch ist und wie man nach und nach sich von diesem Buch löst. Was ja diesen Film von der Erzählung her auch interessant macht, sonst wäre es auch zu eindimensional geraten. Wir haben dann diese Reise gemacht, wir haben die 90 Rollen verdreht und wir sind schließlich nach New York zurückgekommen. Dann habe ich aus diesem Buch ein Bild rausgerissen und dem Robert Frank – ich hatte seine Adresse in der Bleecker Street – unter der Tür durchgeschoben und habe ihm drauf geschrieben: Lieber Robert Frank, ich habe 25.000 Kilometer zurückgelegt, ich war vier Monate mit deinen Fotos unterwegs, jetzt möchte ich mit dir sprechen. Und habe darauf spekuliert, dass er interessiert ist, jemanden kennen zu lernen, wenn er sieht, dass der so viel investiert hat. Und so war es auch. Er hat dann wirklich angerufen, und wir haben uns damals in New York getroffen. Das Interview ist erst später entstanden. Ich bin dann noch mal zurück gefahren. Ich wollte ihn auch nicht gleich mit dem Interview überfallen. Wir haben eigentlich mehr über unsere Frauen geredet und über Gott und die Welt. Auf jeden Fall war das eine sehr warmherzige Begegnung, die alles eingelöst hat in zehn Minuten, was ich erhoffte erleben zu können. Für mich war dann eigentlich schon klar, der Mann und diese Bilder: das passt alles wunderbar zusammen. Und dann hatten wir einen Versicherungsschaden. Völlig unbedeutende Aufnahmen, die wir nie benutzt hätten im Film. Von dem Geld, das damals die Versicherung bezahlt hat, haben wir dann drei Monate später noch mal eine Reise gemacht nach New York und das Interview gedreht mit ihm. Das war an dem Tag, an dem ihm sein Sohn Pablo erzählt hatte, dass er Krebs hat. Es war also der ungünstigste Tag überhaupt. Er hat das Interview dann aber trotzdem gemacht. Und das habe ich ihm auch wahnsinnig hoch angerechnet. Er hat sich mit einer unglaublichen Disziplin aufgerafft, mir dieses Interview zu geben, und später hat man dann geschrieben, er wirke ein bisschen maulfaul und unwirsch, was ich gar nicht so empfinde. Aber man weiß ja oft nicht, was da so im Hintergrund mitschwingt, was ein Film auch nicht direkt vermitteln kann.

HHP: Ihr habt in einer Mischung von Deutsch und Englisch gesprochen.

–  TS: Wir hatten eigentlich verabredet, das Interview auf Englisch zu drehen, und am Ende haben wir deutsch geredet. Er war unglaublich offen. Und ganz bei sich. Er wollte natürlich nicht über die Fotos reden, das war auch relativ schnell klar, sondern er hatte seine eigenen Botschaften, und ich finde, die hat er dann auch sehr schön gesetzt. Und für den Film war das später ein Segen, das waren vier Rollen, 40 Minuten. Ich glaube, es ist danach auch nie wieder ein längeres Interview mit ihm gemacht worden. Es gibt eh ganz wenige Interviews mit ihm. Aber das war eine ganz tolle Begegnung und einfach auch ein schönes Projekt. Mit diesem Film fing bei mir eigentlich das Reflektieren an über das, was man macht. Meine ersten Filme waren Bauchfilme. Die hat man gemacht mit Gefühl und mit Handwerk. Aber was wirklich passiert in einem und was man auch in Worte fassen möchte oder in reflektierende Gedanken, das ist über den Robert Frank-Film entstanden, und zwar am Schneidetisch. Weil der Schneidetisch einen zwingt, Zusammenhänge herzustellen. Da kommen ganz andere Fragen ins Spiel, da muss man sich auf ganz andere Dinge konzentrieren, die eine andere Auseinandersetzung erfordern. Und nachdem der Film fertig war, war mir schon eher klar, was mich eigentlich an Fotografie und an Film fasziniert, und was das mit mir zu tun hat, und warum das so ein Zwitterwesen ist, zwischen beiden. Da war ich das erste Mal in der Lage, das für mich zu fassen und auch später los zu lassen. Dann kamen andere Dinge, für die ich mich interessierte.

HHP:  Wunderbarerweise ist der Robert Frank-Film auch ein Schwarz-Weiß-Film. Dann das wäre ja sonst gar nicht zusammengegangen mit den Fotos. Strukturell merkt man ihm nicht an, dass das Robert Frank-Interview erst später gemacht worden ist. Das ist so integriert, dass es ein Timing fast auf gleicher Höhe ist. Aber es gibt dann auch Eure eigenen Blicke.

