04. Oktober 2006
Filmgeschichte in der Filmhochschule
Rede in der Filmakademie Baden-Württemberg
Lieber Thomas Schadt, verehrte Studenten, Dozenten und Mitarbeiter der Filmakademie, meine Damen und Herren,
vielen Dank für die Einladung, hier heute sprechen zu dürfen – zur Eröffnung des neuen Studienjahres. Die Filmakademie gibt es nun 15 Jahre. Sie ist also schon selbst ein Stück Filmgeschichte. Verbunden mit konkreten Erinnerungen an Namen und Filme und an einen Direktor, der diesem Haus über mehr als eine Dekade die Richtung gewiesen hat. Aber sie ist natürlich vor allem ein Ort, der auf die Zukunft vorbereitet. Das ist jedenfalls die Erwartung der Studenten, die jetzt mit ihrer Ausbildung beginnen oder schon mitten drin sind.
Ausbildung heißt: den Umgang mit den Produktionsmitteln und den Regeln des Mediums lernen. Dafür gibt es Geräte und Material, Gebrauchsanweisungen und Dozenten. Aber es gehört wohl noch mehr dazu.
Zunächst einmal beginnt man ein Filmstudium ja nicht voraus-setzungslos. Wer sich hier bewirbt, hat ein Motiv. Im besten Fall ist er inspiriert von vielen Filmen und auch von Fernsehsendungen, die ihn bewogen haben, sich für dieses Gewerbe beruflich zu interessieren. Ich unterstelle, dass die Bewerberinnen und Bewerber eine heftige Kino-sozialisation hatten. Und dass diese nicht nur vom aktuellen Mainstream dominiert war. Den einen oder anderen „älteren“ Film sollten sie schon gesehen haben.
Natürlich wäre es schön, wenn bereits in der Schule ein Basiswissen in Filmgeschichte vermittelt würde. Aber die Lehrpläne der meisten Bundesländer sehen dies nicht vor. Vor drei Jahren hat auf Initiative der Bundeszentrale für politische Bildung eine Kommission in Berlin einen ersten Kanon zusammengestellt: 35 Filme, die man bis zum Abitur gesehen haben sollte. Die Kommission hat sich dabei zerstritten, der Kanon ist dennoch ein akzeptabler Kompromiß. Vor zwei Jahren wurde eine neue Institution gegründet, „Vision Kino“,die bildungs-politisch und pädagogisch Hilfe leisten soll. Sie ist inzwischen – mit Sitz in Potsdam – wirklich aktiv. Aber davon werden frühestens die Bewerberinnen und Bewerber der Filmakademie im Jahre 2012 profitieren.
Bis dahin liegt es weitgehend am Enthusiasmus einzelner Lehrer und an der Energie der Schülerinnen und Schüler (also der späteren Bewerberinnen und Bewerber der Filmakademie), ob und wie sie sich mit der Filmgeschichte vertraut machen. Für welche Zeiten – abgesehen von der Gegenwart – sie sich besonders interessieren. Wie neugierig sie ältere Filme anschauen. Ob sie Film nur als ein Format des Fernsehens betrachten. Ob sie fixiert sind auf spezielle Genres oder offen für Melodram, Dokumentarfilm und Komödie. Ob sie Hilfe-stellungen (Bücher, Zeitschriften, auch Internet-Foren) in Anspruch nehmen. Ob sie über Filme nur plappern oder reflektiert sprechen und sogar schreiben können. Ob sie den Übergang vom Zufälligen zum Gezielten schaffen. Ob sie im Zustand der Naivität bleiben oder sich Kompetenz erwerben.
Ich denke, dass damit auch schon der Umgang der Filmstudenten mit Filmgeschichte charakterisiert wird. Hier wäre mein Anspruch allerdings, dass Basiswissen, Reflexionsvermögen und eine gewisse Kompetenz vorhanden sind. Das betrifft sowohl die Film- wie die Fernsehgeschichte.
