10. Oktober 2006
Egon Netenjakob
Nachwort zu einer Publikation im Verlag Bertz + Fischer
Gespräche zu führen ist eine Kunst. Ich meine damit Gespräche, die einer Sache auf den Grund gehen, in denen genau erinnert wird, die nicht im Ungefähren bleiben. Voraussetzung für solche Gespräche sind Offenheit und Vertrauen. Der Kölner Publizist Egon Netenjakob gewinnt das Vertrauen seiner Gesprächspartner, weil er sich spürbar und persönlich für ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Denkweisen und Erfahrungen interessiert. Er versteckt sich nicht hinter einem journalistischen Auftrag, er nimmt sich Zeit, fragt nach, hört zu und bringt sich, wenn es für das Gespräch gut ist, auch selbst mit seinen Lebenserfahrungen ein.
Netenjakobs Thema sind die Medien Film und Fernsehen im Zusammen-hang künst-lerischer Pro-duktion. Kino-film, Fernseh-film, Doku-mentarfilm. Um auf diesem Feld kreativ zu sein und sich nicht der seriellen Normierung anzupassen, müssen Autoren und Regisseure, aber auch Redakteure und Produzenten Fantasie, Mut und Wider-standskraft haben. Woher kommen diese Kräfte? In welchem Umfeld entwickelt sich eine politische und ästhetische Haltung? Vor allem in Deutschland – Nazi-Deutschland, Nachkriegs-Deutschland, Bundesrepublik, DDR, vereintes Deutschland – waren und sind die Einflüsse vielfältig und widersprüchlich. Wann wurde jemand geboren, in welchen Verhältnissen ist er aufgewachsen, welche Schulbildung und Ausbildung hat er erfahren, welche politischen Brüche hat er erlebt, von wem wurde er gefördert oder verjagt, wie hat er sich in den Strukturen der jeweiligen Gesellschaft orientiert? Ist er Autodidakt, Quereinsteiger oder Filmschulabsolvent, Quälgeist oder Glückskin, Einzelgänger oder Partner in einem Team? Warum waren oder sind Film und Fernsehen seine Leidenschaft, sein Leben?
In den Gesprächen, die Egon Netenjakob mit 25 Künstlern und Redakteuren geführt hat, werden nicht alle diese Fragen beantwortet, aber viele. Und auch noch andere: nach Einflüssen und Vorbildern, Enttäuschungen und Hoffnungen. Die Unterschiedlichkeit der Generationen, der Professionen und der individuellen Erfahrungen summiert sich zu einer sehr konkreten und subjektiven Geschichte des Fernsehens in Deutschland seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Die engen Verbindungen zwischen Kinofilm vor allem in der Bundesrepublik erweitern das Buch noch zu einer kleinen deutschen Filmgeschichte. Sie erzählt – aus der Sicht des Autos und seiner 25 Gesprächspartner – sehr spezifisch von Produktionsbedingungen, Abhängigkeiten und Hierarchien, aber auch von Stoffen, Genres und ästhetischen Alternativen. „Es geht auch anders“ ist eine mutige Behauptung. Sie richtet sich gegen einen Trend zur Normierung und Anpassung, wie er vor allem in den letzten zehn Jahren spürbar ist. Ein „Quoten-Fernsehen“ lässt Alternativen nicht ohne weiteres zu. Sie müssen erkämpft werden. Da ist es nützlich, sich der Erfahrungen älteter und auch jüngerer Fernsehmenschen zu vergewissern. Und immer aufs Neue zu spüren, wie existentiell jedes einzelne dieser Leben für Film und Fernsehen verläuft oder verlaufen ist.
Die meisten Gespräche wurden in den Jahren 1999 und 2000 geführt, einige davor, andere danach. Die zeitliche Skalierung über fast ein Jahrzehnt ist für das Buch kein Nachteil. Es schreibt Geschichte, die nicht abgeschlossen ist. Im Gegenteil: Es gibt Gesprächspartner, (Nico Hofmann, Andreas Dresen), die erst in den letzten drei, vier Jahren voll ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten sind. Sie erzählen besonders nachdrücklich und differenziert, wie sie sich den Weg zum Beruf erkämpft haben.