–  TS: Wir hatten einen Heidenspaß, das werde ich nie vergessen, bei dieser Parade in Salt Lake City, mit der Fahnenträgerin. Diese Umrundung wirkt relativ ruhig. Da bin ich oft gefragt worden: hast du das mit Steadycam gedreht oder auf Schienen? Manche Leute können auch nicht wirklich gucken, denn so ruhig ist das gar nicht. Thomas Keller und ich waren wie so ein Ballett-Pärchen unterwegs. Wir sind einfach immer wieder in diese Paraden rein, was man in Amerika gut kann, und die haben nur gedacht, die sind ein bisschen verrückt, von außen betrachtet sieht das völlig crazy aus, wenn man sich so merkwürdig bewegt mit einer Kamera. Wir standen zunächst einfach da, und dann kam diese Fahnenträgerin auf uns zu, ich sah dieses Gesicht, und das ist wieder dieser fotografische Impuls, dann denkt man gar nicht nach und schaltet die Kamera an, ich sagte „Keller los!“, und dann waren wir schon unterwegs. Die Frau hatte ja ein Tempo. Dann war ich plötzlich hinter ihr und musste sie erst wieder einholen, denn ich hatte nur im Kopf: ich will dieses Gesicht, ich will die nicht von hinten. Dann musste ich die umrunden, musste rückwärts laufen, dieses Tempo halten. Und das Irre war, dass sie darauf überhaupt nicht reagiert hat. Als wir an ihrer Seite waren und nach vorne kamen und wir ja praktisch einen halben Meter vor ihrem Gesicht hingen, fand ich das absolut unglaublich, dass diese Frau wirklich so tut, als würde sie das überhaupt nicht interessieren. Und ihre Reaktion hatte so viel Kraft. Das mag ich sowieso, wenn Leute vor einer Kamera so viel Kraft entwickeln. Und die hatte eine Statur. Die ist da durchgeschossen, und das ging halt eine bestimmte Zeit. Das sind dann so Sachen, da müssen eben auch das Handwerkliche und der Impuls in Einem gehen. Du darfst dich, wenn du Handkamera machst, nicht gegen den Schritt desjenigen verhalten, den du drehst. Du musst dich dem Schritt anpassen. Damit wird das Bild automatisch schon ruhiger. Weil du dieselben Auf- und Abwärtsbewegungen machst. Aber da denkst du auch gar nicht mehr nach in dem Moment, sondern das ist einfach wie Autofahren: vierter Gang, dritter Gang, Blick in den Rückspiegel, keine Ahnung, so funktioniert das dann. Und das ist Handwerk, aus ganz viel Übung heraus, wo man dann wirklich die Möglichkeit hat, sich auf so eine Geschichte einzulassen. Das ist ein fotografischer Moment, der kommt, und entweder du schnappst ihn dir mit aller Entschlossenheit oder er ist weg. Und das haben wir bei dem Film sicherlich ein paar Mal so gemacht. Es ist dann schon bei der Arbeit einfach ein unheimlich schönes Gefühl. Wir nannten das „die Poesie des Augenblicks“.

HHP: Die Kameras waren noch schwer damals.

–  TS: Das war eine 16mm-Kamera, Gott weiß, was die wiegt. 12 oder 13 Kilo? Also die waren so ungefähr wie heute eine Beta-SP. Wenn man sie lange rum trägt, wiegen die schon was. Und Thomas Keller trug die Nagra. Die hat ja auch Gewicht. Aber wir haben nicht drüber nachgedacht. Und so war das auch bei anderen Geschichten, auch bei der Kneipe in Butte. Wichtig ist auch, dass man sich auf die Räume und auf die Situationen einlässt. Du kannst nicht einfach irgendwo hingehen und drauf los schießen wie ein wild gewordener Cowboy. Das geht überhaupt nicht. Der Film, den wir über Butte gedreht haben, Die vergessene Stadt, zum Beispiel, mit der Kneipe. Das war eine wichtige Erfahrung, mit diesen Männern, die wir aufnehmen wollten mit einer großen Kamera, 35mm, die wiegt ja wirklich 20 Kilo auf der Schulter, da kann man nix mehr verstecken. Da waren wir erstmal eine Woche in der Kneipe und haben keinen Meter gedreht. Wir haben die Kamera jeden Tag auf den Tresen gestellt, saßen da, haben Kaffee oder Bier getrunken, so lange, bis mal irgendeiner von den Minern ankam und uns angesprochen hat. Wir haben uns mit dieser Situation, mit diesem Raum und diesen Menschen so lange synchronisiert, bis daraus eine Selbstverständlichkeit entstanden ist, dass man irgendwie dazu gehörte. Obwohl man trotzdem fremd war, was eine merkwürdige Mischung ist. Aber dann kam man auch sehr nah an die Leute ran und kriegte auch andere Blicke. Und mehr als das, was entsteht, wenn man etwas im ersten Moment festhält.