Es schockiert mich schon, wenn ein Absolvent der DFFB mir vor einigen Tagen gestehen musste, dass er von einer „Stuttgarter Schule“ und den Dokumentaristen Roman Brodmann, Wilhelm Bittorf oder Dieter Ertl noch nie etwas gehört hat.
Nun ist die Fernsehgeschichte auf Video und DVD aus verschiedenen Gründen heute noch nicht so verfügbar wie die Filmgeschichte. Nicht zuletzt um dem abzuhelfen, haben wir in Berlin vor einigen Monaten ein Fernsehmuseum eröffnet, dessen „Programmgalerie“ langfristig den Zugang zu allen wichtigen Sendungen und Sendereihen ermöglichen soll. Natürlich kann man einen Film wie den polizeistaats-besuch von Roman Brodmann über den Schahbesuch 1967 in Berlin und den Tod von Benno Ohnesorg schon heute dort sehen. Er gehört zu den essentiellen Dokumenten seiner Zeit, auch wenn er nicht so häufig zitiert wird wie die Bilder der Mondlandung 1969.
Das Wunderbare am Film und am Fernsehen ist doch auch, dass sie uns in bewegten und manchmal bewegenden Bildern von der Vergangenheit erzählen. Dass sie uns bei der Erinnerung helfen und dies eindringlicher und anschaulicher tun können als die Literatur. Ich wüsste sehr viel weniger über die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, wenn ich nicht so viele und so unterschiedliche Filme aus jener Zeit gesehen hätte. Wobei ich keinen generellen Unterschied mache zwischen Spielfilmen und Dokumentarfilmen. Spielfilme erzählen mir sogar oft mehr vom Leben in jenen Jahren als die offiziellen Dokumentarfilme, die damals noch „Kulturfilme“ hießen.
Um vom Allgemeinen ins ganz Konkrete zu kommen, nenne ich jetzt zehn deutsche Filme, aus den letzten achtzig Jahren, deren Kenntnis ich bei einem Filmstudenten voraussetzen möchte. Ich vermute, dass ich zu optimistisch bin – und von einigen Filmen gibt es auch noch keine DVD. Aber ich würde mir wünschen, dass diese Filme (und noch ein paar mehr) wenigstens am Ende des Studiums gekannt werden. Es handelt sich, wohlgemerkt, nur um deutsche Filme.
1. nosferatu von Friedrich Wilhelm Murnau. Ein Vampir-Film, 1922 an Originalschauplätzen gedreht. Man musste dazu allerdings bis in die Karpaten fahren und einen Kameramann wie Fritz Arno Wagner haben. Von nosferatu haben alle gelernt, die später im Kino Angst und Schrecken verbreiten wollten.
2. berlin. die sinfonie der grossstadt von Walther Ruttmann (1927). Den Film sollten Sie nicht nur deswegen kennen, weil Ihr Direktor 2000 eine Neuverfilmung gewagt hat, sondern weil er als frühes Montageexperiment noch heute bestehen kann. Auch dramaturgisch ist er ein Lehrstück.
3. menschen am sonntag von Robert Siodmak und Edgar Ulmer (1929). Wochenendbeobachtungen in Berlin. Noch als Stummfilm gedreht. Fünf junge Leute spielen quasi sich selbst. Beteiligt waren auch Billie Wilder und Fred Zinnemann, der Kameramann Eugen Schüfftan und der Autor Kurt Siodmak. Ein Außenseiterfilm. Seine Bilder öffnen einem noch heute das Herz.
4. m von Fritz Lang (1931). Sein erster Tonfilm, das Psychodrama eines pathologischen Kindermörders. Weil der auch die normalen Verbrecher in Verruf bringt, verfolgen die ihn mit anderen Mitteln als die Polizei. Man vergisst niemals die Bild- und Tonmontage, in der die Mutter vergeblich nach ihrer Tochter Elsie ruft.