Zwei Protagonisten, der Szenograf Jan Schlubach und der Drehbuchautor Peter Märthesheimer, sind kürzlich gestorben. Ihre Biografien erscheinen – auf ganz unterschiedliche Weise – paradigmatisch für Karrieren in Film und Fernsehen: bei Schlubach (Jahrgang 1920) durch die großbürgerliche Herkunft, sein Überleben in der Nazi-Zeit, das Wechselspiel zwischen Theater, Film und Fernsehen, die künstlerische Partnerschaft mit Peter Beauvais; bei Märthesheimer (Jahrgang 1937) durch die soziologische Ausbildung in der „Frankfurter Schule“, die Aufbauerfahrungen im Fernsehspiel des WDR und die Zusammenarbeit mit Rainer Werner Fassbinder. Wie schade, dass diese Gespräche nun zu Nachrufen geworden sind.
Der älteste Gesprächspartner, Wolfgang Staudte, wäre 2006 hundert Jahre alt geworden. Er war ein bedeutender deutscher Regisseur, dessen Werk über einige Zeit Ost und West wie auch Film und Fernsehen verbunden hat. Er möge nicht vergessen werden.
Das Gespräch mit Wolfgang Staudte, 1974 geführt, war der Beginn der Zusammenarbeit zwischen der Deutschen Kinemathek und Egon Netenjakob. Es folgten das Buch „Liebe zum Fernsehen und ein Porträt des festangestellten Filmregisseurs Klaus Wildenhahn“ (1984), der umfangreiche essayistische „Versuch über Wolfgang Staudte“ (1991), der Aufsatz „Revision Bel Ami. Notizen zu Helmut Käutners Fernseharbeit“ (1992) und verschiedene Beiträge für die Zeitschrift FilmGeschichte.
Vor allem für die Verbindungen zwischen Film und Fernsehen war Egon Netenjakob ein wichtiger und kontinuierlicher Berater der Deutschen Kinemathek. Mit ermutigendem Zuspruch hat er in den vergangenen Jahren die schwierige Entstehung eines eigenen Fernsehmuseums unter dem Dach der Kinemathek begleitet – auch weil der von ihm verehrte Eberhard Fechner mit dem Projekt der „Deutschen Mediathek“ der Ideengeber des Fernsehmuseums war.
Nun existiert das „Museum für Film und Fernsehen“ der Deutschen Kinemathek im Filmhaus am Potsdamer Platz. In seiner „Programmgalerie“ sind zahlreiche Filme zu sehen, die sich dem Titel dieses Buches, „Es geht auch anders“ zuordnen lassen. Und bei der Erweiterung der Programme werden Filme, die in diesem Buch eine besondere Rolle spielen, sicherlich Priorität haben.
„Es geht auch anders. Gespräche über Leben, Film und Fernsehen“ von Egon Netenjakob ist die erste eigenständige Publikation des neuen „Museums für Film und Fernsehen“. Im Mittelpunkt des Buches stehen Menschen, die sich als Künstler oder als Vermittler in den letzten Jahrzehnten um Film und Fernsehen in Deutschland verdient gemacht haben. Da, wie wir wissen, Museen lebendige Orte der Erinnerung sind und auf die Gegenwart einwirken, passen dieses Buch und das neue Museum gut zu einander.
Men Dank gilt dem „Programmdirektor Fernsehen“ der Deutschen Kinemathek, Peter Paul Kubitz, für sein förderndes Interesse an dieser Publikation, dem Redakteur Peter Jammerthal für Beharrlichkeit und Geduld, Peter Latta für die Beschaffung der Fotos, Volker Noth für das Layout und dem Autor Egon Netenjakob für die freundschaftliche Zusammenarbeit über mehr als 30 Jahre.
August 2006
Nachwort in: Egon Netenjakob: Es geht auch anders. Gespräche über Leben, Film und Fernsehen. Berlin: Verlag Bertz + Fischer 2006