HHP: Und das Licht? Gehen wir jetzt mal in die Kneipe in Butte, Montana.

–  TS: Ich habe meine Filme grundsätzlich ohne zusätzliches Licht gedreht. Es gibt viele Kamerakollegen oder auch Kamerastudenten, die können zwanzig Lampen super aufbauen und großes Licht machen, aber die können mit einem normalen, natürlich gegebenen Licht überhaupt nicht umgehen. Und ich finde, das ist doch eigentlich die erste Stufe. Sobald irgendwo eine Lampe in einem Raum hängt oder nur durch ein Schlüsselloch ein Licht aus einem anderen Raum kommt, ist irgendwie ein Raum definiert. Eigentlich braucht man nur zwei Punkte, um zu sagen, da ist eine Tiefe. Und ich fand das immer ausreichend. Man muss auch auf das Filmmaterial vertrauen. Um auf Butte zu kommen. Natürlich war es in der Kneipe dunkel. Und die Neonröhren hatten alle unterschiedliche Farbtemperaturen. Am Anfang haben wir gedacht, wir müssen die alle austauschen, aber dann habe ich gesagt, Thomas Keller, du spinnst, das machen wir natürlich nicht. Das machen wir später in der Farbkorrektur. Das ist mir jetzt scheißegal, ob die jetzt lila oder rosa oder grün oder was weiß ich sind. Wir haben auch kein Licht gebaut in der Kneipe, weil es alles komplett zerstört hätte. Wir haben dann mit einer viel zu offenen Blende gedreht, wo Thomas Keller echt Probleme hatte, die Schärfe zu ziehen, denn wir reden jetzt von 35mm. Und dann half uns der Fußboden. Der Fußboden bestand aus Linoleum-Karos. Und Thomas Keller kam dann auf die Idee, die auszumessen, diagonal und Länge / Breite, und wenn er dann irgendwo stand und da stand jemand ein paar Meter weg, dann hat er einfach gezählt: fünf Karos machte so und so viel. Und die Schärfen sind alle Top. Du musst halt improvisieren. Es geht immer was. Und ich habe auch bei dem Film viel gelernt, gerade bei dem Butte-Film. Ich hatte vorher noch nie eine 35mm-Kamera in der Hand. Wir haben das Equipment rüber karren lassen, in dieses Butte, und dann habe ich zu Thomas Keller gesagt, bau mir diese Kamera jetzt in meinem Motelzimmer auf, ich muss mit der mal eine Nacht schlafen. Und dann hat er die auf dem Stativ aufgebaut, ich habe mir dieses Monstrum angeguckt und gedacht, Gott, wie soll denn das gehen? Du mit deiner Handkamera und jetzt so eine. Am nächsten Morgen habe ich mir das Gerät einmal auf die Schulter legen lassen, und die wiegt dann wirklich ordentlich. Aber ich habe trotzdem viel aus der Hand gedreht, was Thomas Keller eigentlich nicht wollte. Wir haben ohne Licht gedreht, und es ging. Film hält einfach auch was aus. Ja, und er atmet, und wenn man irgendwie weiß, die Schärfen sind klar, das ist schon wichtig, die müssen stimmen. Aber mit dem Licht? Mein Gott, gerade das Material in der Kneipe ist ja so schön geworden, weil wir nicht angefangen haben, drin rumzufummeln. Ich finde, ehrlich gesagt, meine M&M viel schöner als die von Wim Wenders. Weil sie eben eine ganz andere Ausstrahlung hat und weil es ein anderes Setting hat, und natürlich sind auch andere Leute drin, aber trotzdem muss man den Raum als solchen ja erst mal irgendwie erfassen und dann auch abbilden. Dass wir da nicht was verändert haben, dass wir alles so gelassen haben, wie es war, das war die beste Entscheidung.

HHP: Und auch die Bewegungen im Raum, die Tiefe des Raums, das ist alles da. Einmal musstest du den Frauen hinterher rufen: lauft nicht so schnell! 

–  TS: Das ist dann so eine Sache, wenn sich Leute sehr schnell bewegen. Es gibt Entfernungen zum Beispiel bei der Handkamera, die sind Gift, weil es dann sehr schnell sehr unruhig wirkt, wenn du nicht wirklich total bist, aber auch nicht nah. Also so halbtotal. Oder wenn die Füße unten abgeschnitten sind, was man eh nicht möchte. Das ist so merkwürdig, und dann kommst du manchmal nicht mehr hinterher. Dann kommst du in den asynchronen Schritt und so weiter. Dann ist es besser abzubrechen und eine vernünftige Entfernung zu suchen, und wieder von vorne anzufangen. Je näher man dran ist, halbnah/nah/groß, auch das ist so eine Bauernregel, desto ruhiger wirken auch Handkameraeinstellungen. Diese zwei alten Damen in Butte auf der Straße, die waren ja sehr resolut, die haben ja auch kein Gefühl dafür, dass Film alles beschleunigt, dass eine Bewegung sich potenziert an den Rändern und damit natürlich eine andere Geschwindigkeit bekommt, als wenn man nur normal durch die Gegend läuft.