5. unter den brücken von Helmut Käutner. Gedreht im Sommer 1944. Ohne Bomben. Wie eine poetische Vision von einer Zeit nach dem Krieg. Nur eine kleine Dreiecksgeschichte auf einem Havelkahn und in Berlin. Einfach, aber nicht trivial. Mit Schauspielern, die nie wieder so gut waren.
6. abschied von gestern von Alexander Kluge (1966). Die Lebensstationen einer jungen Frau, collagiert aus Spielszenen, Interviews, Reportagen, improvisierten Dialogen, Trickszenen, Literaturzitaten, Musikzitaten, Kommentaren. Ein Schlüsselfilm der sechziger Jahre.
7. alice in den städten von Wim Wenders (1974). Ein Journalist und ein neunjähriges Mädchen suchen auf einer Reise durchs Ruhrgebiet die Großmutter des Mädchens. Ein Film, bei dem man auf wunderbare Weise hören und sehen lernen kann.
8. die ehe der maria braun von Rainer Werner Fassbinder (1978). Das Melodram einer Frauenemanzipation ist Fassbinders bekanntester Film. Sie können sich auch zehn andere Filme von ihm anschauen. Sie sehen immer etwas anderes und etwas gleiches. Fassbinder. Noch immer ein Wunderkind. Man kann immer noch viel von ihm lernen.
9. solo sunny von Konrad Wolf (1979). Eine einsame, emanzipierte Schlagersängerin zieht mit einer Band durch die DDR-Provinz und gerät in den Widerspruch zwischen eigenem Lebensanspruch und allgemeiner Lethargie. Für viele ein Blick in ein fremdes Land. So realistisch und poetisch, wie das damals in der DDR möglich war.
10. heimat von Edgar Reitz (1984). Eine Chronik in elf Teilen, sie dauert über 15 Stunden und erzählt vom Leben einer Familie in einem Hunsrückdorf. Seinen Blick auf die deutsche Geschichte hat Reitz mit der zweiten heimat und heimat 3 inzwischen fortgesetzt. Sein Genre, der Filmroman, opponiert gegen alle gängigen Formate. Und funktioniert nur, wenn man Zeit investiert. Man kann dann allerdings süchtig werden.
Ich weiß, diese Auswahl ist sehr zugespitzt und höchst subjektiv. Es fehlen unter den Regisseuren Ernst Lubitsch, G.W. Pabst und Max Ophüls, Leni Riefenstahl und Veit Harlan, Wolfgang Staudte und Kurt Maetzig, Frank Beyer und Bernhard Wicki, Volker Schlöndorff und Werner Herzog, es fehlen die Dokumentaristen und Avantgardisten der Sechziger und Siebziger.
Ich habe die zehn Film genannt, weil sie Teil eines Projektes sind, das ich zur Zeit realisiere. Ich drehe zusammen mit dem Filmredakteur Michael Althen einen Dokumentarfilm über die deutsche Film-geschichte. Darin spielen die genannten Filme eine hervorgehobene Rolle. Wir haben für jeden einen so genannten „Paten“ gewonnen, einen Filmemacher, der ihn als einen persönlichen Lieblingsfilm vorstellt und dies am Beispiel einer Szene begründet.
Mit Christian Petzold (Absolvent der DFFB) haben wir über Käutners unter den brücken gesprochen, mit Andreas Dresen (Absolvent der Babelsberger HFF) über Wolfs solo sunny, mit Dominik Graf (Absolvent der Münchner HFF), der sich unseren Vorschlägen verweigerte, über rocker von Klaus Lemke.
Die Leidenschaft und Kompetenz, mit der die genannten Regisseure über die Filme von gestern und vorgestern geredet haben, ist erstaunlich und beispielhaft. Sie zeigt uns auch, wie sehr Vorlieben und persönlicher Stil sich mit Filmen der Vergangenheit verbinden können, manchmal sichtbar und direkt, manchmal über einen Umweg, den zu verfolgen sich lohnt.