HHP: Es ist sehr schön bei 35mm, wie plastisch die Portraits dann werden, die Gesichter, wenn sie Dich angucken, wenn sie reden. Da ist eine Durchzeichnung, eine Differenzierung…

–  TS: Die Arbeit mit 35mm hat mich in manchen Meinungen noch mal bestärkt. Zum Beispiel denke ich: Zu viel Perfektion macht ein Bild auch kaputt. Wenn alles auf den Punkt stimmt. Bilder müssen atmen. Und wenn sie atmen, heißt das für mich immer auch, dass irgendwo etwas ist, was nicht wirklich perfekt ist. Wenn wenig Schärfe da ist, dann kann die auch wandern, man kann die auch finden, es kann am Anfang unscharf sein und dann in die Schärfe gehen. Oder sie ist eben nicht ganz optimal. Sie liegt nicht auf dem Punkt gemessen, sondern sie liegt im Schärfebereich, was das Bild dann ein bisschen weicher macht, und so weiter. Also: handwerklich schon perfekt, aber nicht überperfektioniert. Ich sehe auch viele Spielfilme und schätze sehr die Arbeit von Kameraleuten im Spielfilm, die das eigentlich auch beherzigen, man kann das auch im Spielfilm umsetzen und dem Ganzen mehr Leben geben. Bei mir hat es sich mehr aus der Not entwickelt, aber am Ende war das auch ein Glauben daran, wo ich mich auch durchgesetzt habe. Zum Beispiel in der M&M Bar, wo Thomas gesagt hat, du kannst nicht mit diesen unterschiedlichen Neonröhren arbeiten. Er hat als Kameramann reagiert, und ich habe gesagt, das interessiert mich jetzt überhaupt nicht. Also dann muss man sich mit Fehlern durchsetzen. Ich finde Fehler in einem Bild auch wichtig. Damit die Bilder richtig gut werden

HHP: Wenn Du diese Portraits machst von Deinen Protagonisten in Butte, in der Bar. Dieser eine, der Indianer, er hat natürlich kein Make-up, er ist einfach er selbst, in aller Tiefe, mit allen Varianten. Dadurch entstehen auch diese Intensität und die Nähe.

–  TS: Da sind wir wieder bei den Objektiven. Das ist jetzt wieder so der Kreislauf. Ich komme von Fotografen, die alle mit relativ kurzen Brennweiten fotografiert haben. Also mit leichten Weitwinkelobjektiven. Das heißt, da musst du schon auf die Leute zugehen. Du kannst nicht mehr irgendwie hinterm Baum stehen und mit einem Teleobjektiv dir schnell was herzoomen. Du musst dich zeigen. Diesen Moment finde ich ganz wichtig. Du gibst ja selber auch ein Bild ab. Das habe ich auch sehr schnell verstanden. So wie du dich mit deiner Kamera verhältst, wie du da stehst, das ist ein Geben und Nehmen. Die Klientel in der M&M Bar, das waren Leute, die haben schweres Material bewegt. Die haben ihr Leben lang diese Eisen- und Kupfersteine aus diesen Stollen rausgeknallt. Dass dann jemand vor ihnen stand, mit so einer schweren Kamera, damit konnten die natürlich schon was anfangen. Und zwar frontal in der Begegnung, nicht irgendwie verdreht oder versteckt. Und am Anfang war wichtig, dass man die Zeit hat, bis man die Kamera etablieren konnte. Aber dann ging’s auch gar nicht mehr anders. Dann waren die Interviews halt alle auf ein Meter Entfernung. Musste ja auch, denn der Geräuschpegel in der Kneipe war absurd hoch, mit diesem Geschirrgeklapper. Wir hatten enorme Tonprobleme. Aber auch da wäre ich nie auf die Idee gekommen, zu sagen, wir machen jetzt ein Interview, hör mal auf, dein Geschirr zu spülen. Klar, der Tonmann sagt natürlich du musst damit rechnen, dass die Tonaufnahme irgendwie in den Keller geht. Aber ich hätte es nicht gewagt, den Fluss der Ereignisse in diesem Raum zu unterbrechen, nur damit ich einen besseren Ton habe.

HHP: Das wäre ein atmosphärischer Bruch gewesen.

–  TS: Da, finde ich, muss sich der Film auch unterordnen können. Nur bei dem Indianer hatten wir das Mikro noch von oben, da war der Ton dann wirklich nicht so gut. Aber man hat, wenn man sich mit Ton beschäftigt und mit Winkeln von Mikrophonen, immer Möglichkeiten, handwerklich gut zu arbeiten.