Natürlich glaube ich, dass Filmemacherinnen und Filmemacher, aber auch Kameraleute, Cutterinnen und Cutter, Autorinnen und Autoren viel von der Geschichte lernen können. Vor allem, wenn sie privilegiert sind und in einer Filmakademie eine Ausbildung bekommen. Sie müssen hier einerseits ihre eigenen Phantasien entwickeln und ihre kreativen Fähigkeiten erproben, sie müssen aber andererseits ein Umfeld wahrnehmen, das über die aktuelle Konkurrenz– an der Hochschule und in diesem Land – hinausgeht. Es reicht in die Geschichte zurück.
Die deutsche Geschichte, mit ihren politischen Brüchen und diffusen filmischen Traditionen macht es ihnen nicht gerade leicht. Der Film der Weimarer Republik, des Nationalsozialismus (und des Exils der jüdischen Künstler, die das Land verlassen mussten), der Film der Nachkriegszeit, der Bundesrepublik und der DDR und der Film eines geeinten Deutschland ab 1990 ist immer im Kontext der Zeitgeschichte zu lesen. Das unterscheidet ihn vom amerikanischen oder französischen Film, deren Entwicklungen anders verlaufen sind.
Und natürlich ist es mühevoll, einen Stummfilm zu sehen und die Entfernung zu den alten, mit Musik begleiteten Bildern samt Zwischentiteln zu überwinden oder die schwarzweißen Tonfilme der dreißiger, vierziger, fünfziger Jahre mit ihren zum Teil trivialen Genremustern ernst zu nehmen. Es ist dennoch die Mühe wert. Offenbar ist inzwischen auch der westdeutsche Autorenfilm der sechziger und siebziger Jahre schon in weite Ferne gerückt. Dabei geht es mir oft so, dass ich Filme der neunziger Jahre schneller vergesse als die der siebziger…
Von großem Vorteil ist es, dass heute mehr alte Filme denn je verfügbar sind, dank Video und vor allem dank DVD. Auch die Bild- und Tonqualitäten haben durch digitale Bearbeitung gewonnen – jedenfalls im Vergleich zu den 16mm-Kopien, mit denen ich filmhistorisch sozialisiert worden bin.
Natürlich plädiere ich immer noch für die Projektion von 35mm-Kopien. Und ich denke, dass auf dem Bildschirm oder dem Monitor Filme oft kleiner gemacht werden als sie sind. Am Beispiel von John Ford hat Frieda Grafe geschrieben: „Es gibt keine Filme, die das Kino nötiger brauchen als seine. Der Fernsehschirm ist zu anspruchslos, er fordert den Blick nicht heraus. Kamerabewegungen sind bei Ford weniger wichtig als der Blick, der den Horizont absucht, angstvoll, erwartungsvoll, Gefahr witternd.“
Und was Frieda Grafe zu Ford sagt, lässt sich auch auf andere Filme übertragen, in denen weite Horizonte oder freie Räume die Geschichten konstituieren. Der Bildschirm begrenzt diese Blicke. Für manche Geschichten sind die Dimensionen des Bildschirms andererseits von Vorteil. Ich errichte also keine Hierarchie zwischen den Medien, ich will nur ihre Unterschiedlichkeit deutlich machen.
Filmstudenten müssen nicht wissenschaftlich arbeiten. Sie sollen Künstler werden oder wenigstens gute Handwerker. Aber auch in diesem Zusammenhang ist Filmliteratur nützlich. Eigene Urteile über ältere Filme lassen sich auch mal überprüfen. Dafür gibt es Filmzeit-schriften (ich erinnere an die gute alte Filmkritik, Sie sollten auch epd Film und den Film-Dienst nicht verachten) und substantielle Literatur. Nicht die schnellen Ratgeber sind dabei hilfreich, sondern die Texte der Autorinnen und Autoren, die nach dem Anschauen der Filme erst einmal nachgedacht haben. Lest Frieda Grafe! Das ist anstrengend, bringt aber Gewinn für den Kopf. Oder lest wenigstens die „Film-klassiker“ von Thomas Koebner. Für viele Filme reicht das Urteil aus dem Bauch wirklich nicht aus.