HHP: Wie lange wart ihr dort, in Butte?

–  TS: Wir sind bei dem Robert Frank-Film in die Stadt gekommen, aufgrund der Bilder von Robert Frank, die er da gemacht hat in den fünfziger Jahren. Und die fand ich schon immer sehr beeindruckend. Wir sind in diese Stadt rein gekommen und waren von dieser Stadt total fasziniert. So etwas merkwürdig Dekadentes, Morbides, Faszinierendes, Eigenartiges habe ich überhaupt noch nie erlebt. Und es ging uns allen so. Dann haben wir gedreht und haben den Archivar Al Hooper kennen gelernt. Er hat uns diese Bilder gezeigt, diesen Fotoschatz, den er gesammelt hat. Da ist natürlich der Fotograf bei mir wieder durchgebrochen. Dann haben wir gesagt: wenn wir noch mal zurückkommen nach Amerika und wenn wir über irgendeinen Ort dieser Reise einen weiteren Film machen, dann ist da Butte. Und so kam es auch. Al Hooper hat mir dann eine kleine Kiste mit Fotos geschickt, weil er ja so manisch von seinen Fotos immer geredet hat. Mit den Fotos von Robert Frank konnte er gar nichts anfangen. Und mich hat diese Manie von dem Mann wahnsinnig beeindruckt. Und dann haben wir tatsächlich die Finanzierung auf die Beine gestellt und sind mit diesem riesigen Equipment da rüber und haben uns dann einfach in dieses Motelzimmer gesetzt und in sechs Wochen diesen Film gedreht. Alles was wir wollten am Anfang, was wir als Konzept hatten, hat nicht funktioniert. Ich hatte einen Protagonisten, der immer die Augen zumachte, wenn die Kamera lief. Da war mein ganzes Konzept über den Haufen geschmissen, weil ich mir gedacht habe, du kannst auf einer großen Kinoleinwand nicht jemanden durchgängig zeigen, der immer die Augen zumacht. Das war aber auch nicht abzustellen. Dann haben andere Dinge eine größere Bedeutung bekommen, wie die Kneipe und die Stadt als Stadt. Und dann hat man das alles sich aufgeteilt. Natürlich hat die Kameraarbeit in dieser Stadt auch unheimlich Spaß gemacht. Das ist auch ein Motiv. Also, da macht es dann halt Spaß mit einer Kamera draußen rum zu laufen. Nicht umsonst waren fast alle Fotografen in Butte, die ameri­kanischen, Robert Frank, Lee Friedland, und auch europäische wie Wim Wenders, der schon in den siebziger Jahren in Butte war. Diese Stadt ist ein Mythos. Und für Filmemacher und Fotogra­fen obendrein. Und deswegen war es natürlich ein später Flash, als mich Franz Lustig angerufen hat und sagt, er dreht mit Wim Wenders in Butte. Mir war das klar, irgendwann kommt das. Irgendwann wird Butte für den Spielfilm entdeckt.

HHP: Bei Wenders, in Don’t Come Knocking, ist es ein anderes Butte.

–  TS: Ich war natürlich wahnsinnig neugierig, den Film im Kino zu sehen und diese Begegnung wieder zu haben mit der Stadt. Ich habe mich auch in diese Stadt verliebt. Das gibt’s ja. Wir haben da auch Freunde. Und dann vermischt sich halt auch alles wieder. Aber auch diese Arbeit mit 35mm an so einem entfernt gelegenem Ort. Mit soviel Risiko. Das mochte ich aber immer. Man muss immer einen Tick mehr riskieren als im Sicherheitsrahmen drin ist. Aber so eine Stadt lässt einen irgendwie nicht mehr los. Ich google auch ab und zu und guck dann, was mit der M+M Bar ist und so. Ich wusste also schon, bevor Wenders seinen Film gedreht hat, dass die nach 120 Jahren 24 hour open zu gemacht hat. Da hängen ganz, ganz viel Emotionen drin.

HHP: Ein Sprung zur Doku-Fiktion. Carola Stern – Doppelleben. Wenn Du Dich jetzt zum Spiel, zur Fiktion bewegst, ist das für Dich von der Kamera her eine grundsätzliche Veränderung oder versuchst Du, den dokumentarischen Blick in den fiktionalen rüberzuholen.