Im Übrigen helfen Reflexion und Formulierungsvermögen auch für die eigene Filmarbeit. Ich wundere mich manchmal, wie hilflos und wortkarg Filmemacher bei Pressekonferenzen und Diskussionen über ihre Arbeit reden. Es ist entweder kokett oder peinlich, sich dort als Künstler in Schweigen zu hüllen.
An den Filmakademien und Filmhochschulen wird „Filmgeschichte“ natürlich auch gelehrt. Dies geschieht durch Dozenten, die mit ihrem Gegenstand vertraut sind. Ich habe keinen Zweifel, dass damit so eine Art Grundversorgung für Filmgeschichte garantiert ist. Manchmal geht es auch darüber hinaus. An den HFF in München haben zwei passionierte Filmhistoriker die Studenten über Jahrzehnte wirklich filmisch gebildet: Ulrich Kurowski und Helmut Färber. Beide waren dafür prädestiniert, weil sie als Querdenker und ohne jede modische Attitüde ihren ganz unterschiedlichen Umgang mit Filmgeschichte pflegten, immer interessiert am Entlegenen, an der Entdeckung, am Lesen gegen den Strich.
Bernd Eichinger hat kürzlich – gefragt nach den wichtigsten Erkenntnissen, die ihm an der HFF vermittelt worden seien – geantwortet: die Filmgeschichte. Ich glaube nicht alles, was er so sagt. Aber das zu glauben, fällt mir leicht. Helmut Färber hat später auch in Berlin gelehrt. Und so kamen auch dort die Studenten zu eigenen Ansichten über Eisenstein, Ozu oder Godard.
Aus der DFFB weiß ich, dass es neben der offiziellen Filmgeschichts-lehre eine inoffizielle gab und gibt: als Liebhaberei von Freundes-kreisen, die sich regelmäßig treffen, Filme anschauen und darüber sprechen. Man kann natürlich auch als Einzelperson Filme lieben, sie immer wieder sehen und für sich allein darüber nachdenken. Schöner und lustvoller ist dies in einem Kreis Gleichgesinnter, in dem auch die Form der Wahrnehmung und Diskussion anders verläuft. Streit ist dabei nicht ausgeschlossen.
In der vergangenen Woche, als in der DFFB das 40jährige Bestehen gefeiert wurde, gab es ein Symposium über die so genannte „Neue Berliner Schule“: einen kleinen Kreis von Absolventen, deren Filme in ihrer Form auffällig miteinander korrespondieren. Dazu gehörten zunächst Thomas Arslan, Christian Petzold, Angela Schanelec, inzwischen auch Valeska Grisebach und Henner Winkler. Sie studierten fast zeitgleich an der Berliner Filmakademie und trafen sich regelmäßig zum gemeinsamen Filmesehen. Sie sahen vor allem Filme, die nicht zum so genannten Kanon gehören. Keine Klassiker, mehr Trash. Das gemeinsame Sehen und Reden hat sie – bei aller Unter-schiedlichkeit ihrer Filme – in einen Zusammenhang gebracht, den sie inzwischen mit einer Mischung aus Stolz und Ironie in der Öffentlichkeit vertreten.
Die Gruppen, die sich an den Filmhochschulen intensiver mit alten Filmen beschäftigen, sind in der Regel klein. Aber sie stärken ihre Kräfte, wenn sie sich nicht in einem Niemandsland treffen, sondern in ihrer Schule. Wenn es ihnen gelingt, dort die vorhandenen Konkurrenzen zu überwinden und gemeinsam über Film nachzudenken. Vor allem: über die Form der Filme. Denn der Diskurs über Ästhetik ist nicht der stärkste in diesem Land.
Truffaut. Tarantino. Tykwer.
Keiner von ihnen hat eine Filmschule besucht. Truffauts Schule war die Cinemathèque française. Tarrantino arbeitete in einer Videothek in Manhattan Beach. Tykwer war Filmvorführer im Moviemento in Berlin. Er hat sich dort nachts die Filme vorgeführt, die er gern sehen wollte. Truffaut hat eines der schönsten Filmbücher verfasst, die ich kenne: „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“ (1966). Tarrantino hat seine Filmerfahrungen in seinen Filmen verarbeitet. pulp fiction (1994) ist eine Anthologie des Genrekinos. Auch Tom Tykwer hat seine Liebe zum Kino in einem Buch kompensiert: als Gespräch mit Michael Ballhaus, publiziert unter dem Titel „Das fliegende Auge“ (2002).
Truffaut, Tarantino, Tykwer haben ihre Filmsucht in ihre eigenen Filme einfließen lassen. Mal als unmittelbare Zitate und Hommagen, mal als indirekten Subtext.
Was mich immer wieder erstaunt, ist das Erinnerungsvermögen dieser Cinephilen an alte Filme, ihre Fähigkeit, nicht nur die Geschichten zu rekapitulieren, sondern einzelne Szenen und Kameraeinstellungen zu beschreiben. Ich denke, auch das gehört zum Umgang mit Film: im Kopf genügend Kapazität freizuhalten, um Filme geistig in Besitz zu nehmen. Und dort nicht nur die eigenen Ideen zu deponieren. Insofern verneige ich mich auch vor Regisseuren wie Claude Chabrol oder Martin Scorsese. Sie sind im Kino zur Schule gegangen.
Als ich in den siebziger Jahren Studienleiter an der DFFB war, habe ich gegen den Willen der Studentenmehrheit abends im Hörsaal Filme vorgeführt: zum Beispiel von John Ford und Yasujiro Ozu. Die politisierten Studenten jener Zeit kritisierten das als bürgerlichen Scheiß und gaben sich stattdessen lieber Nachhilfeunterricht in Politökonomie. Zu meinen Vorführungen kamen die Außenseiter. Sie haben dann am Ende die schöneren Abschlussfilme gemacht.
Die Jahre an der DFFB waren für mich – mehr als die Jahre an der Universität – eine fundamentale Lehrzeit. Auf die Zeit an der DFFB bezieht sich auch der Film, den ich für die Vorführung heute auswählen durfte. Er heißt ein arbeiterclub in sheffield und stammt von dem Dokumentaristen Peter Nestler. Nestler hat Mitte der sechziger Jahre für den Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart gearbeitet und ist 1966 nach Schweden emigriert. Seine Filme waren schon für das damalige Fernsehen zu eigensinnig. Dem Sheffield-Film nahm der SDR auch den vom Autor gewollten Titel und strahlte ihn aus als menschen in sheffield.
Ich bewundere den Dokumentaristen Peter Nestler. Wir haben ihn in den siebziger Jahren einige Male an die DFFB geholt, auch wenn er ein eher schweigsamer Mensch ist. Seine Filme über Arbeit und über Geschichte sind immer Filme über Menschen, die diese Arbeit tun oder Teil der Geschichte waren. In seinen Filmen gibt es keine beliebigen Bilder, keine überflüssigen Kommentare.
Zu dem Film, den Sie jetzt sehen werden, muß ich nicht mehr sagen als: Bitte Augen und Ohren öffnen! Und mit dieser Aufforderung beginnt für mich eigentlich jede Vorführung eines alten Films. Das ist die erste Voraussetzung für den Umgang mit Filmgeschichte.
Ich gratuliere der Filmakademie zu ihrem 15. Geburtstag und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Eröffnung des Studienjahres, Ludwigsburg, 4. Oktober 2006