–  TS: Ich finde, fiktionales Arbeiten ist etwas komplett anderes. Gut, es gibt mittlerweile auch Regisseure, die sich da dokumentarisch annähern, wie Andreas Dresen in Halbe Treppe, das sind dann ja auch Leute, die Dokumentarkamera machen. Aber vielleicht dadurch, dass ich ja eh als Dokumentarfilmer das mache und auch für mich so ausgelebt habe, ist das nicht der Punkt. Da tendiere ich eher zum klassischen System. Das sieht man ja auch an dem Carola Stern-Film mit Holly Fink, das war eine ganz tolle Zusammenarbeit. Wobei mir schon klar ist, dass die Kameraleute, die mit mir arbeiten, es ertragen müssen, dass sie es auch mit einem Kameramann zu tun haben, der anders auf ihre Bilder guckt. Als ich sehr früh einen kleineren Film gemacht habe beim Südwestfunk, hatte ich einen sehr netten und guten SWF-Kameramann. Und da ist mir am dritten Tag irgendwie aufgefallen, dass ich dem in jede Einstellung reingequatscht hab. Er war dann auch genervt. Das muss man auch lernen, man muss dann los lassen. Ich gebe das Bild dann einfach ab. Das muss dann auch eine ganz konsequente Entscheidung sein. Natürlich brauchst du einen Kameramann, dessen Arbeit du schätzt und mit dessen Ästhetik du was anfangen kannst. Und das könnte ich auch immer sagen: der interessiert mich oder der interessiert mich nicht. Aber dann ist es sein Gebiet und sein Revier und seine Geschichte, und dann habe ich mich auf andere Sachen zu konzentrieren. In der Auflösung trifft man sich dann wieder. Das ist dann auch hilfreich. Das ist auch für Kameraleute, glaube ich, hilfreich, wenn die Regisseure ein Verständnis haben zum Beispiel für den Raum und wie man den Raum auflösen kann. Wenn man dann da eh nah beieinander ist und sich gut versteht, kann das auch sehr inspirierend sein.

HHP: Du arbeitest schon lange Zeit mit Kameras, erst als Fotograf, dann als Dokumentarfilmer, und fotografieren tust Du zwischendurch immer noch. Wie hast Du die technische Entwicklung, also zum Beispiel von Filmmaterial zum elektronischen Träger, mit vollzogen? Was hat Dich da besonders beschäftigt? Ist es ein Fortschritt oder ist es ein Kompromiss, den man eingeht?

–  TS: Es ist erstmal eine technische Entwicklung, die irgendwann nicht mehr aufzuhalten ist. Als ich studiert habe an der DFFB, kamen die ersten Videokameras, da gab es die ersten Videokünstler – Gustav Hamos war ja auch bei mir in der Klasse – und die erste Fraktion an der DFFB, die auf Video schwor haben wir Vidioten genannt, weil wir halt vom Film kamen. Damals hat man gedacht, es wird schon wieder vergehen, aber später, nach 1990, nach dem Butte-Film, wurden auch ökonomischen Faktoren bestimmend. Ich konnte es mir einfach nicht mehr leisten, auf Film zu drehen, weil ich sonst mit meiner kleinen Firma nicht überlebt hätte. Der Autobahnkrieg war mein erster Film auf Video. Ich habe damals überlegt, kennst du jemanden, der Video macht, und habe dann mit Reiner Holzemer am Ende 15 Filme zusammen gedreht. Da sind dann ganz andere Geschichten entstanden. Wirklich als Konzept ausgezahlt hat sich das dann später bei Filmen wie über Gerhard Schröder, wo man mit sich mit kleinen Kameras gegen den Journalistentross absetzen konnte, beweglich war und die Möglichkeit hatte, viel zu drehen, ohne dass es das Budget gesprengt hat. Eigentlich müsste es ja so sein, dass man immer vom Thema her entscheidet, mit welcher Technik man ein Projekt dreht, und es gibt sicherlich Filme heute – sehr gute Filme – , die ohne die Entwicklung der Videotechnik nie gedreht worden wären, auch im Fiktionalen. Wenn also dieser Zusammenhang zwischen Thema und Technik stimmt, finde ich das wunderbar. Es ist natürlich zweischneidig, wenn es eine ökonomische Geschichte wird, wo dann ein Produzent oder Redakteur sagen, „Na ja, das können Sie doch auf Video drehen, dann kostet es nur die Hälfte“, also wenn der Inhalt nicht mehr das eigentliche Thema ist, über das man spricht.

Die Arbeit als Kameramann ist natürlich an einer Videokamera eine andere wie an einer Filmkamera. Das fängt schon damit an, dass man zu einer Leica oder zu einer ARRI-Kamera ein emotionales Verhältnis hat – darüber reden ja viele Kameraleute und Fotografen – das wirst du zu einer, sagen wir mal, SONY 500 SEL oder wie die alle heißen, nie entwickeln. Du hast ein rein pragmatisches Verhältnis zu Videokameras, die müssen halt einfach funktionieren. Und das Drehen ist natürlich anders. Ich bin sehr dankbar, dass ich noch diese Schule, und es ist eine Schule, durchlebt habe, wo man in dem Bewusstsein gedreht hat, dass Material einfach Geld kostet. In Butte sind mir wie bei so einem Glückspielautomaten die Dollar-Scheine nur so durch den Kopf gerattert, wenn die Kamera lief, und es ist eine andere Voraussetzung, sich zu entscheiden, auf den Auslöser zu drücken oder nicht – also der ganze Kopf funktioniert komplett anders. Und es hat noch einen Vorteil, nämlich dass man sich auch auf die Bilder anders konzentriert. Ich finde, man sieht – auch an meinen Filmen zum Beispiel – dass man mit einer Filmkamera an den Rändern sorgfältiger arbeitet, und mit Rändern, Ecken – also nicht nur mit dem, was in der Bildmitte ist – anders umgeht, als wenn das alles in die Breite geht, weil man auch die Konzentration gar nicht über so unendliche Strecken halten kann. Es ist ja schon schwer genug, sich über elf Minuten auf ein Bild zu konzentrieren, aber auf eine Stunde, wer soll das denn überhaupt leisten? Das heißt, du wirst nachlässig, du gehst mehr auf die Bildmitte, guckst halt noch so, dass alles irgendwie einigermaßen stimmt, aber einigermaßen ist nicht umfassend. Und wenn man dann wieder weiß, vom Fotografischen her gedacht, dass ein Bild unter Umständen eine stärkere Konzentration und Wirkung und vielleicht auch Dichte an den Rändern hat als in der Bildmitte, und dass es für die Wahrnehmung enorm wichtig ist, wie genau man da arbeitet, wo es der Zuschauer eigentlich nicht mehr „sieht“, sondern vielleicht nur noch unbewusst registriert, dann gerät man umso mehr in diesen Zwiespalt, dass man sich die Konzentration oft wieder wünscht, aber man weiß, man kann das so mit einer Videotechnik nicht halten. Was ich erstaunlich finde zum Beispiel an Kamerastudenten, die von vornherein damit aufwachsen, die entwickeln einen anderen Umgang damit. Ich habe unlängst einen Film gesehen, einen Spielfilm, der bei uns entstanden ist, der auf HD gedreht ist, Video, und auf 35 mm ausbelichtet, also das ist einfach unglaublich. Da entstehen andere Arten der Konzentration, andere Arten der Bildbewegung, andere Arten zu schneiden. Die dann zu einer Perfektion zu bringen, das hängt wahrscheinlich immer davon ab, welche Schule durchläufst du, und ich stamme halt noch aus dieser alten Schule, und ich will sie eigentlich auch nicht missen.

HHP: Das setzt sich auch fort in die Montage, das heißt im Umgang mit dem Material, das in der Regel umfangreicher ist, wenn du heute für einen Film über Videokameras Material anhäufst. Welche Erfahrungen hast Du jetzt bei der Montage? Ist die Materialmenge, weil man nicht so sparsam sein musste, von Vorteil oder manchmal auch von Nachteil?

–  TS: Die Filme werden nicht besser dadurch, dass man wahnsinnig in die Breite dreht. Wenn Studenten heute kommen und haben 140 Stunden Material gedreht, dann ist das einfach nicht mehr zu bearbeiten. Klar hilft manchmal bei Interviews, dass man eine Kamera laufen lassen kann – das habe ich ja auch gemacht – und es ist ein Vorteil, dass man nicht ständig unterbrechen muss oder mit irgendwelchen Geheimsprachen arbeiten muss, damit es der Gesprächspartner nicht merkt. Aber wenn ich mir die alten Filme anschaue, die mit dem Zwang der Beschränkung gearbeitet haben: die Interviews waren ja nicht schlechter und die Einstellungen waren nicht ungenauer. Es war einfach ein anderes Denken. Man hat über längere Strecken ausgehalten, nicht zu drehen. Das geht so ein bisschen verloren. Es muss immer agiert werden, die Kameras sind da und leben mit dem Versprechen „Schalt mich ein, ich laufe 140 Stunden“. Und dann macht man das natürlich auch. Und insofern muss die junge Generation damit umgehen, aber ich habe dazu nach wie vor ein gespaltenes Verhältnis. Ich habe mit allen Kameras gedreht mittlerweile, glaube ich, die es überhaupt gibt, von der 16mm Bolex mit Federzug bis zu HDV und HD-Cam, und ich finde es sowieso unglaublich, dass es jetzt 80 Kameratypen gibt und früher gab es irgendwie fünf, und auch da sich heute zurecht zu finden ist ein Wahnsinn. Aber wenn ich die Wahl hätte, und das war ja das Tolle an dem Berlin-Sinfonie-Film, dann schon bitte auf Film und auf 35mm, wenn es zu bezahlen ist.

HHP: Eine letzte Frage: Gibt es in deinen Bildern etwas spezifisch deutsches, und wenn ja, was ist das?

–  TS: Das ist eine schwierige Frage. Ich kann sie eigentlich wieder nur von der Geschichte  der Fotografie her beantworten. Wenn man die Bilder von mir nimmt, stehen sie, obwohl ich mich mehr mit amerikanischen Fotografen beschäftigt habe, in der Tradition von deutschen Fotografen. Zum Beispiel die Art, Architektur aufzunehmen, hat sehr viel mit Bernd und Hilla Becher zu tun, da geht es aber mehr um Linienführung, oder mit Thomas Struth. Eine gewisse Strenge gibt es ja auch im deutschen Film in einer bestimmten Art, oder hat es einmal gegeben, oder gibt es jetzt wieder bei Christian Petzolds Filmen mit der wunderbar genauen Kameraarbeit von Hans Fromm. Ich hatte mal den Spitznamen bei den Sendern: der Mann mit der eisernen Kamera, obwohl ich soviel von der Hand gedreht habe, aber das haben die ja nicht als Bewegung registriert, weil keine Schwenks drin waren. Es gibt sicherlich bei mir ein paar stilistische Mittel, die eher deutsch sind, nicht französisch und nicht englisch und auch nicht osteuropäisch, es gibt schon so eine deutschsprachige Bildästhetik. Damit hat sich, glaube ich, noch nie wirklich jemand beschäftigt, aber ich glaube, man würde da auf ganz erstaunliche Phänomene kommen. In der Fotografie kann man das vielleicht besser festmachen. Und ich habe auch gemerkt, dass ich dem zugehörig bin, das steckt wahrscheinlich als Mentalität in einem drin. Für Amerikaner wirken unsere Filme ja auch so unendlich langsam. Dieses Deutsche kommt dann auch so schwer daher, und alle machen so lange Pausen und dürfen so lange gucken, was man auch bei Volker Koepp-Filmen sehen kann. Da gibt es ja in der ganzen DEFA-Tradition auch wunderbare Beispiele dafür. Ich glaube schon, dass es so etwas wie ein visuelles deutsches Empfinden gibt, was verschiedene Leute auf ganz unterschiedliche Weise etabliert haben. Im Film hat es auch wieder viel mit dem Sprachduktus zu tun und wie geschnitten, wie montiert wird. Eine Filmkultur übrigens, die ich unbedingt erhaltenswert finde.

HHP: Geht es darum, die Intensität möglichst auszukosten?

–  TS: Ich empfinde es eher als etwas fast Unerbittliches, weil man an eine Grenze geht, auch für sein Gegenüber. Es ist ein Austesten bis zum Schluss oder bis über den Punkt, etwas Übergründliches, man hält sehr lange an etwas fest, bevor man bereit ist, es abzugeben. Das kann sich auch auf eine Einstellung beziehen. Es kommt nicht von ungefähr, dass es viele Kolleginnen und Kollegen gibt, die schon vorher anfangen zu drehen und die Kamera weiterlaufen lassen, wenn alle ausgeschalten haben. Das meine ich mit dem „Unerbittlichen“. Das ist ja auch eine Anstrengung, eher da zu sein und später zu gehen, und alles zwischen drin auch noch zu erledigen. Ich weiß es nicht, vielleicht ist das was Deutsches.

Es gibt natürlich auch in den Bildern etwas Deutsches, von der Motivauswahl her und wonach man guckt. Man macht zum Beispiel in Amerika andere Bilder als in Deutschland. Die Räume zeigen sich anders und dadurch bewirken sie auch andere Bilder. Ich hätte sicherlich über New York nie so eine Sinfonie gedreht wie über Berlin, also die Motive bestimmen dann letztlich auch den Stil.

Aber man tritt natürlich schon mit etwas an. Und je älter man wird, je stärker ist es dann vielleicht gewachsen. Die Fotografen sagen, wenn sie ehrlich sind: so viele neue Bilder – in Anführungsstrichen – macht man sowieso nicht in seinem Leben. Wenn man jung ist, hat man die Möglichkeit, bestimmte Dinge zu kreieren, weil man unverbraucht ist, und später variiert man sie besser oder schlechter, aber je älter man wird, desto schwieriger wird es, überhaupt noch mal mit einem neuen Ansatz oder mit einem neuen Blick auf etwas zu reagieren, weil du natürlich wahnsinnig viel  abspeicherst und sich alles an dem abreibt, was du schon abgespeichert hast.

Ich denke, dass sich in meinen frühen Filmen bildästhetisch alles ausdrückt, was ich in den späteren Filmen letztlich variiere oder exponiere. Aber die Anlagen dazu waren alle schon gegeben, bevor ich überhaupt an die Filmhochschule gegangen bin.

 

Das Gespräch fand am 4. Februar 2008 in Berlin statt.